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Lipobay Studie

taz vom 23.5.2002

Kein Grund zur Feier, Bayer

Im "Lipobay-Desaster" wies die ARD gestern nach, dass die Leverkusener Firma den Blutfettsenker Lipobay/Baycol auf den Markt gedrückt hat, obwohl sie über die Risiken des Mittels informiert war

Das sieht aber gar nicht gut aus für Bayer. Eine Milliarde Euro, vielleicht auch dreieinhalb Milliarden - ob nun Euro oder Dollar, bei solchen Summen kommts ja nicht mehr drauf an: So hoch veranschlagen Börsenanalysten das Risiko, das dem Pharmakonzern durch die Klagen droht, die ihm aus dem Lipobay-Skandal erwachsen sind.

Über hundert US-amerikanische Anwaltskanzleien, die 40.000 bis 50.000 Mandanten oder 670 Klagen vertreten, rüsten sich derzeit für eine der größten juristischen Schlachten, die je gegen ein Unternehmen geschlagen wurden. Und wer "Das Lipobay-Desaster", den 45-Minüter des Norddeutschen Rundfunks gestern in der ARD angeschaut hat, möchte meinen, dass Bayer verlieren wird - oder sich auf einen Vergleich einlässt. Wie wird unser Lieblings-Pharmariese, dank Lipobay zwar angeschlagen, aber immer noch so mächtig, dass ganze Nichtregierungsorganisationen sich allein seinem Geschäftsgebaren widmen, nach solch einem Verlust aussehen? Wars das dann?

Im August vergangenen Jahres nahm Bayer Lipobay, in den USA hieß es Baycol, vom Markt: Von weltweit 50 Todesfällen im Zusammenhang mit dem Mittel war die Rede, später würde Bayer auf 100 erhöhen, die meisten davon in den USA. Die Patienten seien an Muskelzerfall, der zur Herzlähmung führte, gestorben. Bayer betonte, man habe bei der Einführung des Mittels und überhaupt jederzeit korrekt gehandelt, aber die Aufregung sei nun einmal zu groß.

Ein folgenschwerer Fehler, was die Glaubwürdigkeit des Konzerns angeht: Zu den eindrücklichsten, weil fremdartigsten Szenen der Sendung gehört, wie in den Kanzleien der Opferanwälte das Verfahren schon einmal mit Jurys und allem Drum und Dran (US-Flagge hinterm originalgetreuen Richterpult) durchgespielt wird. Die freiwillige Rücknahme vom Markt ist dabei für die Testjury das entscheidende Argument gegen Bayer: "Schuldig", heben sich die Arme. Medizinische Details zu den unendlichen, nie ausschließbaren Möglichkeiten von Neben- und Wechselwirkungen interessieren da keinen mehr.

Lipobay/Baycol war ein Cholesterinsenker, diente also zur Verringerung der Blutfettwerte von zumeist übergewichtigen Patienten. Weltweit wurden rund sechs Millionen Menschen damit behandelt: Patienten mit den als "Herz-Kreislauf-Geschichten" bekannten Erkrankungen der Blutgefäße rings ums Herz, die in Herzinfarkt oder Schlaganfall münden können.

Das Mittel, in Deutschland seit 1997, in den USA, höher dosiert, seit 2000 zugelassen, wurde zum umsatzstärksten Medikament Bayers. In dem halben Jahr vor seiner Rücknahme brachte es dem Leverkusener Konzern über eine Milliarde Mark oder 522 Millionen Euro ein: ein Blockbuster, wie man sagt.

Der Beitrag von NDR-Chefreporter Christoph Lütgert und der US-Journalistin Siri Nyrop weist nun nicht mehr und nicht weniger nach, als dass der Bayer-Konzern gewusst hat, dass von dem Mittel Gefahr ausgeht - und zwar in jeder Dosis und auch ohne Wechselwirkung mit anderen Cholesterinsenkern. Trotz der Warnung der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde habe man das hoch dosierte Baycol auf den US-Markt gedrückt.

Fakten wiegen schwer

Das ist ein ungeheuerlicher Vorwurf. Doch die Fakten und Aussagen, die Lütgert und Nyrop zusammengetragen haben, wiegen schwer - ein Hoch auf die Sendeanstalt, die sich eine derartig langwierige und aufwändige Recherche noch leistet und die Sendung von einem Kurz-vor-Mitternacht-Termin in letzter Minute nach vorn gezogen hat.

Danach hat Bayer eine Studie, in der von 800 Patienten 10 mit Muskelschäden reagierten, schlichtweg ignoriert. Zwei mögliche Gründe gibt der Heidelberger Pharmakologe Ulrich Schwabe dafür an: Entweder habe man schlichtweg nicht gemerkt, dass damit das Risiko von schweren Nebenwirkungen zehnfach überhöht gewesen sei. Oder "die Wissenschaftler haben sich nicht gegenüber dem Management durchgesetzt."

Wenn es den US-Anwälten gelingt, das nachzuweisen, ist Bayer hoffentlich ruiniert. Und mit Bayer der Ruf der gesamten Branche.

ULRIKE WINKELMANN