SWB 03/97

Liebe Leserinnen und Leser,

Angst geht um unter den Bürgerinnen und Bürgern unserer Republik: "Ist meine Rente noch sicher, wird mir die Sozialhilfe gekürzt, wie lange behalte ich meine Arbeit, welche Einbußen bei Lohn oder Gehalt habe ich zu erwarten, und , und, und."

Von den Parteien der Bonner Koalition sind keine positiven Antworten zu erwarten. Sie waren es, die just auf dem Eurogipfel verhindert haben, daß zusätzlich ein Fonds für Beschäftigungsprogramme eingerichtet wird. Und bei Neuwahlen gäb´s bestenfalls eine andere Regierung - das ist ja in Krisenzeiten häufig der Fall. Aber wie sollte sich denn die Lage zu Gunsten der ArbeitnehmerInnen ändern, solange BAYER und das gesamte Kapital nach Belieben und unkontrolliert durch die Welt vagabundieren und sich dadurch zunehmend seiner Besteuerung entziehen kann? Auch die "beste" Regierung muß die Soziallasten im Rahmen nationaler Grenzen aus dem Steueraufkommen einer schrumpfenden Zahl von "ArbeitsplatzbesitzerInnen" finanzieren.

Wie denn, solange nicht ein Europa des Gemeinsamen Marktes und des Kapitals von einer Europäischen Sozialunion begleitet in seine Schranken gewiesen und in die Zange genommen wird?
Die französischen Sozialisten haben einen vagen Vorstoß gemacht.
Der ist aber erst mal ein Stück Papier geblieben. Und nicht nur die deutsche Politik hat sich in den letzten Jahren selbst ihrer Handlungs-
möglichkeiten beraubt, indem sie bedingungslos den Interessen des Kapitals gefolgt ist.

Und die Gewerkschaften? Auf einen Nenner gebracht haben sie diesen Prozeß - unterschiedlich kritisch - begleitet. Aber selbst da, wo sich eine Chance der Gegenwehr auftat wie bei den spontanen Streiks, gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei DAIMLER, hat die Führung der IG METALL ganz schnell und als erstes den Arbeitsfrieden wiederhergestellt. Es hat ihr fern gelegen, die vorhandene Kampfbe-
reitschaft der Kolleginnen und Kollegen zu nutzen, den Unternehmern größere Zugeständnisse abzutrotzen. 100 % Lohnfortzahlung wurde zwar erhalten, aber durch Verzicht auf einen Teil des Weihnachtsgelds. Damit werden die Kosten sogar überkompensiert. Und die neuesten Tarifab-
schlüsse im Einzelhandel folgen  demselben Muster.

Dabei weisen die Exportüberschüsse der deutschen Industrie darauf hin, daß die Arbeitskosten in Deutschland eher zu niedrig sind. Deren Erhöhung würde die Kaufkraft im Land vergrößern und damit den Binnenmarkt stärken.

Geradezu kontraproduktiv ist der Lohnverzicht im neuen Tarifvertrag für die Chemieindustrie. Den Einstiegslöhnen in Höhe von 90 % folgt nun auch noch die Kürzung von Löhnen und Gehältern bis zu 10 %, wenn Firmen dafür eine Zeitlang auf betriebsbedingte Entlassungen verzichten. Mit derartigen Öffnungsklauseln wird den Betriebsräten das Leben schwergemacht, der Druck auf sie ins Unermeßliche gesteigert - ganz zu schweigen von der damit verbundenen Aushebelung des Systems der Flächentarifverträge insgesamt.

Wen wundert da, daß Arbeitgeberpräsident Hundt "jubelt", der Industrie- und Handelstags Stihl von "einem mutigen Schritt nach vorne" spricht und Arbeitsminister Blüm in diesem Abschluß eine "kopernikanische Wende" sieht. Ist das der Kreis der Herren, denen sich der IG CHEMIE- Vorsitzende Hubertus Schmoldt besonders verpflichtet und verbunden fühlt?

Und wie geschickt der Schachzug des Aufsichtsrats der BAYER AG, neben dem Vorsitzenden der IG CHEMIE sich auch den DGB-Vorsitzen-
den Dieter Schulte ins Boot zu holen. Dieter Schulte, der unermüdliche Verfechter von Verzicht auf Seiten der ArbeitnehmerInnen, in der trügerischen Hoffnung, daß damit zwangsläufig die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen einherginge. Dagegen werden bekannter-
maßen die Konzernvorstände am "shareholders value" gemessen, und der nimmt in dem Umfang zu wie die Arbeitsplätze beseitigt werden.

Die BAYER AG hat mit der IG CHEMIE, bzw. dem Gesamtbetriebsrat einen sogenannten Beschäftigungspakt abgeschlossen. Die Treue-
prämie ist weg, der Bonus gekürzt, die Arbeitszeit nach BAYER-Gusto flexibilisiert, keine verbilligten Aktien mehr für die Belegschaft - das spart zusammen 300 Millionen Mark. Und im Gegenzug dazu wird in den nächsten 3 Jahren die Belegschaft um 10 % reduziert - sozialverträglich, versteht sich. "Beschäftigungspakt"? Welch ein Hohn!

Die Engländer haben diese neoliberale Politik gründlich satt und durch die Wahl von New Labour der konservativen Sparpolitik einen Denkzettel verpaßt. Die Franzosen waren und sind nicht zimperlich mit Streiks und Demonstrationen, und die frisch gewählten Sozialisten sind in der Pflicht und machen zumindest schon mal von sich reden. Kann man/frau es in dieser Situation denn in Deutschland bei dem schweigsam-stieren Blick auf die Abwärtsspirale bewenden lassen?

Peter Vollmer
Leiter der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt in Berlin.