Tödliche Nebenwirkungen
Mögliche Opfer von Bayer-Medikament auch in Deutschland und Spanien
Kein Anschluß unter dieser Nummer hieß es am Tag nach dem Aus für Lipobay bei der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Bayer AG. Wer von dem
Leverkusener Unternehmen Informationen über den spektakulären Rückzug des Medikaments Lipobay erhalten wollte, landete bei dauerbesetzten Anschlüssen oder in endlosen Warteschleifen. Zuerst das Pharma-Desaster, dann
der Kommunikations-GAU.
Am Mittwoch hatte Bayer den Blutfettsenker Lipobay weltweit vom Markt genommen. Patienten werden aufgefordert, auf alternative Produkte umzusteigen, Apotheken
sollen Restbestände zurücksenden. Das Unternehmen will damit einem Verbot durch die amerikanische Aufsichtsbehörde FDA zuvorkommen, nachdem in den USA 31 Todesfälle durch Nebenwirkungen bekannt geworden waren.
Nach Angaben der FDA kann Lipobay Nierenversagen auslösen; Hunderte Patienten klagten zudem über spastische Zuckungen, Hautausschläge, Muskelkrämpfe und Übelkeit. Besonders risikoreich ist die Kombination mit
dem Cholesterinsenker Gemfibrozil, die für zwölf Todesfälle verantwortlich ist.
Die deutsche Arzneimittelaufsicht gab bekannt, daß hierzulande rund 90 Fälle bekannt seien, von denen vier tödlich verliefen. Momentan werde die weitere
Zulassung des Präparats überprüft. Der Berliner Fernseh- sender ntv spricht von sechs weiteren Toten in Spanien.
Lipobay gehörte zu den verkaufsstärksten Pharmaprodukten des Konzerns. Mit einem Umsatz von 1,2 Milliarden Mark lag das Mittel im vergangenen Jahr noch vor
dem Klassiker Aspirin, in diesem Jahr sollten zwei Milliarden Mark erzielt werden. Lipobay wird von über sechs Millionen Patienten eingenommen, vornehmlich in Europa, Japan und den USA. Ein hohes Wachstum wurde
besonders in den Vereinigte Staaten, wo rund 90 Millionen Menschen unter erhöhten Blutfettwerten leiden, angestrebt. In Entwicklungsländern in das Präparat nicht auf dem Markt.
Am Donnerstag mußte Bayer einräumen, daß der Jahresgewinn durch den Rückzug von Lipobay um rund 1,3 Milliarden Mark sinken werde. Zudem drohen dem Konzern
Schadensersatz-Forderungen von mehreren hundert Millionen Mark - US-amerikanische Kanzleien bereiten schon die ersten Sammelklagen vor. Bereits im Juni hatte Bayer Verunreinigungen des gentechnisch produzierten
Blutgerinnungsmittels Kogenate einräumen müssen, die zu einem Produktionsstopp und einem Rückgang des Gewinns um rund 500 Millionen Mark führten.
Die Börsen reagierten mit einem vernichtenden Schlag: Der Kurs fiel um 20 Prozent, was einem um über zehn Milliarden Mark gesunkenen Unternehmenswert
entspricht. Dabei hatte der gestrige Donnerstag eigentlich ein großer Tag für Bayer werden sollen: Nach der Veröffentlichung der Halbjahreszahlen wollte die Konzernspitze auf einer Investorenkonferenz in London, dem
wichtigsten Finanzplatz Europas, die Strategie für die nächsten Jahre vorstellen. Die Präsentation war als Testlauf für den Gang an die Wall Street gedacht, der am 26. September ansteht.
Die Londoner Börse hatte Bayer - trotz Protesten von Umweltschützern - Ende Juli eigens in einen »Ethik-Index« für vorbildliche Unternehmen aufgenommen. Stolz
verlautbarte Bayer-Chef Manfred Schneider noch in der vergangenen Woche: »Wir gehören damit im Bereich Corporate Social Responsibility zu den einhundert besten Unternehmen der Welt.« Nun hingegen muß der Konzern die
Frage beantworten, warum Reaktionen erst erfolgten, nachdem eine große Zahl von Todesfällen bekannt geworden war, obwohl seit Monaten Hinweise auf Unverträglichkeiten vorlagen. Ob der bereits mehrfach verschobene
Gang an die New Yorker Börse abgeblasen wird, werden die nächsten Tage entscheiden.
Kritiker monieren seit Jahren, daß einmal zugelassene Pharmazeutika keinen regelmäßigen Prüfungen unterliegen. Nach unabhängigen Schätzungen sterben jährlich
in Deutschland mehr als 30 000 Menschen an Nebenwirkungen von Medikamenten.
Philipp Mimkes
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