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Beinahe-Katastrophe bei BAYER versetzt Stadt Wuppertal in Panik
"Das war wie im Krieg"
Am 8. Juni kam es auf dem Wuppertaler BAYER-Gelände, das mitten im Stadtgebiet liegt, zu einer Explosion und nachfolgend zu einem Brand. Die austretenden
Chemikalien und der Brandruß riefen bei unzähligen Menschen Atembeschwerden, Kopfschmerzen, Übelkeit, Augen- reizungen und Hautverätzungen hervor; die umherfliegenden Glassplitter verursachten Schnittwunden.
Vorläufige Bilanz des Unglücks: Über 100 Verletzte, Sachschaden in Millionenhöhe bei den umliegenden Wohnhäusern, das Werksgrundstück rund um das Kesselhaus 218 eine Trümmerlandschaft - und für die Stadt einmal mehr
die Gewissheit, mit einer chemischen Zeitbombe in ihrem Herzen zu leben.
Von Udo Hörster
Ein Riesenknall, eine unheilvoll dräuende schwarze Rauchwolke immensen Ausmaßes, ätzender Gestank - mitten im Wuppertaler Stadtgebiet ist der Ernstfall
eingetreten: ein sog. Störfall, wie diese Beinahe-Katastrophe bei BAYER im Amtsdeutsch verharmlosend ausgedrückt wird. Die bei der Explosion entstandene Druckwelle war so stark, dass sie straßenzugweise die
Glasscheiben aus den Fenster- rahmen sog und das Wohnungsinventar durcheinanderwirbelte. Mauersteine und Dachziegel flogen durch die Luft und gingen auf vorbeifahrende Autos nieder, nur ein Wunder verhinderte
größere Unfälle. Die Wucht der Detonation schleuderte einen Werksangehörigen mitsamt Brandschutztür durch den Gang zu einem Nebengebäude; zwei BAYER-Beschäftige erlitten vom ohrenbetäubenden Lärm einen
Trommelfellriss. Über 100 Belegschaftsangehörige, Feuerwehrleute oder AnwohnerInnen mussten sich wegen Atemwegsbeschwerden, Reizungen der Binde- und Schleimhäute oder Hautausschlägen in ärztliche Behandlung begeben.
Die Feuerwehr sperrte ein zwei Quadratkilometer großes Stadtgebiet weiträumig ab und ließ wegen des hohen Vergiftungsrisikos niemanden die Abgrenzung passieren. "Das war wie bei einem Bombenangriff im
Krieg", beschreibt ein sichtlich erregter, älterer Anwohner die Situation. Und es hätte noch schlimmer kommen können: Die Strecke der Wuppertaler Schwebebahn führt mitten durch das BAYER-Areal. Zum Zeitpunkt
der Explosion befand sich ein im Feierabendverkehr vollbesetzter Zug in nur zweiminütiger Entfernung vom Werk. Zwei Minuten, die Wuppertal von einer Groß- Katastrophe mit unzähligen Opfern trennten, denn der
städtische Brandoberamtsrat Jürgen Luckhardt ist sich sicher: "Die Wucht der Druckwelle war so enorm, dass sie die Schwebebahn zum Absturz gebracht hätte."
"Betriebsstörung mit Geruchsbelästigung" Am Unfalltag erwies es sich als fatal, dass BAYER weder die Stadt noch die Einsatzkräfte von Polizei und
Feuerwehr, die MedizinerInnen der umliegenden Krankenhäuser oder die AnwohnerInnen auf die Möglichkeit eines solchen GAUs vorbereitet hatte. Im Gegenteil, in den vergangenen Jahren sind sogar der in solchen Fällen
früher übliche Sirenenalarm und die Katastrophenschutzpläne abbgeschafft worden. Der BAYER-Warndienst für die Nachbarschaft war "kaum das Hochglanzpapier wert (..), auf dem sich BAYER seiner gerne rühmt",
befand die Westdeutsche Zeitung. MedizinerInnen sahen sich durch die übermittelten Datenblätter zu den ausgetretenen Giftstoffen nur unzureichend in die Lage versetzt, die Chemie-Opfer angemessen zu versorgen. Die
BAYER-Werksfeuerwehr war dem Unfall nicht gewachsen, ihre Personalstärke war aufgrund der vom Konzern verordneten Einsparungen stark reduziert worden. Die städtische Feuerwehr musste in Ermangelung eines auf BAYER
abgestimmten Worst-case-scenarios auf einen allgemein gehaltenen Katastrophenplan als Grundlage zurückgreifen und setzte eine sog. B3-Meldung ab, die Dringlichkeitsstufe knapp unterhalb dem Evakuierungsfall. Sie -
nicht BAYER (!!!) - gab die "dringende Warnung" aus, sich nicht im Freien aufzuhalten und Fenster und Türen zu schließen. Dass die Explosion einen Großteil der Fensterscheiben zerstört hatte, war
allerdings in dem Maßnahmen-Katalog nicht vorgesehen.
Berufstätige, die auf dem Heimweg im Autoradio von dem Störfall gehört hatten und sich um ihre Familien ängstigten, versuchten durch einen Handy-Anruf bei
BAYER Genaueres zu erfahren. Vergebens. Sie erhielten nicht einmal den Hinweis auf die eingerichtete Hotline. Der hätte sich aber sowieso als nutzlos erwiesen, denn zu diesem Zeitpunkt lief unter der Nummer nur eine
belanglose Ansage vom Band.
Werksleiter Heinz Bahnmüller übte sich derweil vor den Medien darin, das Ausmaß der Beinahe-Katastrophe herunterzuspielen. Er konnte zwar über Ursache und
Verlauf des Unglücks keine konkreten Informationen liefern, die Explosion habe sich bei der Produktion des Pestizides TELDOR ereignet. Aber eines wusste er gleichwohl ganz sicher: "Giftige Dämpfe wurden nicht
freigesetzt." Um 18.00 versicherte er: "In 20 Minuten ist hier alles vorbei" und ein Konzernsprecher sprach lediglich von einer "Betriebsstörung mit Geruchsbelästigung". Das kauften
BAYER weder die AnwohnerInnen noch die MitarbeiterInnen ab. Ein Belegschaftsangehöriger im WDR-Fernsehen: "Es ist ja schließlich keine Parfüm-Fabrik." Und auf die Nachfrage des Journalisten, ob er denn der
Werksleitung misstraue, antwortete er: "Ich misstraue ihr nicht unbedingt, aber ich zweifele. Ich zweifele an, dass man in so einem Fall sagt, es habe keine Gefahr bestanden. Das zweifele ich sehr wohl an,
ja!"
BAYERs Kehrtwendung Eine Woche nach dem Schreckenstag widerrief der Konzern seine bisherige Darstellung des Unfallhergangs. In dem Kesselwerk 218 sei nicht
der TELDOR-Behälter, sondern der daneben liegende, in dem ein Lösemittel für ein Produkt gegen Parasitenbefall angesetzt wurde, hochgegangen. Die Verwechslung zweier Chemikalien habe zu der Explosion geführt, hieß
es jetzt statt dessen. Axel Köhler-Schnura von der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG): "Diese Kehrtwendung in der Begründung des Unfallhergangs ist nicht glaubwürdig. Sie wirft mehr Fragen auf, als sie
beantwortet. Möchte BAYER von etwas ablenken?" Immerhin ist geplant, die TELDOR- Produktion in Dormagen im großen Stil zu betreiben. Immerhin kam es bereits zehn Tage vor der Katastrophe vom 8. Juni in
derselben Wuppertaler TELDOR-Anlage bereits schon einmal zu einem Unfall, bei dem ebenfalls Schwefeldioxid und Salzsäure ausgetreten sind und ein Mitarbeiter verletzt wurde. BAYER musste also Auswirkungen auf die
Genehmigung der Anlage in Dormagen befürchten. Da scheint es angebracht, TELDOR aus der Schusslinie zu nehmen. Auch erhebt sich die Frage, ob in der TELDOR-Versuchsanlage mit noch nicht dokumentierten Stoffen und
Verfahren gearbeitet wurde?
In jedem Fall ist die BAYER-Version vom Vertauschen zweier Stoffe in sich nicht schlüssig. Warum etwa hat das Sicherheitsventil des Kessels das Ausbrechen der
Explosion nicht verhindert? Unwahrscheinlich erscheint die Version von den vertauschten Stoffen zudem deshalb, weil in allen großen Industriebetrieben gemäß der ISO 9001-Richtlinie zur Qualitätssicherung gearbeitet
wird, die individuelle Fehler beim Umgang mit gefährlichen Stoffen strukturell ausschließen soll. Sie schreibt unter anderem deutliche Kennzeichnungen der Stoffe und ein Protokollier- system mit doppelten und
dreifachen Kontroll-Gegenzeichnungen vor. Immerhin ging es nicht um kleine Mengen, das Vertauschen von zwei Fläschchen, sondern um insgesamt fast zwei Tonnen.
Fehler im System vermutet auch Roland Fendler vom Darmstädter Öko-Institut. Der Wissenschaftler zieht die Erklärung von BAYER ebenfalls in Zweifel. Seiner
Meinung nach beugt das umfassende Kennzeichnungs- und Dokumentationssystem einer Vertauschung von Stoffen vor. Schon allein, dass Kaliumhydroxid (Ätzkali) in der am häufigsten verwendeten Form eine ganz andere
Konsistenz als Kaliumcarbonat hat - es ist kein Pulver, sondern besteht aus kleinen Plätzchen - spricht gegen einen Irrtum beim Einfüllen. Ein Fragezeichen setzt Fendler auch hinter die Konzern-Darstellung der
chemischen Reaktion, die zu der Explosion geführt hat, wonach zunächst die Gesamtmenge Kaliumhydroxid in den Kessel gefüllt wurde und dann das 2-Chlor-5-Nitrotoluol mit einem Lösemittel. Das sei ein absolut
unübliches Verfahren, so der Chemiker. Er hält es für möglich, dass das Ätzkali bewusst verwendet wurde und Experimente zur Bestimmung des ph-Wertes - des optimalen Mischungsverhältnisses, das eine maximale Ausbeute
und minimale Stoffabfälle garantiert - oder zur Bestimmung der günstigsten Drucktemperatur den Unfall ausgelöst haben.
Gefahren zu jeder Zeit Die Explosion brachte nicht nur Millionenschäden und mehr als 100 Verletzte mit sich, sondern auch große Gefahren für die Gesundheit
der Bevölkerung. Während BAYER wiederholt "Gefahr zu keiner Zeit" vermeldete, ergaben Messungen vom Unternehmen selbst sowie vom Landesumweltamt (LUA), ein bis zwei Stunden nach dem Bersten des Kessels
vorgenommen, übereinstimmend erhöhte Konzentrationen von Schwefeldioxid und Salzsäure. Ist Salzsäure nachgewiesen, so ist meist auch das krebserregende Seveso-Gift Dioxin nicht weit. Dioxin, das giftigste aller
bekannten Gifte, das in jeder noch so niedrigen Konzentration schädlich ist.
Gezielte Nachmessungen bestätigten dies. Das LUA ermittelte Dioxin-Konzentrationen von 1,8 Nanogramm pro Quadratmeter in den umliegenden Gemüsegärten, von 3,4
Nanogramm in den angrenzenden Wohngebieten, von 17 Nanogramm auf dem Werksgelände und von 45 Nanogramm direkt an der Unglücksstelle. Noch zwei Wochen nach dem Unglück verendeten unweit des Werks Zierfische in einem
Tümpel. Eine systematische Erfassung aller Betroffenen AnwohnerInnen, PassantInnen und AutofahrerInnen auf der nahegelegenen Autobahn unterblieb. Langzeitfolgen für die menschliche Gesundheit bleiben damit
unentdeckt.
Eine weitere Gefahr stellen krebserregende Brandstoffkondensate wie die polyzyklischen Kohlenwasserstoffe dar, die sich im Ruß gebildet haben. Was sonst noch
alles für giftige Substanzen entstanden sind, wird für immer unbekannt bleiben. Die Routine-Messungen erfassen nämlich nur die Stoffe, auf die die Apparaturen jeweils geeicht sind. Detaillierteren Aufschluss über
den gesamten Gift-Komplex hätte nur eine Messung unmittelbar nach der Explosion, vorgenommen direkt in den ersten austretenden Rauchwolken, geben können. Genau diese Messungen wollte GREENPEACE auch durchführen,
aber der BAYER- Konzern verweigerte der Gruppe den Zutritt zum Firmengelände.
In diesem Zusammenhang erweist es sich übrigens als besonders fatal, dass allein diejenigen, die mit gefährlichen Stoffen die Umwelt vergiften, auch in der
Lage sind, diese zu analysieren. "Die Überwachungsbehörden verfügen nicht über die notwendige Analytik", kritisiert CBG-Sprecher Axel Köhler-Schnura.
"Für sichere Arbeitsplätze!" Zwei Tage nach der Beinahe-Katastrophe zogen 300 Belegschafts- angehörige von BAYER auf die Straße. "Für
sichere Produktion, für sichere Arbeitsplätze" und "Mehr Personal, mehr Sicherheit, weniger Unfälle" stand auf ihren Transparenten zu lesen. Die KollegInnen machten die massiven
Arbeitsplatzvernichtungen im Produktions- und Sicherheitsbereich mitverantwortlich für das verheerende Geschehen am 9. Juni. Als konkretes Beispiel nannte ein Beschäftigter, dass nur noch eines von fünf Werkstoren
mit einem Pförtner besetzt ist. Dadurch stand die eintreffende Feuerwehr vor verschlossenen Türen und wertvolle Minuten verrannen, ehe sie zum Brandherd vorrücken konnte.
BAYER kündigte nach dem Schwarzen Dienstag an, die Pestizid- Produktion nach Dormagen verlegen zu wollen, was schon länger geplant gewesen sei. Allzulang aber
auch noch nicht, denn als die SPD-geführte Landesregierung im Rahmen einer neuen Bauleitplanung Anfang der 80er Jahre gefährliche Produktionsstätten, die sich in der Nähe von Wohnsiedlungen befanden, verlegen
wollte, intervenierte der Chemie-Konzern erfolgreich gegen das Vorhaben. Mit dem Beschluss, die Produktion zu verlegen, meint man bei BAYER jetzt alles Menschen- mögliche getan zu haben. Als ob das Dormagener
Werk nicht ebenso in unmittelbarer Nähe von Wohnsiedlungen läge. Als ob es die Beinahe- Katastrophe vom Juli 98, als 12 Tonnen (!) krebserregendes TDI ausgetreten sind, nicht gegeben hätte. Axel Köhler-Schnura
folgert daher: "Die Produktionsverlagerung war längst beschlossene Sache und hat mit dem aktuellen Unfall nichts zu tun." Die Geschäftspolitik von BAYER, so der CBG-Vorstand, folge streng
betriebswirtschaftlichen Vorgaben. Er zitiert Konzernboss Manfred Schneider, der in schnöder kapitalistischer Selbstherrlichkeit festgestellt hat: "Wir sind auf Profit aus, das ist unser Job." Kein Wunder
also, wenn Wuppertals Werkleiter Heinz Bahnmüller keine Schuldgefühle plagen: "Prinzipiell können derartige Explosionen überall da passieren, wo Chemikalien gemischt werden." Die Wuppertaler könnten
sozusagen noch von Glück reden, denn, so Bahnmüller zynisch: "Es hätte durchaus auch anders kommen können bei der Schwere der Explosion."
Die Wuppertaler StadtpolitikerInnen fügen sich klaglos ins Fatum. Bürgermeister-Kandidat Hermann Josef Richter (CDU), spricht nur von den vielen
Arbeitsplätzen und SPD-Bürgermeister Hans Kremendahl fand es sogar passend, zwei Tage, nachdem Wuppertal am Rand von Seveso gestanden hatte, zu versichern: "Wir sind stolz auf die BAYER-Werke." Eine
Wuppertalerin, die direkt neben der Anlage lebt, sah sich jedenfalls zum Selbstschutz gezwungen: "Meine Konsequenz ist: "Ich ziehe weg!"
DIE COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN fordert: - Keine Chemie-Anlagen mehr in der Nähe von Wohnvierteln,
stattdessen Ansiedlung gefahrloser Produktionstätten - Rückhaltlose Aufklärung des Unfallhergangs unter Einbeziehung unabhängiger GutachterInnen z.B. vom ÖKOINSTITUT
- Langzeituntersuchungen über mögliche Folgeschäden der Beinahe- Katastrophe
- Die Ausarbeitung von Katastrophenschutzplänen für jeden Standort - BAYER muss die Personalstärke im Sicherheitsbereich erhöhen - BAYER muss für die entstandenden Sachschaden aufkommen.
Dabei gilt das Prinzip der Beweislastumkehr: Der Konzern hat bei Zweifelsfällen den Nachweis zu führen, dass bestimmte Beschädi-
gungen nicht durch die Explosion hervorgerufen worden sind.
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