SWB 02/2003

BAYER gewinnt erste Prozesse

LIPOBAY-Skandal ad acta?

Der Pharma-GAU "LIPOBAY" ist längst nur noch ein Thema für die Wirtschaftsredaktionen. Die JournalistInnen ergehen sich dort in Spekulationen darüber, in welchem Umfang die Schadensersatz- Prozesse vor den US-Gerichten die Profit-Aussichten BAYERs schmälern. Für die den Richtern von den Opfer-Anwälten vorgelegten Firmen-Unterlagen, die dokumentieren, dass der Konzern Informationen über das Gefährdungspotenzial des Cholesterin-Senkers lange Zeit verheimlicht hat, interessieren sich die Medien hingegen kaum.

Von Jan Pehrke

"Innerhalb von zehn Tagen bekam ich erst einen Stock, dann eine Gehhilfe, und schließlich einen Rollstuhl. Meine Arme waren mehr und mehr gelähmt, ich kam nicht mehr an mein Gesicht, konnte nicht essen. Meine Beine konnte ich auch immer weniger bewegen", so beschreibt der 80-Jährige Hollis Haltom dem ARD-Magazin Monitor (1) gegenüber den Prozess des Muskelzerfalls (Rhabdomyolyse) nach der Einnahme von LIPOBAY. Seine Klage im texanischen Ort Corpus Christi eröffnete in den USA den Reigen der Schadensersatz-Verfahren. Schon im Vorfeld erregte die juristische Auseinandersetzung großes Aufsehen. Der Leverkusener Chemie-Multi war sich genau darüber im Klaren, wieviel für ihn von einem positiven Ausgang des Rechtsstreits abhängt und ging in die Offensive. Er ließ Flugblätter mit seiner Version des Arznei-Skandals an alle Haushalte der Stadt verteilen. Die Staatsanwaltschaft sah darin den Versuch einer Einflussnahme auf die Geschworenen und zwang BAYER zum Abbruch der Aktion. Noch erbostere Reaktionen rief ein Artikel der New York Times hervor. Dessen Autor zitierte vorab aus Prozess-Unterlagen, die ein frühes Wissen des Konzerns um die Gefährlichkeit LIPOBAYs offenbarten. Das alles erschien als ein schlechtes Omen für den Fall "BAYER gegen Hollis Haltom" - der Kurs der Konzern-Aktie sank um 27 Prozent ab.

Was Haltoms Anwalt Mikal Watts, der in der Vergangenheit bereits einen Schadensersatz-Prozess mit einem Streitwert von 43 Millionen Dollar gegen den Pharma-Multi PFIZER gewonnen hatte, dem Richter dann präsentierte, waren in der Tat eindrucksvolle Belege für die Gesundheitsschäden bewusst in Kauf nehmende Profit-Sucht BAYERs.
Bereits in der erste Test-Phase hatte die LIPOBAY-Version mit der 0,8 Milligramm-Dosis Cerivastatin-Natrium zu alarmierenden Ergebnissen geführt. Bei Tierversuchen an Hunden hatten die PharmakologInnen eine muskelschädigende Wirkung beobachtet. Trotzdem ging die Erprobung weiter. In Japan klagten dann Test-Personen über so starke Nebenwirkungen, dass der leitende Arzt die Studie einstellen wollte. "Doktor Yamamoto empfiehlt sofort die Entwicklung einer Hochdosis- Therapie mit Cerivastin (Lipobay) abzubrechen", lautete das niederschmetternde Resümee. Selbst ein BAYER-Mitarbeiter riet angesichts eines um das 6fache erhöhten Rhabdomyolyse-Risikos dazu, "den Marketing-Enthusiasmus zu dämpfen". Die Unternehmensmanager zeigten sich davon unbeeindruckt und brachten in den USA das LIPOBAY mit der 0,8 Milligramm-Dosis heraus, während es in Europa bei der Version bis 0,4 Milligramm blieb. "Wir gehen hart gegen Cholesterin vor" - mittels dieses Werbe-Spruches wollte der Pharma-Multi einen hoch wirksamen - und darum auch hoch gefährlichen - Cholesterin-Senker auf dem weltweit lukrativsten und darum heiß umkämpften Pharma-Markt "USA" gegen Konkurrenz-Produkte durchsetzen.

BAYER-Anwalt Philip Beck versuchte gar nicht erst, die Echtheit der Firmen-Unterlagen zu bezweifeln. Er beschränkte sich auf die Relativierung, die Zitate seien aus dem Zusammenhang gerissen. Bei den Geschworenen verfing seine Argumentation. Zudem konnte der Jurist sie davon überzeugen, dass es angeblich keine wissenschaftlich präzise nachweisbare Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen LIPOBAY und den Leiden des Hollis Haltom gäbe. In Corpus Christi zeigte sich somit wieder einmal das Dilemma, vor dem schon so viele Produkthaftungsprozesse wie z. B. der um die BAYER-Holzgifte in den 80er Jahren standen. So augenscheinlich eine kausale Beziehung zwischen Schadstoff und körperlichen Schäden auch sein mochte, den exakten wissenschaftlichen Nachweis dafür zu führen, ist ein schweres Unterfangen. Zumal BAYER & Co. eine ganze Armada von gekauften GutachterInnen aufbieten, die den Sachverhalt bestreiten und so eine "Meinung gegen Meinung"- Pattsituation heraufbeschwören.

Wie schon zwei bundesdeutsche Gerichte zuvor, wiesen die Geschworenen in Corpus Christi die Klage des Opfers ab. Wenige Wochen später entschieden ihre KollegInnen in Jackson pro BAYER; einen dritten Prozess verhinderte der Konzern unmittelbar vor seinem Beginn durch einen Vergleich.

Der Kurs der Aktie stieg wieder und parallel dazu die Laune von BAYER-Chef Werner Wenning. Wider besseres Wissens konnte er in einen Faz-Interview das Urteil als Bestätigung dafür verkaufen, "dass BAYER im Umgang mit LIPOBAY/BAYCOL verantwortlich gehandelt hat".

Aber die Zitterpartie ist für ihn noch nicht vorbei. Bis September stehen noch ca. 20 weitere Klagen an. Eine besondere Bedeutung dürfte hierbei dem Gerichtstermin für eine Sammelklage von 4.600 Geschädigten zukommen. Weist die Strafkammer diese ab, so bleiben von den einstmals 8.400 Klagen nur noch 3.800 übrig - mit deutlichen verschlechterten Erfolgsaussichten.

Die Chancen für eine solche Entwicklung steigen. In den Gerichtssälen herrscht seit dem Amtsantritt von George W. Bush, dessen Wahlkampf der Leverkusener Chemie-Multi mit 200.000 Dollar unterstützte, ein deutlich konzern-freundlicheres Klima. So entsprach der Oberste Gerichtshof "Supreme Court" im April einer alten Forderung der Industrie und legte die finanzielle Höchstgrenze in Schadensersatz-Verfahren auf das 9fache des verursachten Schadens fest. Zudem darf das bisherige Geschäftsgebahren des angeklagten Konzerns bei der Bemessung der Summe keine Rolle mehr spielen. Deshalb brauchen die Unternehmen dem Gericht für die Beweis-Aufnahme nicht mehr wie bisher umfangreiche, eventuell inkriminierende Firmen-Dokumente zur Verfügung stellen. "Die Entscheidung ist auch von der amerikanischen Industrie mit Begeisterung aufgenommen worden", schrieb der Jurist Dr. Thomas Rüfer in der Faz.

Ganz gleich, wie die Prozesse letztendlich ausgehen und abgesehen davon, dass die LIPOBAY-Opfer natürlich eine angemessene Kompensation für ihr Leid erhalten müssen, sollten nicht Richter das letzte Wort zu den Pharma-GAU sprechen. Der LIPOBAY-Skandal war ein gesundheitspolitischer Skandal. Er offenbarte die kriminelle Energie eines Unternehmens, eklatante Mängel bei der Arzneimittel-Zulassung sowie das Fehlen von markt-begleitenden Pharma-Studien und ließ großen politischen Handlungsbedarf erkennen. Solange die Verantwortlichen die dringend erforderlichen Reformen nicht einleiten, schwelt der Skandal weiter, auch wenn Gerichte ihn juristisch ad acta legen.

(1) dieses Zitat und alle nicht anders gekennzeichneten: Monitor, 13.3.03
 

Der Schaden bleibt

Kommentar zum zweiten Freispruch für Bayer in den USA

Von Norbert Meyer, Neue Osnabrücker Zeitung

Erst ein 82-jähriger Mann, jetzt eine 70 Jahre alte Frau: Zwei von rund 8000 Klägern sind bisher mit ihren Schadensersatzansprüchen gegen Bayer gescheitert. Die gewonnenen Prozesse sollten der deutsche Pharmakonzern und seine Aktionäre nicht überbewerten. Zwar bieten sie für den Ausgang künftiger Verfahren eine gewisse Kalkulierbarkeit, doch vor bösen Überraschungen kann man vor allem bei der US-Justiz nie sicher sein.

Selbst wenn der für das Unternehmen günstigste Fall eintreten würde und es mit seiner Versicherungssumme sämtliche Ansprüche von Klägern abdecken könnte, hat das Skandal-Präparat Lipobay - von den möglichen Opfern einmal ganz zu schweigen - auch seinem Hersteller bleibenden Schaden zugefügt. Bayer - dieser Name des Aspirin- Erfinders galt einmal auch weltweit als Top-Adresse unter den Arzneimittelherstellern. Doch nach der Lipobay-Affäre ist die Pharmasparte bei den Leverkusenern zur Verfügungsmasse geworden.

Was Bayer und seine Aktionäre jetzt freut, muss übrigens nicht unbedingt segensreich für uns alle sein. Mehr Sicherheit bei der Entwicklung neuer Medikamente wäre wahrscheinlich eher dann zu erwarten, wenn der eine oder andere Schadensersatzprozess - gegen welchen Hersteller auch immer - mit einem Erfolg für den Kläger endete.