SWB 03/97

Kniefall vor dem Kapital

DGB-Chef Schulte im BAYER-Aufsichtsrat

Verheerende Entwicklungen erleben wir derzeit in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Teile des Kapitals, wie BAYER und die gesamte Chemische Industrie, setzen bei ihrer Strategie des weiteren Sozial-
abbaus auf Neutralisierung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Kräfte. Der neue Tarifabschluß der IG CHEMIE ist ein Kniefall vor den Interessen der Arbeitgeber und schwächt die gesamte Gewerkschafts-
bewegung.

Von Wolfgang Teuber

Betrachten wir den letzten Tarifabschluß in der Chemie-Industrie genauer, dessen "Chemie-Gift" in den Gewerkschaften zu wirken beginnt. Dieser Kontrakt überstieg alle Befürchtungen kritischer BelegschaftsvertreterInnen, die - wie im Fall bei BAYER in Leverkusen und Wuppertal - in offener Opposition zur Politik der IG CHEMIE agieren.
Der Jubel und die Freude von Arbeitgebern und Bundesregierung über den neuen Abschluß ließen nicht auf sich warten. Für Arbeitgeber-
präsident Hundt war das ein "deutlicher Schritt in die richtige Richtung". Arbeitsminister Blüm spricht von einer "kopernikanischen Wende". Denn: Dieser tarifliche Kniefall der IG CHEMIE wird nicht nur die deutsche Tariflandschaft entscheidend verändern, wie DGB-Vorstands-
mitglied Geuenich feststellt. Er wird der Anfang für die Zerstörung des Flächentarifvertrages sein. Mit der in § 10 festgeschriebenen Tarif-
öffnungsklausel hat die IG CHEMIE der weiteren Schwächung und Erpressung der Gewerkschaftsbewegung den Weg geebnet.

* Bis zu 10 Prozent Lohnsenkungen können bei (angeblichen)
  wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie zur Verbesserung der
  Wettbewerbsfähigkeit verordnet werden.
* Die Beschäftigungssicherung ist eine unverbindliche Zusage der
  Arbeitgeber, nirgendwo festgeschrieben oder einklagbar.
* Der Druck auf die Betriebsräte und die Erpressungsmöglichkeiten der
  Unternehmen werden ganz neue Dimensionen erhalten.
* Die Gewinnbeteiligung der Beschäftigten am wirtschaftlichen Erfolg
  des Unternehmens ist eine Kann-Bestimmung und der Arbeitgeber-
  verband Chemie betont schon jetzt die Freiwilligkeit.

Die IG CHEMIE behauptet, mit dem in der Nachkriegsgeschichte der Gewerkschaftsbewegung einmalig devoten Abschluß habe sie einen entscheidenen Beitrag zur Beschäftigungssicherung erreicht. Doch das Gegenteil ist der Fall: Lohnsenkung und damit Kaufkraftverlust, das lehren die Erfahrungen der letzten Jahre, haben entscheidend zur Massenarbeitslosigkeit beigetragen. Kein einziger Arbeitsplatz wurde bisher gesichert, obwohl die Beschäftigten in der Chemieindustrie seit Jahren Reallohnsenkungen hinnehmen müssen. Allein der BAYER- Konzern hat innerhalb der letzten fünf Jahren 24.000 Arbeitsplätze vernichtet. Die Rausschmißpolitik wird, wie auf der letzten BAYER- Aktionärsversammlung angekündigt, in den nächsten Jahren fortgesetzt.

Die IG CHEMIE feiert es als Erfolg, daß Arbeiter und Angestellten nun an den Gewinnen der Unternehmen beteiligt werden können. Werden also jetzt die Rekordgewinne von BAYER in Höhe von 2,7 Millarden DM (1996, nach Steuern) auf die Lohnkonten der KollegInnen verteilt? Partizipieren sie an der gigantischen Gewinnsteigerungen von 13 Prozent? Sozialpartnerschaftliche Träumereien! Hinzu kommt, daß die Bundesrepublik in Europa die günstigsten Abschreibungsmöglichkeiten bietet. Und wer hindert die Konzerne daran, ihre Gewinne auf ihre Auslandstöchter zu überschreiben? Wer prüft, wer kontrolliert, wer hat Einblick in die Wirtschaftlichkeitsrechnungen der Unternehmen? Werden jetzt den Betriebsräten die Bücher offengelegt?

Die IG CHEMIE wird als Vorreiter in der Tarifpolitik gefeiert. Auf diesen Wegen sind diese Sozialpartnerschaftsstrategen schon seit längerem geritten, etwa bei der Befürwortung der Sonntagsarbeit, bei der Ausdehnung der Arbeitszeiten, bei der untertariflichen Einstellung usw. In Wirklichkeit ist die IG CHEMIE mit dem neuen Abschluß nicht Vorreiter, sondern Wegbereiter beim Abbau gewerkschaftlich erkämpfter Rechte. Wo hat es dies in der über 100jährigen Gewerkschaftsbewegung gegeben, daß eine Einzelgewerkschaft Lohnsenkungen zustimmt? Es gab nicht einmal den Ansatz einer gewerkschaftlichen Mobilisierung, gewerkschaftliche Kampfmittel kamen nicht zum Einsatz, von organi-
sierter Gegenwehr (wenn die IG CHEMIE-Führung noch weiß, was das ist) keine Spur. Die Drohungen der Arbeitgeber, aus dem Flächentarif-
vertrag auszusteigen, wurden ohne nennenswerten Protest hingenom-
men. Wenn die IG CHEMIE, wenn die deutsche Gewerkschaftsbewe-
gung dieser Kumpanei mit dem Kapital, dieser schrittweisen Einnahme von Unternehmerstandpunkten, diesem immer weitergehenden Abbau gewerkschaftlich erkämpfter Rechte nicht Einhalt gebietet, wird sie an diesem Gift zu Grunde gehen.

Ganz in die neue Tariflandschaft paßt der Beschluß des BAYER- Aufsichtsrates, den DGB-Vorsitzenden Schulte aufzunehmen. Ein echter Coup, denn nun haben die Leverkusener Strategen nicht nur direkten Zugriff auf den jeweiligen IG CHEMIE-Vorsitzenden, der schon seit vielen Jahren im "Kontrollgremium" des Konzerns sitzt, sondern auf die Spitze des DGB selbst. Wen wundern vor diesem Hintergrund die neuen Ansichten Schultes zur Tarif- und Rentenpolitik, die sogar den Beifall von CDU, FDP und den Unternehmern erhalten haben? Wen wundert da der Vorschlag von DGB-Chef Schulte, die Tarifpolitik radikal zu ändern, den Flächentarifvertrag "umzugestalten", Renten abzusenken und die Ausbildungszeiten zu verkürzen? Schulte will gewerkschaftliche Prinzipien zugunsten von BAYER & Co aushebeln. Die Flächentarif-
verträge sollen auf "Beschreibungen von Rahmenbedingungen" reduziert werden. Arbeitgeberpräsidenten Stihl hat nur wenige Tage zuvor - beinahe gleichlautend - gefordert, lediglich Mindestbedingungen, Eckwerte und Korridore für den Flächentarifvertrag festzulegen.

Auf dem 5. ordentlichen DGB-Kongreß im November 1996, wurde im Grundsatzprogramm der Passus zum Flächentarifvertrag kontrovers diskutiert. Auf Protest vieler Delegierter und auch Gewerkschaftsvor-
sitzender mußte eine unternehmerfreundlich gehaltene Formulierung abgeschwächt werden. Der beschlossene Text lautet jetzt:
"Flächentarifverträge sollen die differenzierten Bedürfnisse der Belegschaften berücksichtigen sowie die unterschiedlichen Bedingungen der einzelnen Branchen und Unternehmen gestalten."

DGB-Chef Schulte muß sich vorhalten lassen, mit seinen Aussagen eklatant gegen die Beschlüsse des DGB-Kongresses zu verstoßen. Seine selbstherrliche Vorgehensweise wirft ein weiteres Schlaglicht auf das Verständniss von innergewerkschaftlicher Demokratie.

Noch auf dem 1. Mai in Leipzig sprach der IG-METALL-Vorsitzende Zwickel davon, daß es niemandem gelingen werde "einen Keil in die Arbeiterbewegung zu treiben", doch nun kommt der Spaltpilz aus den eigenen Reihen. Das Kapital-Blatt FAZ jubelt: "Schulte (...) wirkt geradezu befreiend." Solch einen "Schulte-DGB" brauchen wir sicher nicht. Aber wir brauchen gerade in dieser Zeit einen starken DGB. Die Aufgabe der Linken in den Gewerkschaften und darüber hinaus wird es bleiben, eine Bewegung gegen die Demontage und den Zusammen-
bruch der eigenen Organisation und der Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu organisieren. Denn durch Gewerkschaftsführungen à la Schulte werden die Gewerkschaften bald der Überflüssigkeit preisgegeben. Dies ist das Ziel des deutschen Kapitals, das es mit Charme und Knüppel verfolgt.

Zweifelhaftes "Bündnis für Standortsicherung"
(ho) Im Mai 1997 wurde ein in geheimen Verhandlungen zwischen der BAYER-Konzernleitung und der IG CHEMIE ausbaldowertes "Bündnis für Standordsicherung" verabschiedet, mit dem die oppositionellen "KollegInnen für eine durchschaubare Betriebsratsarbeit" scharf ins Gericht gehen. Obwohl betriebsbedingte Kündigungen grundsätzlich ausgeschlossen werden sollen, gibt es folgenschwere Ausnahmen.
Der BAYER-Konzern erhält zum Beispiel ein außerordentliches Rausschmißrecht bei Änderungskündigungen und wenn ein "zumut-
bares" Arbeitsplatzangebot im Konzern abgelehnt wird. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Arbeitsplatz in 100 Kilometer Entfernung und bis zu zwei Gehaltsgruppen niedriger nicht akzeptiert wird.

Besonders schwerwiegend, so die "Durchschaubaren", ist auch das Zugeständnis der IG CHEMIE, wonach trotz (oder gerade wegen) Standortsicherung (oder Profitsicherung?!) bis 2002 noch bis zu 4.570 MitarbeiterInnen vor die Tür gesetzt werden können. Wird diese Quote nicht ausgeschöpft, ist BAYER an den vereinbarten Kündigungsverzicht nicht gebunden und verhandelt mit dem Betriebsrat über einen "Interessenausgleich". Hierbei regelt der Betriebsrat, unter welchen Bedingungen (Abfindungen, Sozialauswahl) er Kündigungen doch noch zustimmt. Dadurch wird die eigentliche Zusage des Kündigungsverzichts zur Farce. Dies auch angesichts der Tatsache, daß "notwendige" Ausgliederungen zusätzlich erlaubt werden.

Auch die Investitionszusage von jährlich mindestens 3,8 Milliarden DM bis zum Jahr 2002 sei ein Papiertiger. Diese Investitionen werden vor allem zur Werterhaltung der Anlagen und nicht für neue Arbeitsplätze eingesetzt. Als einzige "neue" Anlage wurde die Therban-Produktion in Leverkusen festgeschrieben. Die restlichen Investitionen können auch in Rationalisierung oder Abrisse erfolgen. Also weiterer Arbeitsplatzabbau, Arbeitsverdichtung und steigende Produktivität!

Weitere "bittere Pillen", die die Belegschaft schlucken muß, sind:
* Reduzierung des Bonus' um 126 Millionen DM
* Streichung der Treueprämie und der Aktienangebote
* Wegfall des Jubiläumsurlaubs und der Zusatz-Geldgeschenke
* Weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit
* Die Schließung von Betrieben bzw. Teilbetrieben und Ausgliederungen
  werden in der Vereinbarung nicht ausgeschlossen
* Streichung von Wechselschichtprämien und Kurzpausen für neue
  Mitarbeiter.

Mit der Standortsicherungsvereinbarung, so die "Durchschaubaren", habe die IG CHEMIE endgültig eigenständiges gewerkschaftliches Handeln aufgegeben und sei auf dem besten Weg, sich als Interessen-
vertretung der Beschäftigten überflüssig zu machen. "Dieser Vereinbarung hätte niemand zustimmen dürfen", heißt es.