SWB 04/97

100 Jahre ASPRIN:

Weiße Pille mit dunklen Flecken

(BUKO) Der BAYER-Konzern feiert ein Jubi-
läum: Vor 100 Jahren stellte sein Mitarbeiter Felix Hoffmann zum ersten Mal Azetylsalizyl-
säure her, besser bekannt unter ihrem Handelsnamen ASPIRIN. Das Medikament, von BAYER etwas kriegerisch als das "Flaggschiff" des Konzerns bezeichnet, ist weltweit ein Umsatzrenner. Dabei ist der Tausendsassa keineswegs immer gesund und wird zum Teil äußerst aggressiv vermarktet.

Weltweit werden etwa 50.000 Tonnen Azetylsalizylsäure (ASS) pro Jahr produziert - und geschluckt. Allein BAYER verkauft jährlich ca. 11 Milliarden ASPIRIN-Tabletten in über 70 Ländern der Welt: Jahresumsatz 850 Millionen Mark. Inzwischen vermarkten weltweit hunderte von Herstellern Azetylsalizylsäure-Präparate. Die Konkurrenzprodukte sind in der Regel von guter Qualität und meist wesentlich preiswerter.

Azetylsalizylsäure ist gegen Schmerzen, Fieber, Entzündungen und bei der Hemmung der Blutgerinnung wirksam. Neue Untersuchungen zeigen, daß ASS bestimmte Personen auch vor Herzinfarkt und Schlaganfall schützen kann. (1) Weitere Anwendungsgebiete werden erforscht, das Wirk- und Absatz-Potential scheint noch immer nicht erschöpft. Darum lobt BAYER Forschungspreise wie den "International ASPIRIN Award" aus. Alle zweieinhalb Stunden erscheint heutzutage eine neue wissenschaftliche Publikation zu Azetylsalizylsäure, also über 3.500 Studien pro Jahr. (2)

Die Jagd nach neuen Märkten
Neue Anwendungsbereiche für ein bekanntes Arzneimittel versprechen Gewinne ohne Investitionsrisiko. Man bedarf keiner neuen Produktionsanlage, das Know-How ist vorhanden, die Produktion etabliert. Aus diesem Grund müssen die zahlreichen Studien zu Azetylsalizylsäure kritisch betrachtet werden. Werden dabei wirklich sinnvolle mögliche Anwendungsbereiche erforscht oder geht es hier um gewinnversprechende Schaffung von (Schein-) Indikationen? BAYER-Vorstandsmitglied Pol Bamelis erläutert in der Konzernbroschüre "Innovationsperspektive 97": "Innovationen sind mit Forschung untrennbar verbunden - sie sind das Ziel einer jeden Forschung."
(3) Und: "So arbeitet der Geschäftsbereich Consumer Care zum Beispiel am Jahrhundertpräparat ASPIRIN (...). Auch neue Indikationen werden in klinischen Studien gesucht (...). Dies ist ein gutes Beispiel für Wertschöpfung mit bewährten Produkten." (4)

BAYER wirbt seit Jahren nicht nur für die Behandlung von Erkältungen mit ASPIRIN, sondern sogar für ihre Prophylaxe, so beispielsweise im letzten Winter, als Plakatwände und Tausende kostenlos verteilter Postkarten dazu aufforderten, sich nackt im Schnee zu wälzen (SWB berichtete).

Statt sich an wissenschaftlich nachvollzieh-
baren Beweisen zu orientieren, blüht die Phantasie der 20er Jahre wieder auf. In der BAYER Broschüre zum Jubiläum wird dem Mythos, ASS helfe gegen Erkältung, völlig distanzlos gehuldigt: "Millionen von Menschen brachte es (ASPIRIN) Hilfe, vor allem bei Kopf- und Zahnschmerzen, Neuralgien, rheumati-
schen Beschwerden und Erkältungskrank-
heiten. Der Kölner Stadtanzeiger z. B. empfahl seinen LeserInnen am 6. März 1924 zur Prophylaxe einer Grippekrankheit folgendes Rezept: `Sobald man sich krank fühlt, lege man sich ins Bett mit einer Wärmflasche an den Füßen, trinke brühheißen Kamillentee oder auch Grog, um tüchtig zu schwitzen, und nehme täglich drei ASPIRIN-Tabletten.' "
(5)

ASPIRIN kein Allheilmittel
Riesige Märkte sieht BAYER auch in der Vorbeugung von Herzinfarkten und Krebs. Doch die immer neuen Anwendungsmöglichkeiten für ASPIRIN müssen ihre Relevanz und ihren tatsächlichen Nutzen in der Praxis erst noch unter Beweis stellen. Aber die ersten Forschungser-
gebnisse in die breite Öffentlichkeit zu bringen und das Medikament damit zum Hoffnungsträger für Kranke zu machen, ist eine hervor-
ragende Werbung und festigt den Ruf von ASPIRIN als "Allheilmittel".
Azetysalizylsäure wird für beinahe alles angepriesen. Bücher wie Michael Castlemans "Jeden Tag ein ASPIRIN" (ohne Fragezeichen dahinter!), in einer "Ratgeber"-Verlagsreihe erschienen, fördern den übermäßigen und unsinnigen routinemäßigen Gebrauch und suggerieren vor allem, daß auch (noch) gesunde Menschen Azetylsalizylsäure regelmäßig einnehmen sollten. Zur Vorbeugung, denn man kann ja nie wissen. Es wäre interessant herauszufinden, wie viele Menschen inzwischen regelmäßig und ohne ärztliche Beratung oder Verschreibung zur Tablette greifen, um einen potentiellen Herzinfarkt oder auch nur der Angst davor schon im Vorfeld zu begegnen. Der Slogan "ASPIRIN schützt vor Herzinfarkt" gehört inzwischen schon zum Allgemein"wissen". Hier wird die Angst potentieller KundInnen vor einer möglichen Erkrankung geschürt. Wie heißt es so schön in den Leitlinien für die strategische Ausrichtung des Konzerns: "Wir wollen beim Kunden erste Wahl sein. Kundennutzen und -zufriedenheit stehen im Vordergrund."

Marketing: ASPIRIN für die Wüste
BAYER-Vorstandschef Manfred Schneider sagte in einem Gespräch mit dem Spiegel: "Wir sind ein Unternehmen, das zuerst die Aufgabe hat, Gewinn zu machen. Man muß diese Realität ganz klar sehen."
(6) Eine der Verkaufsförderungsstrategien für ASPIRIN besteht darin, die gleiche Menge Wirkstoff immer teurer anzubieten. Kostet normales ASPIRIN 0,72 DM pro Gramm, muß man für die gleiche Menge des neuen ASPIRIN DIREKT schon 1,22 DM zahlen. (7)

Die Vorteile von ASPIRIN DIREKT bestehen laut BAYER-Werbung darin, daß man es kauen und ohne Wasser einnehmen kann. Bei der enormen Wasserknappheit in unseren Breitengraden ist eine solche Eigenschaft natürlich absolut notwendig. Zur Rechtfertigung des höheren Preises der neuen Darreichungsform erklärt BAYER, man könne es "mitten in der Wüste einnehmen." (8) In einer Wüste frei von Kopfschmerzen verdursten zu dürfen, ist allerdings keine besonders beglückende Perspektive.

Keine Wirkung ohne Nebenwirkung
Azetylsalizylsäure ist nicht harmlos. Ihre Nebenwirkungen werden von der Öffentlichkeit nicht in angemessenem Maße zur Kenntnis genommen. Das ASPIRIN-Jubiläum hat daher der Vorsitzende der Arzneimittel-
kommission der Deutschen Ärzteschaft, Bruno Müller-Oerlinghausen, zum Anlaß genommen, in aller Deutlichkeit auf die zahlreichen und mitunter auch gefährlichen Nebenwirkungen von Azetylsalizylsäure aufmerksam zu machen und PatientInnen zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Medikament aufzufordern.
(9) Der Wirkstoff greift tief in den biochemischen Haushalt des Körpers ein und kann nicht nur Schleimhautreizungen hervorrufen, sondern auch Blutungen im Magen-Darm-Trakt und Magengeschwüre verursachen.

"Kompetenz und Verantwortung" und "Sicherheit", das sind zentrale Schlagworte der BAYER-Werbung. "Verantwortliches Handeln" zum Wohle aller Menschen wird als Unternehmensstrategie postuliert.

Dunke Flecken auf der weißen Tablette
Die Vermarktung von ASPIRIN für Kinder in der "Dritten Welt" zeigt jedoch, wie "das `Verantwortliche Handeln' rund um den Globus realisiert" (BAYER Eigenwerbung) wird.
(10) Während die internationale Fachwelt vor der Anwendung von Azetylsalizylsäure bei Kindern wegen schwerwiegender Risiken warnt, bietet BAYER in der "Dritten Welt" weiterhin spezielle ASPIRIN-Präparate für Kinder an, genau für die Anwendungsgebiete, bei denen Azetylsalizylsäure risikoreich ist (siehe BUKO-Pharma-Brief 8/1996 und SWB 3/95). Die Sicherheitsbedenken, die in Deutschland und vielen anderen Ländern zu erheblichen Anwendungseinschränkungen bei Kindern geführt haben, schlägt BAYER anderswo in den Wind. Für sie ist ASPIRIN auch bei Kindern noch immer das Mittel der Wahl bei Schmerz, Fieber, Erkältungen und Grippe. Allein in Lateinamerika werden Millionen Kinder weiterhin gravierenden Gesundheitsrisiken ausgesetzt, denn dort ist ASPIRIN ein Umsatzrenner mit Allheilmittel-Image. Und das, obwohl es unbedenklichere Alternativen gibt.

An Kritik mangelt es nicht ...
Seit fast zwei Jahren setzen sich die BUKO Pharma-Kampagne, die Ärzte-Initiative von terre des hommes  und die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN mit BAYER wegen der Kinder-ASPIRIN-Produkte intensiv auseinander. Zum Thema Werbung für Kinder-ASPIRIN teilte BAYER daraufhin mit, man könne zwar die Vorwürfe nicht nachvollzie-
hen, aber es seien "dort Änderungen vorgenommen (worden), wo der Eindruck entstehen konnte, es handele sich um Konsumentenwerbung." (11) Heißt das, es hat keine Laienwerbung gegeben, sondern nur solche, bei der fälschlicherweise der Eindruck entstehen konnte?
Was aber war dann ein Werbeplakat an einer Apothekentür in Brasilien, auf dem ein niedlich gestaltetes Fieberthermometer-Männchen als Gegenleistung für den Kauf von ASPIRINA INFANTIL ein Comic- Heftchen für Kinder als Geschenk anbietet?

Auf der BAYER-Hauptversammlung 1997 trugen RednerInnen der BUKO Pharma-Kampagne und der Ärzteinitiative von terre des hommes erneut ihre Kritik vor (vgl. SWB 2/97). Seitdem drängt BAYER förmlich darauf, die Gespräche weiterzuführen, mit der Diskussion voranzukommen und sich in strittigen Fragen zu einigen. In einem Schreiben vom Juli 1997 heißt es: "Daher kann ich Ihnen mitteilen, daß es heute keinerlei Konsumentenwerbung für Kinder-ASPIRIN in Südamerika mehr gibt." (11)

BAYER lügt, oder?
(ho) In einem Brief von BAYER an die Ärzteinitiative von terre des hommes vom Juli 1997 heißt es:
 "Daher kann ich Ihnen mitteilen, daß es heute keinerlei Konsumentenwerbung für Kinder-ASPIRIN in Südamerika mehr gibt." Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Eine Mitarbeiterin der COORDINATION hat im Oktober 1997 in Guatemala eine ganzseitige, farbige Anzeige für ASPIRINA PARA NINOS (ASPIRIN für Kinder) in der Tageszeitung Prensa libre gefunden. Die Anzeige wurde mit einem Malwettbewerb für Kinder über den Frieden mit Blümchen und Täub-
chen aufgemacht und suggeriert: Der Frieden, das sind BAYER und ASPIRIN für die Kinder.
 

(1)arznei-telegramm 2/1994, S. 18
(2)BAYER AG, 100 Jahre Acetysalicylsäure, Leverkusen 1997, S. 18
(3)BAYER AG: Innovationsperspektive `97, Leverkusen, April 1997, S. 10
(4)siehe Endnote 3, S. 44
(5)siehe Endnote 2, S. 9
(6)Der Spiegel, Nr. 11, 1997, S. 118
(7)Berechnet auf 20er Packung mit 500mg und 30er Packung mit
324mg, Preisstand Juni 97 nach: ATI, positiv telegramm 97, Berlin 1997. Absoluter Spitzenreiter im BAYER-Sortiment sind allerdings ALKA SELTZER Brausetabletten mit 1,91 DM.
(8)Die totale Tablette, Die Zeit vom 1.8.1997
(9)TAZ vom 11.8.97
(10)BAYER 1997/1998: Namen - Zahlen - Fakten, S. 28
(11)Brief von BAYER an die terre des hommes Ärzteinitiative vom
3. Juli 1997