SWB 03/00

Leere Versprechungen der Gen-Medizin

Im medizinischen Bereich ist die Gentechnik fast unumstritten. Hier greifen die Wissenschaftler nicht einfach "für ein paar Dollar mehr" in das Erbgut von Kulturpflanzen ein, hier reiben sie sich auf, um die Menschheit von Geißeln wie Krebs zu befreien. So zumindest eine weit verbreitete Vorstellung. Viele Unternehmen beschränken sich momentan aus Gründen der Akzeptanz auf die Gen-Medizin. "Die Pharma- Forschung befindet sich zurzeit im Gen-Rausch", schwärmt zum Beispiel der Ober-Pharmakologe des Leverkusener Bayer-Konzerns,
Dr. Wolfgang Hartwig - und die Chef-Etage infolgedessen im Goldrausch. Nüchtern betrachtet fällt die Bilanz für die "Zukunftstechno-
logie" allerdings mehr als dürftig aus.

"Bayer-Forschung: Durchbruch im Kampf gegen Tumor-Wachstum", verkündete beispielsweise der Kölner Express im März letzten Jahres. Die Hamburger Morgenpost formulierte kaum zurückhaltender: "Hoffnung für Krebskranke: Roboter entdeckt Mittel gegen Krebs". Drei Monate später war die Hoffnung bereits wieder verflogen, was den beiden Boulevard-Blättern allerdings keine Zeile mehr wert war.
In "Übereinstimmung mit einem unabhängigen externen Sicherheitsaus-
schuss", wie es beschönigend in der Presse-Mitteilung hieß, stellte der Leverkusener Chemie-Multi alle klinischen Studien mit der Substanz Bay 12-9566 ein. Bei Patienten mit kleinzelligem Lungenkrebs hatte sie weniger Heilwirkung als ein Placebo, gestand Bayer. Eine schwere Schlappe: Da hatten die Finanz-ExpertInnen des Konzerns schon eine Umsatz-Prognose von einer Milliarde Euro für die neue Arznei abgegeben, und nun schneidet sogar ein Schein-Medikament bei den Tests besser ab als ein nach dem neuesten Stand der Gentechnik produziertes. Am nächsten Tag sank der Aktien-Kurs stark ab.

Bei dem durchgefallenen Wirkstoff Bay 12-9566 handelte es sich um einen sogenannten Metallo-Matrixproteasen-Hemmer, ein Eiweiß, das die Bildung anderer Proteine hemmen sollte, die Krebszellen den Weg durch das Gewebe ebnen. Die Substanz gehört der Gruppe der Cytostatika an, die als Botenstoffe Bildung, Wachstum und Teilung von Knochenmarks- und Blutzellen stimulieren. Gelänge es mit Hilfe dieser Eiweiße, die Vermehrung von Tumorzellen zu stoppen oder die Produktion von Abwehrzellen anzuregen, so hätte die "molekulare Medizin" ein wirksames Therapeutikum, z.B. gegen Krebs, Asthma und Autoimmun-Krankheiten wie Arthritis. Deshalb sind es vornehmlich Cytostatika-Proteine wie Interleukine und Interferone, die für den "Genrausch" verantwortlich sind. Als "Dealer" dieser Eiweiße betätigen sich Genomforschungsunternehmen wie Millenium, Onyx oder Chiron, die das Erbgut pharmazeutisch relevant erscheinender Proteine entschlüsseln und darauf Patent-Anspruch erheben. Bayer hat mit vielen dieser Biotech-Firmen millionenschwere Kooperationsverträge abgeschlossen, beteiligt sich aber auch selbst an der privatwirtschaft-
lichen Aneignung der Bausteine menschlichen Lebens. Dutzende Interleukine und andere Proteine hat der Konzern sich beim Europäischen Patentamt in München patentieren lassen.

Interferon hatte vor Jahrzehnten schon einmal Rauschgefühle ausgelöst, nachher aber erhebliche Kopfschmerzen bereitet, da die Therapie- Erfolge im Gegensatz zu den Nebenwirkungen ausblieben. Das waren aber nur die Kinderkrankheiten eines Allheilmittels, versichern die Pharmakologen heute, die Forschung hätte inzwischen beträchtliche Fortschritte gemacht.

Offenbar reichen die nicht. Denn nicht nur Bayer brach klinische Studien mit Eiweißstoffen ab. Auch British Biotech scheiterte mit einem Metallo- Matrixproteasen-Hemmer. Schon vor Jahren hatte der Leverkusener Pharma-Riese die Entwicklung eines Antikörper-Proteins (Anwendungs-
gebiet: septischer Schock) aufgegeben. Und im Mai dieses Jahres schrieb Genentech einen Alarmbrief an die Ärzteschaft. Das Präparat Herceptin, ein Tumorzellen-Wachstumshemmer auf Protein-Basis, hatte zu 15 Todesfällen und 47 schweren Gegenanzeigen wie allergischer Schock und akute Atemnot geführt. Ob ein von Bayer in den USA gerade zu klinischen Tests zugelassenes Interleukin zur Asthma-Behandlung die Prüf-Phase übersteht, erscheint vor diesem Hintergrund mehr als fraglich.

Die "schöne neue Genwelt", in der es "Ausschalter" für Krebszellen gibt und "Zauberkugeln" "böse" Proteine erkennen "wie ein Schloss den richtigen Schlüssel", weshalb sie diese "an die Kette" legen können, existiert nur in der Köpfen ihrer Profit-orientierten Propagandisten. Das Verhalten der Körper-Eiweiße lässt sich offenbar nicht auf ein Computerprogramm reduzieren, das mit einem entsprechenden Gegen-Programm umzupolen ist. Diese sind als Beweger und Bewegtes vielmehr in ein komplexes Netzwerk eingebunden. Sie wirken auf das Immunsystem, empfangen Reize vom hormonellen System und reagieren auf Impulse aus dem Nervensystem. Therapeutika, die einfach nur ein Signal umlegen, um einen fehlgeleiteten Zellenwachstumspro-
zess wieder zu regulieren, lassen dies physiologische Ganze außer Acht und haben deshalb bloß beschränkte Erfolgsaussichten.

Das Geflecht ist zudem so feingesponnen, dass schon die geringste Abweichung von der richtigen Dosierung zu schwer wiegenden Komplikationen führen kann. Die verbreiteste Nebenwirkung von Protein-Präparaten besteht im Auslösen von Autoimmun-Krankheiten. In diesem Fall lähmen die von außen zugeführten Immunsystem- Stimulanzien die körpereigenen Abwehrkräfte, so dass der Organismus sich an sich selbst ansteckt und chronische Entzündungen oder andere Gesundheitsstörungen entstehen. Gentechnische Nachbauten von menschlichen Antikörpern aus Mäusezellen bergen ein anderes Risiko: Das Immunsystem erkennt sie nicht als "naturidentisch" an, identifiziert sie vielmehr als unbekannte Eindringlinge und schaltet auf Alarm. Ist das Präparat hoch dosiert, reibt sich der Körper unter Umständen in seinem Abwehrkampf auf und bricht zusammen, wie im Falle von Herceptin geschehen.

Die Anwendung der Proteine bereitet auch praktische Probleme. Durch ihre Zusammensetzung aus mehreren Molekülen erreichen sie eine Größe, die ihren Transport im Körper erschwert. Überdies baut der menschliche Organismus Eiweiße schnell ab. Deshalb müssen die Mittel hoch dosiert sein, damit überhaupt eine ausreichende Menge den Wirkort erreicht, was wiederum die Gefahr von Gegen-Anzeigen erhöht. Aber nicht nur darum ist eine Einnahme in Pillen-Form nicht möglich, sondern auch, weil die Magensäure und die Enzyme des Verdauungs-
traktes die Aktivität der Proteine herabsetzen. Es bleibt somit lediglich die Injektion oder die Infusion.

Von den 27 Präparaten gegen das Tumor-Wachstum, die derzeit in der Erprobung sind, resümiert die FAZ, hat noch keines zufrieden stellende Resultate vorzuweisen. Die Zeitung raunt gleichwohl zweckoptimistisch von viel versprechenden Erfolgsanzeichen. Aber selbst der größte Zweckoptimist preist die Proteine nicht mehr als Allheilmittel gegen Krebs. Mediziner setzen sie inzwischen allenfalls noch Therapie- begleitend ein. Aus diesem Grund waren verschiedene Unternehmen gezwungen, ihre Umsatz-Erwartungen für Interferone, Interleukine und ähnliche Stoffe in den letzten Jahren deutlich nach unten zu korrigieren.

Die eigentlichen Ursachen von Krebs-Erkrankungen ignoriert die Pharma-Industrie geflissentlich. Um diese zu erkennen, müssten die Konzern-Wissenschaftler nur einmal von ihrem zwanghaften Starren auf das Gen und die mikrobiologischen Vorgänge in der Zelle ablassen und den gesamten menschlichen Organismus sowie sein soziales, kulturelles und ökologisches Umfeld in den Blick nehmen. Wie wichtig dies wäre, zeigt eine in der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine veröffentlichte Untersuchung an Zwillingspaaren. Sie belegt eindeutig die beherrschende Rolle, die Umwelteinflüsse gegenüber genetischen Faktoren bei der Entstehung von Krebskrankheiten spielen. Diese Umweltfaktoren hat der US-Mediziner Samuel Epstein seit den 60er Jahren genauer untersucht und dabei herausgefunden, wie groß der Einfluss von Chemie-Giften und anderen Schadstoffen auf die Herausbildung von Tumoren ist. 1998 erhielt er für seine Arbeiten den Alternativen Nobelpreis. Durch ökologisches Wirtschaften ließe sich wohl mehr für die Gesundheit der Menschen tun als durch die Entwicklung umstrittener Pharmazeutika.

Auch die Ernährung ist in bedeutendem Umfang an der Entstehung von Krebs-Erkrankungen beteiligt. Nach einer Einschätzung von Experten des Deutschen Institutes für Ernährungsforschung in Potsdam wäre rund ein Drittel aller Krebsfälle durch eine Umstellung der Ess-Gewohnheiten vermeidbar. Auch eine genauere Überprüfung der einzelnen Therapie- Formen erscheint medizinisch geboten, variieren die Überlebens-
chancen der Patienten doch von Klinik zu Klinik um bis zu 30 %. Doch diese Ansätze haben eines gemein: Sie versprechen keine einfache Heilung in der Warenform der Pille mit dem entsprechenden Profit für den Hersteller. Sie verlangen vielmehr eine Veränderung der Lebens- und Arbeitsformen der Industriegesellschaft - und werden genau deshalb auch nicht konsequent weiterverfolgt.

Jan Pehrke