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STICHWORT BAYER 02/2015

Bundesregierung zu XARELTO:

„Kein neuer Handlungsbedarf“

Im April 2015 musste sich auch die Bundesregierung mit BAYERs Gerinnungshemmer XARELTO beschäftigen. Die Partei „Die Linke“ wollte in einer Kleinen Anfrage wissen, welche Konsequenzen sie aus den zahlreichen Berichten über die Risiken und Nebenwirkungen der Arznei zu ziehen gedenkt. Die Antwort fiel ernüchternd aus. Es bestehe „kein neuer Handlungsbedarf“, verlautete aus den Reihen von Merkel & Co.

Von Jan Pehrke

Die Schadensbilanz von BAYERs Gerinnungshemmer XARELTO wächst und wächst. Im Jahr 2014 erhielt das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ (BfArM) 1.996 Meldungen über unerwünschte Arznei-Effekte wie Blutungen und Leber-Störungen, darunter 161 Todesfälle. Ein alarmierender Befund, auch wenn dem BfArM zufolge ein Kausalzusammenhang nicht in jedem Fall belegt ist.
Die Bundesregierung sieht das jedoch anders. „Aus den dem BfArM vorliegenden Zahlen ergibt sich aktuell kein neuer Handlungsbedarf“, konstatiert sie in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Partei „Die Linke“. Bei neuen Medikamenten häuften sich die Berichte über Nebenwirkungen immer, wiegeln Merkel & Co. ab und sprechen weiterhin „von einer derzeit positiven Nutzen/Risiko-Relation“.
Die US-amerikanische „Food and Drug Administration“ (FDA) tut dies nicht so einfach. Sie verweigerte dem Pharmazeutikum, das die MedizinerInnen unter anderem bei Thrombosen, Embolien und Vorhofflimmern verschreiben dürfen, eine Zulassung zur Behandlung der Herz-Krankheit „Akutes Koronar-Syndrom (ACS)“. erteilen. Die Behörde monierte unter anderem die Unterschlagung von drei Todesfällen bei den Klinischen Prüfungen, den Ausschluss unerwünschter ProbandInnen sowie fehlende Informationen über den Gesundheitszustand der TeilnehmerInnen nach Ende der Tests. Die Regierungskoalition ficht das jedoch nicht an. Sie steht zur Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Behörde EMA, die „nach langen Beratungen zu einer positiven Zulassungsempfehlung gekommen“ ist.
Auch Unregelmäßigkeiten bei anderen XARELTO-Tests stört das mit der Beantwortung der Anfrage betraute Gesundheitsministerium nicht weiter. Die US-Initiative PUBLIC CITIZEN hatte Mängel gerade bei solchen festgestellt, die in Entwicklungsländern wie Indien stattfanden, wo ein unerschöpfliches Reservoir an ProbandInnen, unschlagbare Preise, schnelle Verfahren und eine mangelhafte Aufsicht locken. Die EMA hätte die dort erhobenen Daten ohne Einfluss auf das Gesamtergebnis herausrechnen können, versucht die Bundesregierung zu beschwichtigen. Und das europäische FDA-Pendant darf auch in Zukunft weiterrechnen: Gesetze, welche dem Test-Tourismus Einhalt gebieten, planen CDU und SPD nämlich nicht. Immerhin bequemen sie sich dazu, mehr Inspektionen in diesen Staaten durchführen zu lassen – im letzten Jahr hatte sich das BfArM gerade einmal fünf Studien näher angeschaut, darunter drei in Indien.
An der Tatsache, dass es zu dem BAYER-Präparat im Gegensatz zur Standard-Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten wie MARCUMAR kein Gegenmittel gibt, um Blutungen zu stoppen, nimmt die Große Koalition ebenfalls keinen Anstoß. Sie hält ein solches Antidot nicht für nötig, weil sich XARELTO im Organismus relativ schnell abbaue. Den ärztlichen Erfahrungen mit dem Mittel entspricht das nicht. So berichtet die Medizinerin Dr. Sigrid Süßmeyer von vielen Problemen mit Blutungen. Bei neun ihrer 14 XARETO-PatientInnen traten diese auf. Überdies handelte es sich oft um schwere Fälle, die eine sofortige Versorgung im Krankenhaus nötig machten. Und bei einem von ihnen kam jede Hilfe zu spät: Er verstarb. Mit anderen Gerinnungshemmern gab es diese Probleme der Internistin zufolge hingegen nicht. „Seit über 20 Jahren behandele ich mit MARCUMAR ohne diese Flut von Komplikationen. Bei ca. 90 MARCUMAR-Patienten traten in vier Jahren nur vier Komplikationen auf“, so Süßmeyer.
In ihrer Kritik weiß sie sich mit vielen ihrer KollegInnen einig. Sogar die „Arzneimittel-Kommission der deutschen Ärzteschaft“ (AkdÄ) warnt vor dem massenhaften Verschreiben von „Neuen Oralen Anti-Koagulantien“ (NOAKs) wie XARELTO: „Ihr Einsatz sollte sich auf Patienten beschränken, für die Vitamin-K-Antagonisten keine Therapie-Option sind.“ Aber selbst dieses Votum gibt der Bundesregierung nicht zu denken. Es handele sich dabei lediglich um eine Empfehlung, stellt sie fest und verweist auf die Therapie-Freiheit der MedizinerInnen: „Eine Stellungnahme oder Schlussfolgerung der Bundesregierung ist daher nicht angezeigt.“ Zu der Ansicht des AkdÄ-Vorsitzenden Wolf-Dieter Ludwig, die hohen Verschreibungszahlen für XARELTO & Co. verdankten sich allein einem aggressiven Marketing, mochten sich die Kanzlerin und ihre Regierungsmannschaft ebenfalls nicht äußern. „Der Bundesregierung liegen zu der Einschätzung von Prof. Wolf-Dieter Ludwig keine belastbaren Informationen vor; insofern enthält sich die Bundesregierung einer Bewertung oder Meinungsäußerung zu dieser Einschätzung“, heißt es in der Drucksache 18/4701. Der Leverkusener Multi ist da weit meinungsfreudiger. Er hält Ludwig schlicht für einen Bekämpfer von Innovationen.
Nicht einmal die hohen Kosten von 100,50 Euro im Monat gegenüber 4,80 Euro bei MARCUMAR & Co. bringen Merkel & Co. auf Distanz zu dem BAYER-Mittel, obwohl die Preise für XARELTO und die anderen NOAKs die Etats der Krankenkassen über Gebühr belasten und deren Ausgaben für Gerinnungshemmer im Jahr 2014 auf 675 Millionen Euro haben steigen lassen. „Die NOAKs haben in den meisten Fällen keine Vorteile für die Patienten, trotzdem wurden 2014 fast doppelt so viele Tagesdosen verschrieben wie im Vorjahr“, muss etwa die „Techniker Krankenkasse“ konstatieren. Statt den PatientInnen zunächst die etablierten Wirkstoffe zu verschreiben, würden sie gleich auf die neuen Pharmazeutika eingestellt, moniert Tim Steimle vom TK-Fachbereich „Arzneimittel“.
Eine Kosten/Nutzen-Bewertung, wie sie das 2011 eingeführte Arzneimittel-Neuverordnungsgesetz (AMNOG) für bereits zugelassene Medikamente vorsah, hätte die Risiken und Nebenwirkungen von XARELTO für die PatientInnen und die Kassen abschätzen und Schaden abwenden können. Ein solches Verfahren hatte am 1.12.2013 tatsächlich auch begonnen, doch es kam nie zu einem Abschluss. In der Zwischenzeit hatte nämlich die Regierung gewechselt, und die Große Koalition beeilte sich, dem Druck der Pharma-Lobby nachzugeben: Sie nahm bereits auf dem Markt befindliche Arzneien von der Überprüfung aus. Und das war es dann. „Einen zu hohen methodischen und administrativen Aufwand“ nennt die CDU/SPD-Regierung als Grund für die „Reform“ und beeilt sich festzuhalten: „Die Bundesregierung sieht die Einstellung der betreffenden Verfahren nicht als für die Patientinnen und Patienten problematisch an.“
Nur eine einzige Änderung im Umgang mit dem Pharmazeutikum führt die Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken an: Die Beipackzettel enthalten nun den Warnhinweis, es lägen keine Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit von XARELTO bei Krebs-PatientInnen vor.
Das ist nicht eben viel. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN kritisierte die Haltung der Bundesregierung deshalb scharf. „Für die meisten Patientinnen und Patienten besitzen die neuen Gerinnungshemmer keinen Zusatznutzen gegenüber bewährten Präparaten. Wer trotz des Gefährdungspotenzials und der hohen Kosten zu Medikamenten wie XARELTO hält, der kapituliert vor der Macht der Pharma-Industrie“, resümiert die Presseerklärung der Coordination.
Die Folgen dieses gesundheitspolitischen Offenbarungseids der Großen Koalition sind absehbar. „Ich könnte heulen und toben und würde den Artikel am liebsten allen Ärzten, die meine Mutter in ihren letzten Lebenswochen betreut haben, um die Ohren hauen“, solche Klagen wie diese in einem Leserbrief an den Spiegel nach einem kritischen Artikel des Magazins über den Gerinnungshemmer werden weiter zunehmen. Auch die Meldungen über unerwünschte Arznei-Effekte an das BfArM werden 2015 erneut ansteigen. Die Zahl der Schadensersatzklagen in den USA – 200 waren es bis zum 31. Januar 2015 – wird ebenfalls anwachsen. Und BAYER wird weiterhin Milliarden in Werbe-Maßnahmen investieren, um all das vergessen zu machen.

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