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Primodos / Duogynon

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Berliner Morgenpost, 1. Juli 2010

Schering

Ein Leben auf zwei kurzen Beinen

Wolf-Dietrich Molzow ist anders als andere Menschen. Das sieht man auf den ersten Blick. Er ist nur 1,25 Meter groß. Ihm fehlen Ober- oder Unterschenkel - je nachdem, wie man die Sache sieht: Seine Beine bestehen jeweils aus einem nach außen gebogenen Knochen - ohne Kniegelenke.
Das ist aber noch nicht alles, was bei Molzow auffällt. Seine Füße haben jeweils nur vier Zehen und stehen außerdem seitlich ab, sodass er in einem eigentümlichen Watschelgang läuft. Auch seine Hüftgelenke sind nicht richtig ausgebildet. Seinen rechten Arm kann er im Ellenbogengelenk maximal 90 Grad strecken. Beide Oberarme und das rechte Schulterblatt sind verkürzt. Mit dieser Ansammlung körperlicher Behinderungen kam Wolf-Dietrich Molzow vor 53 Jahren auf die Welt. Was war geschehen?
Die Mutter von Herrn Molzow, Käthe Molzow, hat bei ihren Schwangerschaften das hormonelle Schwangerschaftsmittel Duogynon verabreicht bekommen. Das Hormonpräparat des Berliner Pharmaunternehmens Schering wurde ihr von ihrem Gynäkologen im schleswig-holsteinischen Rendsburg verschrieben. Sie sollte damit testen, ob sie schwanger ist.
Duogynon wurde als Injektion (bis März 1978) und in Drageeform (1957 bis 1973) sowohl als Schwangerschaftstest als auch zur Behandlung ausbleibender Monatsblutungen eingesetzt. Es handelte sich um eine Kombination der weiblichen Sexualhormone Progesteron und Östradiol. Durch die Einnahme des Präparates ließ sich innerhalb von einer Woche eine Blutung auslösen. Ein Ausbleiben der Blutung deutete auf eine Schwangerschaft hin.
Zahlreiche Frauen, die Duogynon während der Schwangerschaft eingenommen hatten, gebaren kranke oder behinderte Kinder mit Wasserköpfen, Missbildungen der Extremitäten, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Herzfehlern, Fehlbildungen der Genitalien, offenen Rücken, offenen Bäuchen, offenen Harnröhren.
Medikament mit Nebenwirkung
Schon Ende der 70er-Jahre sahen Experten einen unheilvollen Zusammenhang zwischen der Einnahme des Medikaments und den Behinderungen. Doch bisher konnten die Opfer nicht den Beweis führen, dass das Schering-Mittel der Auslöser der Missbildungen war.
Schon während der Schwangerschaft merkt Käthe Molzow, dass irgendetwas anders ist als bei ihren anderen Schwangerschaften. "Es kratzt so, wenn sich das Kind im Bauch bewegt", sagt sie zu ihrem Mann Wolfgang Molzow. So etwas wie Ultraschall oder vorgeburtliche Diagnostik gibt es damals nicht. Am 16. Januar 1957 kommt Wolf-Dietrich auf die Welt. Sofort wickelt die Krankenschwester den Säugling in ein weißes Tuch. Als die Mutter ihr Baby wieder auswickelt, erschrickt sie. Der Junge ist viel zu kurz.
An einen Pharma-Skandal denken die Eltern nicht, auch nicht an eine Klage. Damals, in den 50er- und 60er-Jahren, schieben manche Eltern ihre behinderten Kinder in Heime ab. Die Molzows behalten ihren kleinen Jungen zu Hause, umhegen und unterstützen ihn. Und sie suchen Hilfe bei Ärzten. Als Wolf-Dietrich zwei Jahre alt ist, gehen die Eltern mit ihm zu einem Orthopäden. Der Mediziner rät, die nach außen gerichteten Füße in eine Frontstellung zu zwängen. Die Beine des Jungen werden eingegipst und mit Metallschienen fixiert. Drei Monate muss er in der Klinik bleiben. Der Effekt ist gleich Null. Die Füße stehen immer noch nach außen. Seit diesem Zeitpunkt mag Wolf-Dietrich keine Menschen in weißen Kitteln mehr.
Kaum fassbar ist der Vorschlag eines anderen Facharztes einer Universitätsklinik. Der rät den Eltern, die Füße des Jungen einfach abschneiden zu lassen. Begründung: Dann könne das Kind wenigstens schöne Prothesen tragen. Auf die Empfehlung dieses Mediziners lassen sich die Molzows - zum Glück - nicht ein.
Zu Hause robbt Wolf-Dietrich durch die Altbauwohnung, bohnert mit seinem kleinen Körper die Dielen blitzblank. Er hängt am Rockzipfel seiner Mutter und ist so auf seine häusliche Umgebung fixiert, dass er bei der ersten Übernachtung bei einem Schulfreund schlimmes Heimweh bekommt. Wolf-Dietrich ist ein schlaues Kind. Weil er wenig mit seinem Körper anfangen kann, benutzt er den Geist. Schon mit vier Jahren kann er lesen. Er kommt in die Grundschule. "Das war eine gute Idee", sagt er rückblickend. Er ist das einzige körperbehinderte Kind in der Schule.
Mit hänselnden Mitschülern hat Wolf-Dietrich keine Probleme. Ärgert ihn jemand, wird derjenige von den anderen Schülern verprügelt. Das Abitur macht er mit mäßigem Notendurchschnitt von 3,3. Beim Studium bessert er sich: Das erste Studium beendet er mit der Note 2, das zweite mit dem Notendurchschnitt 1,6.
Heute ist Wolf-Dietrich Molzow Diplomingenieur und arbeitet beim Heinrich-Hertz-Institut der Fraunhofergesellschaft in Berlin als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er wohnt in Moabit zusammen mit seiner Frau Geertje in einer 130 Quadratmeter Altbauwohnung im Erdgeschoss. Geertje ist 45 Jahre alt, 1,80 Meter groß, sportlich und Beamtin bei der Deutschen Rentenversicherung. Die Beiden leben auf unterschiedlichen Ebenen: Molzows Welt ist der Fußboden. Dort liegen seine Sachen: Schuhe, CDs, Kleidung, Bücher. Seine Frau lebt quasi im oberen Stockwerk. Es nervt ihn, wenn sie die Pfeffermühle in für ihn unerreichbare Höhen stellt. Es nervt sie, wenn auf dem Fußboden viel von ihm rumliegt und sie darüber stolpert.
Als Molzow erfährt, dass seine Mutter Duogynon genommen hat, will er den Pharmakonzern Bayer Schering Pharma AG verklagen. Ein Fachanwalt rät ihm damals ab: keine Chance auf Erfolg. Zumal es keine Belege gebe, dass die inzwischen verstorbene Mutter wirklich die Arznei genommen hatte.
Das sieht der Berliner Medizinrechtler Jörg Heynemann anders. "Es gibt einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Einnahme von Duogynon und dem Geburtsschaden", sagt er. Eine solche Korrelation müsse nur plausibel gemacht werden, er müsse nicht bewiesen werden. Dies sei die Voraussetzung für den Auskunftsanspruch nach Paragraf 84 a Arzneimittelgesetz (AMG). Darin heißt es: "Liegen Tatsachen vor, die die Annahme begründen, dass ein Arzneimittel den Schaden verursacht hat, so kann der Geschädigte von dem pharmazeutischen Unternehmer Auskunft verlangen."

Viele verschiedene Missbildungen
Heynemann zieht eine Parallele zur Contergan-Tragödie. "Auch in den Contergan-Fällen konnte der Beweis eines Zusammenhanges nicht erbracht werden. Auch in den Contergan-Fällen sind sämtliche Klagen abgewiesen oder nicht zu Ende geführt worden und strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingestellt worden." Der Zusammenhang zwischen der Medikamenteneinnahme der Mütter und den geschädigten Kindern sei in den Duogynon-Fällen mindestens ebenso wahrscheinlich wie in den Contergan-Fällen.
Bei dem Berliner Anwalt haben sich in den vergangenen Wochen viele Duogynon-Geschädigte gemeldet. Er vertritt einige der Betroffenen, auch den Grundschullehrer André Sommer aus dem Allgäu. Der 34-Jährige kam mit einer Blase zur Welt, die außerhalb seines Bauchraumes lag und sein Penis war verkümmert; seine Mutter hatte Duogynon in der Schwangerschaft genommen. Zwei Dragees reichten aus, um André Sommer sein Leben lang körperlich zu schädigen. Sommer hat die Bayer Schering Pharma AG verklagt. Beim Landgericht Berlin hat er eine Auskunftsklage eingereicht. Damit will er klären, was der Pharmakonzern wusste über das Medikament Duogynon. Erst wenn diese Klage Erfolg hat, kann Sommer auf Schadensersatz klagen. Über den Lehrer und sein Schicksal wurde in den Medien berichtet. Innerhalb von zwei Wochen meldeten sich daraufhin bei ihm 70 Duogynon-Betroffene aus dem ganzen Bundesgebiet. "Ich kriege seit zwei Wochen eine Gänsehaut", sagt Sommer. Immer mehr Menschen mit missgebildeten Beinen und Armen, mit Blasenfehlbildungen, verkümmerten Genitalien und anderen seltenen Erkrankungen riefen bei ihm an. Anders als beim Schlafmittel Contergan steht die Hormonbombe Duogynon im Verdacht, viele Leiden verursacht zu haben. Sommer hat eine Homepage eingerichtet ( www.duogynonopfer.de ).
Alles dies wird indes von der Bayer Schering Pharma AG bestritten. "Bei Duogynon ließ sich kein Zusammenhang zwischen Einnahme und der Entstehung von embryonalen Missbildungen nachweisen", teilt der Pharmakonzern mit. Nach wie vor befänden sich mehrere Präparate mit den Wirkstoffen, die in Duogynon-Tabletten enthalten waren, auf dem Markt und würden nach den heute geltenden Vorschriften von Bayer Schering Pharma und den zuständigen Behörden überwacht, ohne dass sich nach dem heutigen Wissensstand Hinweise auf fruchtschädigende Wirkungen ergeben habe. "Vor diesem Hintergrund halten wir auch etwaige Ansprüche auf Entschädigungen nach wie vor für unbegründet", erklärt eine Sprecherin des Unternehmens.
Das sind Argumente, mit denen Wolf-Dietrich Molzow nichts anfangen kann. Auch er erwägt, den Pharmakonzern zu verklagen. Ihn ärgert der Gedanke, dass das Unternehmen mit dem Medikament, das ihm offenbar lebenslange körperliche Einschränkungen eingebracht hat, auch noch viel Geld verdienen konnte. Tanja Kotlorz