SWB 04/00

"Mundtot schlagen"

Heroin: Von der Gesellschaftsdroge zum Junkiestoff

Heroin gilt als die gefährlichste Droge der Welt. Dabei war der von BAYER aggressiv vermarktete Stoff bis 1958 weltweit in aller Munde. Der Arzt Michael de Ridder hat über die Geschichte des "Zaubermittels" ein viel beachtetes Buch geschrieben.

Bevor Heroin in Deutschland am 6. April 1971 mit dem Betäubungsmittelgesetz endgültig verboten wurde, war die Droge über 70 Jahre lang als Arzneimittel verwendet worden. Was kaum einer weiß: Den gefährlichen Sucht- stoff entwickelte die Pharma-Firma BAYER. Schon 1898 ließ das Unternehmen den Namen der Substanz schützen. Fortan war das Opiat mit dem wissenschaftlichen Namen Diacetylmorphin als "Heroin" bekannt. Entdeckt hatte es der englische Chemiker C. R. Wright. BAYER war es als erster Firma gelungen, den Stoff - eine Mischung aus Morphin und Essigsäure - fabrikmäßig herzustellen. Wie de Ridder anhand von Dokumenten aus den bisher für derartige Forschungen verschlossenen BAYER-Archiven nachweisen kann, wurde Heroin vor der Markteinführung zunächst an Fischen, Meerschweinchen, Katzen sowie Werksangehörigen nebst ihren Kindern erprobt.

Gründliche klinische Studien wurden im Eifer der Gewinnsucht erst gar nicht angestellt. Stattdessen startete BAYER im Jahr 1900 einen bis dahin noch nie dagewesenen Werbefeldzug. Auf dem ganzen Globus lobten Anzeigen in zwölf Sprachen das Mittel in den höchsten Tönen. BAYER verschickte Tausende von Gratisproben an ÄrztInnen.
"Die Nachbestellungen", so hieß es wenig später, "übertrafen alle Erwartungen". Die Verkaufserfolge von Heroin legten den Grundstein
für den Aufstieg der Elberfelder Farbenfabrik zu einem Weltkonzern. BAYER bewarb Heroin als Hustenmedizin für Kinder, der Stoff sei ungefährlich, erzeuge keinerlei Abhängigkeit und sei sogar bei Darmkoliken von Säuglingen wirksam. Kaum eine Anwendung, bei der das neue "Zaubermittel" nicht empfohlen wurde: Bronchitis, Multiple Sklerose, Asthma, Magenkrebs, Epilepsie, Schizophrenie und vieles mehr. Selbst Alpenclubs empfahlen vor der Bergbesteigung eine Dosis Heroin, weil das die Atmung erleichtere. "High kamen die Wanderer höher", resümiert DER SPIEGEL. Die Empfehlungen "schlossen nur wenige der damals bekannten Erkrankungen aus", schreibt de Ridder in seinem Buch. Entsprechend stieg der Absatz von 45 Kilogramm im Jahr 1898 auf 783 Kilogramm zehn Jahre später. Heroin wurde zum Kassenschlager, nicht zuletzt, weil es süchtig machte.

Doch auch das brutale Marketing zeigte seine profitable Wirkung. Als KritikerInnen die weltweite Propaganda und die Sicherheit des Tausendsassas in Frage stellten, ordnete der damalige BAYER-Prokurist Carl Duisberg rigoros an, seine Untergebenen sollten die Querulanten "mundtot schlagen". "Wir dürfen nicht dulden", so der spätere Geburtshelfer des Bündnisses zwischen der IG FARBEN und dem Nazi-Regime, "dass in der Welt behauptet wird, wir hätten unvorsichtigerweise Präparate poussiert, die nicht sorgfältig probiert sind." Ähnliche Tiraden müssen sich noch heute aufsässige AktionärInnen anhören, die todbringende BAYER-Produkte auf den Hauptversamm- lungen geißeln.

Heroin wurde erst 1912 apothekenpflichtig, 1920 dann rezeptpflichtig. Mit der Unterzeichnung des Genfer Opiumabkommens durfte Heroin von 1929 an nur noch zur Heilung und zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet werden, nach und nach wurde die Heroinmenge in Medika- menten eingeschränkt. Erst 1958 war Heroin auf dem Pharmamarkt nicht mehr erhältlich, sehr zum Leidwesen des BAYER-Konzerns. Danach entwickelte sich die illegale Drogenszene, es kam zu ersten Opfern des illegalen Heroinkonsums.

De Ridder, der beruflich mit Heroinsüchtigen zu tun hat, bedauert in seinem Buch, dass die Droge in Deutschland und vielen anderen Ländern als Folge der irrsinnigen Vertriebspraxis von BAYER nun vollständig verboten ist. So müssten Schwerstkranke und Sterbende auf ein potentes Schmerzmittel verzichten. Immerhin: In der Substitution unheilbar abhängiger Junkies geht die Bundesregierung nun neue Wege. Die kontrollierte Abgabe an ausgewählte Süchtige wird vorsichtig wieder zugelassen. Nach Auffassung von de Ridder geschieht dies zu Recht. Denn reines Heroin ist - im Unterschied zum gepanschten Schwarzmarktstoff - weder giftig noch erbgutverändernd. Der Heroingebrauch, so klärt er in seinem Buch auf, müsse nicht unausweichlich in Abhängigkeit und Verelendung führen. Die Modeschöpferin Coco Chanel hat bis ins hohe Alter sauberen Stoff konsumiert. Hubert Ostendorf

Michael de Ridder: Heroin, Vom Arzneimittel zur Droge. Campus Verlag Frankfurt/New York, 217 Seiten, mit 15 Abb. DM 48,--. Zu bestellen bei: Mensch & Umweltversand, 0211/2611210.