SWB 04/98

Editorial von Dr. med. Ellis Huber,
Präsident der Ärztekammer Berlin

Liebe Leserinnen und Leser,

beim Arzneimittelmarkt geht es - wenn man die Fakten unvoreingenommen betrachtet - weniger um die Gesundheit der Menschen, als vielmehr darum, wie und wo das schnelle oder große Geld zu machen ist.

Nicht zufällig war Deutschland die Geburtsstätte für den Contergan- Skandal. Ebenso typisch für die in der Bundesrepublik vorherrschenden Interessen war die finanzielle Entschädigung für die AIDS-Opfer durch HIV-verseuchte Blutkonserven. Nun droht der "Solidargemeinschaft", also letztendlich den Beitragszahlern der gesetzlichen Krankenver-
sicherungen, ein neuer wirtschaftlicher Aderlaß durch gentechnologisch hergestellte Medikamente, Gentherapien und Life-Style-Tabletten. Schon jetzt sprengen diese Entwicklungen den Finanzrahmen der sozialen Versicherungssysteme fast aller "Nichtentwicklungsländer".

Inkompetenz der Behörden, nachlässige Politiker und skrupellose Manager der Pharmaindustrie sind die Protagonisten einer äußerst zweifelhaften Massenversorgung mit Medikamenten und Mitteln, die den umstrittenen Anspruch erheben, alle "wirksam und nützlich" zu sein.

Es gibt bei diesem Heilmittel-Chaos kaum einen Platz für Gesundheits-
förderung, Vorsorge-Medizin, alternative Therapien und andere, preiswertere Heilmethoden. Der Staat hat sich als regulierendes Element längst verabschiedet. Und wenn er denn regulierend eingreift, geschieht dies nicht zuletzt im Interesse des Pharmakartells. Bestes Beispiel: Die Gesundheits"reform" des Ministers Horst Seehofer. Die Versicherten werden durch ein Zuzahlungssystem zu Lasteseln der Profitwirtschaft mit der Krankheit. Die Versicherten bezahlen unter der Parole der "Eigenverantwortlichkeit" die Zeche für die Unfähigkeit der Politik, eine gerechte Umverteilung sozialer Lasten herbeizuführen.

Was können Ärzte angesichts eines unüberschaubaren Angebotes von Mitteln und Medikamenten, Leistungen und Therapien ändern? Viel, denn sie sind der primäre Anwender von Medikamenten und halten insofern einen Schlüssel für den Einstieg in eine sozial vernünftige und auch wirtschaftlich verantwortliche Arzneimitteltherapie in der Hand. Die Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen können mit ihrer eigenen Informationspolitik die Pharmainteressen zügeln. Dazu müssen sie zu gemeinsamem Handeln finden und sich vor allem ihrer sozialen Verantwortung stellen. Zur Versorgung von Kranken, zur Linderung von gesundheitlichen Schäden gehört auch die Prävention. Und wer konsequent Vorsorge betreiben will, muß sich als Mediziner auch um die sozialen Ursachen von Gesundheitsstörungen, z.B. Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und zunehmende Armut, kümmern.

Wir stehen an einem Wendepunkt der Gesundheitssysteme unserer Informationsgesellschaften. Wollen wir ein soziales Immunsystem zur Abwehr von Krankheitsgefahren gestalten, das möglichst viel sozialen Nutzen stiftet, also Gesundheit für alle erschwinglich macht, oder wollen wir ein unsoziales Schmarotzergeflecht fördern, das die optimierte Gewinnabschöpfung bei den Kranken durch private Begehrlichkeiten oder eine "Shareholder-Value"-Medizin sichert?

Moral oder Profit heißt also der epochale Gegensatz in den Gesund-
heitssystemen moderner Gesellschaften. Ärztinnen oder Ärzte müssen entscheiden, ob sie mehr den Kapitalverwertungsinteressen des medizinisch-industriellen Komplexes oder den Gesundheitsinteressen der Bevölkerung dienen wollen. Ich plädiere dafür, daß die Ärzteschaft selbstbewußt zu ihrer ökonomischen Rolle im Gesundheitssystem steht und die nötige Korrektur der Finanzstrukturen aktiv betreibt. Auf Dauer läßt sich Gesundheit für den Einzelnen und für die sozialen Gemein-
schaften nur produzieren, wenn die Steuerung des Systems den humanen Werten und nicht dem Gelde folgt. Wir müssen in sozialer Verantwortung ein "Non-Profit"-gesteuertes Gesundheitssystem errichten.