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Duogynon / Primodos

Der Tagesspiegel, 2. Juli 2012

Wahrheit verjährt nicht

Vor über 30 Jahren kam Duogynon auf den Markt, und Frauen gebaren missgebildete Kinder. Der Bayer-Konzern sieht keinen Zusammenhang, das belegten Studien. Sehen darf die niemand.

Gisela Clerc hält ihre Zettel fest in der Hand. Sie hat Zeitungsartikel ausgedruckt und zusammengeklebt, zu Hause, in Kulmbach bei Bayreuth. Die Zettel erzählen das Drama ihres Lebens, deshalb will sie die an diesem Freitag verteilen. Doch wo sie steht, auf der Wiese vor der Messe in Köln, kommt niemand vorbei, dem sie die Zettel in die Hand drücken könnte. Gisela Clerc steht auf der falschen Seite des Zauns.
Die mehr als 3000 Besucher, die mit Bussen zur Hauptversammlung des Chemie- und Pharmakonzerns Bayer anreisen, diejenigen also, denen sie die Zettel geben will, steigen auf der anderen Seite des Zauns aus. Es sind die Aktionäre, die ein kleines Stück des Unternehmens besitzen, denen Bayer deshalb Rechenschaft schuldig ist.
Gisela Clerc will auch Rechenschaft.
Auf der falschen Seite des Zauns sind sie zu fünft an diesem Frühlingstag, ein versprengtes Grüppchen in rot-weißen, selbst bedruckten T-Shirts. „Duogynon?! Wir sind nicht verjährt!“ steht darauf. Duogynon hieß ein Hormonpräparat, das der von der Bayer AG übernommene Berliner Pharmakonzern Schering von 1950 bis Ende der 70er Jahre als Schwangerschaftstest und gegen Menstruationsstörungen verkaufte. Clerc und ihre Mitstreiter nahmen das Mittel und brachten dann Kinder zur Welt, die Wasserköpfe haben, verkrüppelte Arme und Beine oder Löcher im Herzen wie bei Gisela Clercs Tochter. Ein zweiter Contergan-Skandal, so sehen sie das. Bayer bestreitet jeden Zusammenhang und hält sich ansonsten bedeckt. Unterlagen zu dem Fall gibt der Konzern nicht raus und wehrt sich vor Gericht gegen Offenlegungswünsche, weshalb am kommenden Donnerstag ein neuerliches Verfahren dazu vorm Berliner Landgericht beginnt.
Um Einsicht in die Akten will auch Gisela Clerc an jenem Frühlingstag in Köln bitten. Sie wird die Redezeit einer kritischen Aktionärsvereinigung nutzen, um zu den Aktionären und dem Vorstand von Bayer zu reden, und hinter ihr wird das Bayer-Logo „Science for a better Life“ leuchten. Es wird sich wie ein grausiger Kommentar zu ihrer Geschichte ausnehmen. Einer Geschichte, die, wie es aussieht, ohne zufriedenstellendes Ende wird auskommen müssen.
Aber noch steht sie jenseits des Zauns auf der Wiese. Ihre Zettel, für die sie keinen Abnehmer findet, steckt sie wieder weg. Ein Bus fährt vorbei. Nun greift Clerc zu einem Transparent und hebt es in die Höhe. Die Aktionäre, die vorbeigefahren werden, sollen es sehen. „Duogynon-Opfer klagen an!“, steht dort geschrieben. Der Bus zieht vorbei, und sie lässt das Transparent sinken.
„Jeder Handwerker, der einen Fehler macht, muss dafür geradestehen“, sagt sie. „Aber die Konzerne, die haben so eine Macht.“
Als sie 1969 die zwei kleinen Pillen aus dem Hause Schering schluckt, ist Clerc natürlich nicht klar, dass sie sich einmal mit dieser Macht wird messen müssen. Ihr Frauenarzt hat ihr Duogynon verschrieben. Das Mittel mit den weiblichen Sexualhormonen Progesteron und Östradiol löst bei Frauen, die nicht schwanger sind, eine Blutung aus. Auch Gisela Clerc hat einen Blutsturz. Doch gut sechs Monate später kommt ihre Tochter zur Welt.
Als sie ihr nur vier Pfund schweres Kind nach zwei Tagen zum ersten Mal sehen darf, wird es beatmet und durch die Nase ernährt. Ein Teil des kleinen Fingers fehlt ihr, die Herzwand hat Löcher, zwei Klappen funktionieren nur eingeschränkt, eine Hauptschlagader ist verengt, das linke Ohr ist fast taub, auf einem Auge kann sie kaum sehen.
Clerc nennt das Mädchen Birgit und zieht es allein groß, denn die Ehe geht in die Brüche. Sie arbeitet nachts in einer Stickerei, tagsüber pflegt sie ihr Kind. „Ich war immer müde“, sagt sie über die Zeit damals. Im „Stern“ liest sie 1978 über einen möglichen Zusammenhang zwischen Duogynon und Fehlbildungen bei Kindern. Sie nimmt Kontakt zu anderen Müttern auf, die Duogynon genommen haben und behinderte Kinder zur Welt brachten.
Damals lernte sie auch die Eltern von André Sommer kennen, der mit verkümmerten Genitalien und einer außen liegenden Blase zur Welt kam. 13 Mal wurde er seither operiert, das letzte Mal im Jahr 2005. André Sommer ist heute 36, Familienvater und Grundschullehrer. Man sieht ihm seine Behinderung nicht an. Er ist derjenige, der die Geschädigten organisieren will. Mehr als 300 Menschen haben sich in den vergangenen Jahren an André Sommer gewandt und ihre Fälle geschildert: Er bekam 133 Meldungen zu skelettalen Missbildungen, 62 Meldungen zu Organen und weiteren inneren Schäden, 55 Meldungen zu urologischen Schäden, 47 Meldungen zu Todesfällen, 18 Meldungen zu Gehirnschädigungen. Er ist auch derjenige, der die Klagen gegen den großen Pharma- und Chemiekonzern vorantreibt. Beim ersten Prozess im November 2010 vor der Zivilkammer des Berliner Landgerichts sagte er: „Ich möchte das abschließen, ich möchte Gewissheit.“
Es war so einfach, eigentlich. Sommer wollte Auskunft darüber, warum Schering das Präparat in Großbritannien schon 1970 nicht mehr als Schwangerschaftstest anbot, diese Indikation in Deutschland aber erst 1978 von der Packung entfernte. Auskunft über Studien, die beweisen sollen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Duogynon und den Missbildungen gibt. Und er verlor.
Bayer muss keine Auskunft geben. Sämtliche Ansprüche seien 2005, also 30 Jahre nach der Einnahme von Duogynon durch Sommers Mutter, verjährt, entschied das Berliner Landgericht. Sommers Interesse an einer Offenlegung der Unterlagen zu dem Mittel sei „menschlich verständlich“, aber nach dem Gesetz nicht durchsetzbar. Auch Sommers Berufung wird 2011 vom Bundesgerichtshof abgewiesen. Nun wird das Verfahren vor dem Berliner Landgericht neu aufgerollt. Diesmal geht es um Schadenersatz und Schmerzensgeld. Doch Sommer sagt, es sei nur ein weiterer Versuch, die Einsicht in die Unterlagen zu erzwingen.
Einige der Unterlagen, um die es ihm geht, sind gut 30 Jahre alt. Anfang der 80er Jahre hatte eine Frau Anzeige wegen Körperverletzung gegen Schering erstattet. Auch sie hatte Duogynon genommen und 1975 einen Sohn mit einem missgebildeten Arm zur Welt gebracht. Das Ermittlungsverfahren wurde 1982 eingestellt, seitdem sind die Akten unter Verschluss.
Zu Recht, darauf besteht der Konzern. „Die Staatsanwaltschaft hat alle Unterlagen geprüft und die Ermittlungen eingestellt“, sagt Friederike Lorenzen, Sprecherin der Schering-Nachfolgerin Bayer Pharma, am Telefon in ihrem Büro in der Müllerstraße im Norden Berlins.
Warum Bayer die Akten nicht einfach offenlegt? „Ich weiß es nicht“, sagt Lorenzen. „Aber wir verhalten uns gesetzeskonform.“ Außerdem gelte, dass es „keine Kausalität zwischen der Einnahme des Mittels Duogynon und den angeborenen Fehlbildungen“ gebe. Etliche Studien aus den 70er Jahren hätten das gezeigt, neue Erkenntnisse gebe es nicht.
Bald aber soll es neue Erkenntnisse geben. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM beauftragte jüngst das Universitätklinikum Charité, sich mit dem Hormonmittel zu beschäftigen. Die Behörde ist für die Arzneimittelsicherheit in Deutschland zuständig, bei ihr gehen Spontanmeldungen zu Nebenwirkungen und Todesfällen ein, die möglicherweise mit einem Medikament zusammenhängen könnten.
Der Kinderarzt Christof Schaefer, der am Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Charité arbeitet, wertet derzeit die Fälle aus – ein äußerst schwieriges Projekt. Es fehlen viele Angaben, exakte Daten, die er brauchen würde, um einen Zusammenhang zwischen Duogynon und den Fehlbildungen zu ermitteln. „Eine hundertprozentige Wahrheit werden wir so viele Jahre später nicht mehr herausfinden können“, sagt Schaefer. Dass Bayer die Unterlagen nicht freigeben will, versteht er nicht. Das nähre den Verdacht, dass etwas nicht stimme.
So sehen das auch Gisela Clerc, André Sommer und die anderen. Für Gisela Clerc kommt das Verhalten von Bayer einem Schuldeingeständnis gleich. „Wenn ich die Unterlagen sehen könnte, wäre sofort alles vorbei, dann würde ich kein Gericht mehr bemühen“, sagt sie und fragt: „Was sind das für Menschen, die solche Entscheidungen treffen?“
In Köln ist es Nachmittag geworden, 16 Uhr, und die meisten der mehr als 3000 Aktionäre sind bereits gegangen, da ist die Redezeit von Gisela Clerc gekommen. Sie wirkt klein auf der großen Bühne am Ende der abgedunkelten Messehalle. Schräg neben ihr sitzen ebenfalls auf der Bühne die Vorstände und Aufsichtsräte um den Vorstandvorsitzenden Marijn E. Dekkers. Sie sitzen da in ihren dunklen Anzügen nebeneinander und bilden eine lange Reihe. Manager, die quer über die Welt die Konzernmilliarden verwalten und vermehren. Sie müssen bleiben, bis auch der letzte Aktionär gesprochen hat.
Gisela Clerc trägt ihr selbst bedrucktes T-Shirt und eine graue Jeans, die Scheinwerfer sind auf ihr Rednerpult gerichtet. Clerc sagt zu den leeren Stuhlreihen vor sich: „Wir alle wollen Gewissheit darüber haben, was in den Duogynon-Unterlagen über Missbildungen steht.“ Dann wendet sie den Kopf zu den Männern in den Anzügen und bittet, den Geschädigten die Unterlagen zukommen zu lassen.
Nach ihr betritt Silke Ehrenberg die Bühne. Sie wurde mit verkümmerten Händen geboren. In denen liegt nun ihr Redezettel, den sie für ihren Auftritt in Köln vorbereitet hat. Ehrenberg blickt hinüber zu Dekkers, als sie sagt, wie es ist, „wenn es wieder mal anfängt zu regnen und ich nicht in der Lage bin, einen Regenschirm zu halten oder meine Kapuze aufzusetzen“. Ehrenberg spricht langsam und tonlos. Bayer müsse seine Haltung überdenken, sagt sie. „Ich stehe hier heute vor Ihnen und lebe damit. Von Verjährung keine Spur.“
Dekkers antwortet, auch langsam und tonlos, äußert sein Bedauern über das Schicksal der Frauen. Es gebe keinen Nachweis für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Duogynon und den diskutierten embryonalen Fehlbildungen, das hätten „umfangreiche medizinische und toxikologische Gutachten ergeben“. Das ist das, was Gisela Clerc, Silke Ehrenberg und die anderen immer hören. Es gibt ihnen keine Antwort.
Drei Frauen sprechen an diesem Freitagnachmittag in Köln über Duogynon. Es sind drei Betroffene von mehr als 300. Dann ist die Redezeit, die ihnen die kritische Aktionärsvereinigung überließ, vorbei und auch die Hauptversammlung wird für beendet erklärt. Die Vorstände und Aufsichtsräte verschwinden in ihrer riesigen Bayer-Welt. Und diejenigen, die zurückbleiben, tun dies wieder mal mit dem Gefühl, an einer Macht abgeprallt zu sein.
Und sie bleiben zurück mit ihren Fragen nach dem Warum. von Jahel Mielke

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