Langzeit-Studie weist geistige und motorische Schäden nach
Polychlorierte Biphenyle stören kindliche Entwicklung
Von Philipp Mimkes
Polychlorierte Biphenyle (PCB) behindern in gravierender Weise die Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern. Etwa 5% aller Kinder gelten als "hoch
belastet". Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung der Universität Düsseldorf, die in der Medizin-Zeitschrift The Lancet erschienen ist. Kritiker fordern Entschädigung von der BAYER AG, dem größten
europäischen PCB-Hersteller.
Der Umwelt-Arzt Gerhard Winneke und seine Kollegen beobachteten 171 Kleinkinder über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren und untersuchten die PCB-Belastung
im Mutterleib, in der Muttermilch und im Blut des Kindes. Bei erhöhten PCB-Funden fanden sie Verzögerungen der geistigen und motorischen Entwicklung. Der Effekt wurde sowohl bei PCB-Belastung während der
Schwangerschaft, als auch bei einer späteren Aufnahme durch die Muttermilch aufgezeigt. Gestillte Kinder wiesen eine fünffach erhöhte Belastung gegenüber ungestillten Kindern auf.
Polychlorierte Biphenyle im Blut der Mutter können die Blut-Plazenta- Schranke durchdringen, so dass der empfindliche Fötus den Giftstoffen direkt ausgesetzt
ist. Amerikanische Studien zeigen einen Zusammenhang von PCB-Belastung im Mutterleib und vermindertem Erinnerungsvermögen und Intelligenzquotienten 11-jähriger Kinder.
Die Entwicklungs-Psychologen Joseph und Sandra Jacobson von der amerikanischen Wayne-Universität schreiben in einem begleitenden Kommentar, dass der von
Winneke gefundene Unterschied zwischen gering und hoch-belasteten Kindern dem Entwicklungs-Abstand von Kleinkindern in einer anregenden Umwelt im Vergleich zu wenig geförderten Kindern entspricht.
PCB sind eine aus rund 200 Einzelkomponenten bestehende Verbindungsklasse organischer Chlorverbindungen. Da sie besondere elektrische Eigenschaften aufweisen
und nur schwer in Brand geraten, wurden sie in großem Umfang in Transformatoren und Kondensatoren eingesetzt. Darüber hinaus verwendete man sie als Weichmacher in Lacken und Klebstoffen, als Flammschutzmittel, als
Zusatz von Fugenmassen und in Farben. Die Gesamtmenge der weltweit hergestellten PCB wird auf bis zu 2 Millionen Tonnen geschätzt.
PCB sind extrem langlebig und finden sich nahezu überall in der Natur - in Tiefseesedimenten ebenso wie im arktischen Eis. Wegen der guten Fettlöslichkeit
treten sie in verschiedenen Bestandteilen der Nahrungskette auf, besonders in Fischen und Vögeln. Die Chemikalien können das menschliche Nervensystem, die Immunabwehr sowie Leber und Nieren schädigen und zu
Unfruchtbarkeit führen. Die amerikanische Umweltbehörde EPA prüft zudem die Einstufung von PCB als krebserregend. Traurige Berühmtheit erlangten kanadische Eskimos, die unter einer PCB-Belastung leiden, die der von
Opfern großer Chemieunglücke vergleichbar ist.
Die USA als bis dahin größter Hersteller verboten 1977 die Herstellung und Verwendung von PCB. Daraufhin sprang die deutsche BAYER AG in die Bresche und
steigerte trotz Protesten ihre Produktion von 6.000 auf 7.500 Tonnen jährlich. Erst 1983 stellte BAYER als letzter Hersteller in den westlichen Industrieländern die Produktion ein. Ein endgültiges Verbot aller
Anwendungen folgte 1989. Seitdem geht die Belastung zwar zurück, doch nach Angaben des Umweltbundesamts "nehmen die Menschen noch immer relativ hohe Mengen über die Nahrung und in geringem Umfang auch über die
Luft auf". Hauptsächlich Milchprodukte, Margarine und Fisch sind betroffen.
Besonders im Blickpunkt steht zur Zeit die Belastung öffentlicher Gebäude - allein 10.000 Schulen gelten bundesweit als PCB- kontaminiert. Thomas Lenius,
Chemie-Experte des BUND, fordert eine rasche Sanierung: "Kleinkinder sind besonders durch PCB gefährdet, daher dürfen wir die Entgiftung belasteter Gebäude nicht auf die lange Bank schieben. Die gegenwärtige
Grenzwert-Diskussion, die teilweise den Eindruck macht, dass die Kosten der Sanierungen im Vordergrund stehen, können wir uns nicht länger erlauben."
Für die Entgiftung zuständig sind die Bundesländer, was dazu führt, dass in verschiedenen Teilen Deutschlands unterschiedliche Grenzwerte gelten. In NRW
müssen ab 3.000 Nanogramm pro Kubikmeter Raumluft Sofortmaßnahmen eingeleitet werden. Für das Bundesgesundheitsamt hingegen stellen selbst Konzentrationen bis 10.000 ng "noch kein konkretes gesundheitliches
Risiko dar". Gegen diese Art der Verharmlosung protestierten der Deutsche Berufsverband der Umweltmediziner und der Ökologische Ärztebund in einer gemeinsamen Stellungnahme: Sie fordern einen Grenzwert für
Raumluft von höchstens 100 Nanogramm, der auf Null abgesenkt werden muss, falls sich die Kanzerogenität bestätigt.
Einen Schritt weiter gehen norwegische Umweltverbände, die eine Beteiligung von BAYER und einer Tochterfirma von MONSANTO an den Sanierungskosten des stark
mit PCB verunreinigten Osloer Hafens fordern. Tom Erik Okland von Norges Naturvernforbund: "Die Unternehmen wussten seit den 60er Jahren, dass die von ihnen verkauften Produkte hoch toxisch und schwer
abbaubar waren. Dennoch wurden die Käufer nicht über den PCB-Gehalt oder über die möglichen Risiken informiert." Okland erhofft einen Präzedenzfall, um in Umweltfragen ein rückwirkendes Verursacherprinzip
durchzusetzen.
In die gleiche Kerbe schlägt Jan Pehrke von der Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V.: "Für einen Großteil der heutigen PCB-Belastung sind Produkte von
BAYER verantwortlich. Das Unternehmen hat Milliarden mit PCBs umgesetzt und muss sich heute an den Entsorgungskosten dieser gefährlichen Chemikalien beteiligen". Pehrke fordert die Schaffung eines Risiko-Fonds
durch die Chemische Industrie, aus dem die Behandlung von Vergifteten finanziert wird.
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