SWB 03/2003

Große Koalition für die großen Konzerne

BAYER stößt sich an
Gesundheitsreform gesund

Alles, was an der Gesundheitsreform wirklich die Bezeichnung "Reform" verdient hätte, überstand die partei-übergreifenden Verhandlungen nicht. Die Positiv-Liste erwies sich abermals als gesundheitspolitischer Rohrkrepierer, weshalb wirkungslose Präparate wie BAYERs Diabetikum GLUCOBAY auch zukünftig die Budgets der Kassen belasten. Das geplante unabhängige Medizin-Institut, das solchen pharmazeutischen Nullsummenspielen auf die Schliche kommen sollte, wickelte die Große Gesundheitskoalition gleich mit ab. Die Lobby-
istInnen von BAYER & Co. hatten mal wieder ganze Arbeit geleistet.

Von Jan Pehrke

1980 lag der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei 6,1 Prozent; im Jahr 2001 betrug er 6,5 Prozent. Der 0,4- prozentige Zuwachs reicht den ExpertInnen, um von einer Kosten- Explosion im Gesundheitswesen zu sprechen. Verändert hat sich jedoch lediglich die Basis für die Finanzierung der Krankenkassen-Ausgaben. Da BAYER & Co. ihre von Jahr zu Jahr steigenden Profite mit einer von Jahr zu Jahr sinkenden Anzahl von MitarbeiterInnen erwirtschaften, sinkt auch die Anzahl der Versicherten. Die Folge: Die Kassen sind gezwungen, ihre Beiträge zu erhöhen. Die abhängig Beschäftigten schmerzt das sehr, die Unternehmen dagegen nicht. Sie müssen zwar pro Betriebsangehörigem mehr Lohnnebenkosten zahlen, machen dies aber durch die infolge der Produktivitätsfortschritte insgesamt geschrumpfte Belegschaft mehr als wett. Die Politik will jedoch an dieses Surplus nicht ran. Sie ist sogar bestrebt, die Konzerne noch mehr zu entlasten. Nach einigen Vorarbeiten markiert die Gesundheitsreform den endgültigen Einstieg in den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der Sozial-Systeme. Um die Krankenkassen-Beiträge für BAYER & Co. von jetzt durchschnittlich 14,4 Prozent bis zum Jahr 2006 auf 13 Prozent zu senken, klammern die GesundheitspolitikerInnen den Zahn-Ersatz und das Krankengeld aus dem bisherigen Leistungskatalog aus und bürden die Kosten allein den Beschäftigten auf.

"Versicherten-bezogene Finanzierung" nennt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das. Zusätzlich schröpft das Gesundheitskartell die Bevölkerung durch mehr Zuzahlung für Medikamente und das Erheben von Eintrittsgeldern für Arzt-Praxen. Das Geld für die so genannten versicherungsfremden Leistungen treibt sie via Erhöhung der Tabak- Steuer von den RaucherInnen ein. Und das ist erst der Anfang. Nach Meinung des AOK-Vorsitzenden Hans Jürgen Ahrens können die Beiträge ohne weitere Leistungskürzungen kaum deutlich zurückgehen. Selbst Oberreformer Horst Seehofer räumt dem Gemeinschaftsmach-
werk nur eine Halbwertzeit von fünf Jahren ein. Dann geht es richtig los. Ob mit "Bürgerversicherung", Kopf-Pauschale oder einem anderen Instrument, die PolitikerInnen dürften mittels Einbeziehung von Beamten und Selbstständigen die Finanzierung der Gesundheitskosten "auf eine breitere Basis" stellen, was nur heißt, den Anteil der Konzerne daran zu schmälern.

Wie andere Zumutungen auch, rechtfertigt die Große Koaltion für die großen Konzerne sie mit dem Zauberwort "Arbeitsplätze". Die aber wird die Gesundheitsreform genauso wenig schaffen wie die Steuerreform mit ihren Milliarden-Geschenken an die Unternehmen. Das könnten lediglich veränderte konjunkturelle Bedingungen. BAYER-Chef Werner Wenning weiß das, spricht es aber gerade nur so offen aus, dass er das willkommene Schnäppchen "sinkende Lohnnebenkosten" nicht wieder hergeben muss. Auf die Frage der Rheinischen Post: "Würden Sie mehr Beschäftigte einstellen, wenn die Lohnnebenkosten sinken?", antwortet er: "Die Voraussetzung dafür ist nachhaltiges Wachstum". Also nein.

Auf das Schnäppchen war schon sein Amtsvorgänger Manfred Schneider scharf. Vor zwei Jahren schwang er im Spiegel die gesundheitspolitische Kahlschlagskeule: "Wir können das Gesundheitssystem so nicht weiterfahren. Jeder ist bei der Kasko-Versicherung für sein Auto zur Selbstbeteiligung bereit. Warum nicht auch im Gesundheitssystem? Wir müssen den Leistungskatalog der Pflicht-Versicherung radikal zusammenstreichen. Sonst laufen die Ausgaben davon, und auf die Pharma-Industrie wird dreingeschlagen". Diese Anregung nahm die "Initiative Vitale Gesellschaft", von den Bundesverbänden der Chemie-, Ernährungs- und Medizintechnik- Industrie rechtzeitig zu den Vorbereitungen der Gesundheitsreform auf der politischen Ebene gegründet, gerne auf. Bei der Vorstellung der Initiative in Berlin schlug BDI-Präsident Michael "Rocky" Rugowski dreist vor, die Preise für die Krankenversicherungen nach dem Vorbild der Autoversicherungen den freien Kräften des Marktes zu überlassen. Er plädierte für eine völlige Deregulierung der Daseinsfürsorge. Einer Reregulierung des Kostentreibers "Pillenmarkt" durch eine nutzlose Präparate von der Erstattungspflicht der Kassen ausnehmende Positiv-Liste konnte er dagegen erwartungsgemäß nichts abgewinnen.

Diese Positiv-Liste hätte durch eine Reduzierung der Pillen-Flut von 40.000 auf 20.000 Präparate Einsparungen in Höhe von vier Milliarden Euro ermöglicht. Überdies hätte sie die Qualität der medizinischen Versorgung verbessert. Die Behandlung von DiabetikerInnen hätte beispielsweise davon profitiert, dass die Krankenkassen nicht mehr für BAYERs GLUCOBAY aufkommen, das nach Meinung des Pharmakologen Gerd Glaeske "gerade mal so wirksam ist wie Müsli". Aber der Leverkusener Chemie-Multi setzte alles daran, es nicht so weit kommen zu lassen. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Pläne nahm BAYERs "Gesundheitspolitiker" Rolf Reher die Arbeit auf. Als ehemaliger Kohl-Referent und AOK-Bundesvorständler verfügt er in Berlin über beste Verbindungen.  Bewehrt mit rasch bei korrupten MedizinerInnen bestellten Expertisen, die mit GLUCOBAY ein "neues Kapitel" in der Diabetes-Therapie beginnen sehen, ging er antichambrieren. Viele Mitglieder des Gesundheitsausschusses knöpfte er sich persönlich vor. Die "gravierenden Folgen für eines der letzten forschenden deutschen Pharma-Unternehmens" ausmalend, beschwor er sie, GLUCOBAY von der Liste zu nehmen. Hilfreich zur Seite stand ihm dabei die berüchtigste Lobbyistin der Bundesrepublik, Cornelia Yzer, die acht Jahre in Diensten von BAYER stand, ehe sie als Hauptgeschäftsführerin zum "Verband der Forschenden Arzneimittel- Hersteller" wechselte. Auch der Lieblingsgewerkschaftler der Konzerne, IG BCE-Chef und BAYER-Aufsichtsrat Hubertus Schmoldt, verwendete sich für die Pharma-Industrie. Als er von dem Vorhaben Ulla Schmidts erfuhr, die Liste per Bundesgesetz einzuführen, ohne sie dem Bundesrat zur Abstimmung vorzulegen, mobilisierte er seine Verbandsange-
hörigen. "Jetzt stehen wieder andauernd die Betriebsräte bei den Kollegen aus den Wahlkreisen auf der Matte, wo Firmen betroffen sind", stöhnte bald darauf der Gesundheitsausschuss-Vorsitzende Klaus Kirschner (SPD). Auch der federführend an der Erstellung der Positiv- Liste beteiligte Pharmakologe Ulrich Schwabe klagte über den Druck in Sachen GLUCOBAY: "BAYER macht einen Riesen-Krawall". "Kaum eine Sitzungswoche vergeht, in der nicht Abgeordnete im Bundes- und Landtag in der gleichen Angelegenheit Besuche und Anrufe von Konzern-Vertretern bekommen", berichtete der Spiegel. Und das Extrem-Lobbying zeigte Wirkung. Mit dem Listen des BAYER- Diabetikums "steuern wir voll auf Kollisionskurs", bekam es ein Gesundheitspolitiker mit der Angst zu tun. Einstweilen bekräftigte der Bundeskanzler noch, nicht vom Weg abweichen zu wollen. Die Reformen müssten kommen, auch wenn das "meinen Freunden von der Chemie- Gewerkschaft nicht gefällt", so Schröder.

Aber schlussendlich kamen sie dann nicht. Damit erwies sich die Positiv-Liste abermals als gesundheitspolitischer Rohr-Krepierer. Schon die Schmidt-VorgängerInnen Andrea Fischer und Horst Seehofer waren mit dem Projekt gescheitert. Seehofers Staatssekretär Baldur Wagner trat sogar den Gang nach Canossa an und überreichte dem damaligen Pharmaverbandspräsidenten Hans-Rüdiger Vogel eine zerschredderte Positiv-Liste als Geburtstagsgeschenk.

Mit dem abermaligen Verzicht auf die Liste schrumpfte der Anteil der Pillen-Produzenten am 23 Milliarden Euro schweren Spar-Paket auf nicht mehr als eine Milliarde Euro. Zum einen mochte die Politik die offensichtlichste Geldschneiderei von BAYER & Co., sich mittels minimalster Wirkstoff-Variationen eine Patent-Verlängerung und damit auch eine Wucherpreis-Verlängerung zu erschleichen, nicht länger dulden. So genannte Schein-Innovationen bezieht sie künftig in die Festpreis-Regelung mit ein. Aber da die Pharma-Riesen in der Regel über Betriebskrankenkassen verfügen, tut sich ihnen ein Schlupfloch auf. "In der Selbstverwaltung sind die Betriebskrankenkassen für Festpreise zuständig, da werden die Pharma-Konzerne über die eigenen Kassen Druck beim Verband machen", prophezeit der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. Zum anderen müssen sich die Konzerne zu moderaten Preis-Senkungen bequemen.

Sie können diese Belastungen, die für BAYER laut Angaben von Wenning im zweistelligen Millionen-Bereich liegen, spielend verkraften, haben sie in den letzten Jahren doch kräftig dazuverdient: Die Ausgaben der Kassen für Medikamente stiegen von 14,6 Milliarden im Jahr 1992 auf 23,4 Milliarden bis 2002. Und das ständig auswachsende Pillen- Sortiment kommt nicht nur teuer. Da sich unter ihnen unzählige wirkungslose Präparate tummeln, hilft viel auch eher wenig. Deshalb sollte ursprünglich ein unabhängiges Medizin-Institut die Qualität der Arzneien kontrollieren. Die große Gesundheitskoalition wickelte es jedoch zusammen mit der Positiv-Liste ab. Nicht zuletzt der LIPOBAY- Skandal mit seinen über 100 Toten hat den Anstoß zu den entsprechenden Plänen gegeben, machte er doch deutlich, wie notwendig eine systematische Überprüfung von Arzneien auch nach deren Zulassung ist. Der Pharma-GAU enthüllte noch eine andere dunkle Seite der Medikamenten-Branche, in die Ulla Schmidt ursprünglich ebenfalls Licht bringen wollte: die windigen Vermarktungsstrategien.
So hat der Leverkusener Chemie-Multi den Cholesterin-Senker trotz Besorgnis erregender interner Studie mit allen Mitteln in den Markt gepusht. Die Pharma-Drücker von BAYER gingen den MedizinerInnen unter anderem mit dem Versprechen von Orient-Express-Reisen beim Griff zum Rezept-Block zur Hand. Das wäre ein Fall für den Korruptionsbeauftragten gewesen, aber in der Gesetzes-Vorlage tauchte ein solcher Posten nicht mehr auf. Auf eine entsprechende Nachfrage eines Journalisten antwortete Ulla Schmidt lapidar: "Der ist dem Kompromiss zum Opfer gefallen".

Übrig blieb unterm Strich nur eine gigantische Umverteilung der Lasten von oben nach unten. Zu allem Überfluss steckt dahinter nicht - wie immer wieder behauptet - die pure Notwendigkeit, sondern politischer Wille. Nur wer in seiner Rechnung die absolut gestiegenen Kosten für die medizinische Versorgung nicht in Relation zum BIP setzt, kommt auf ein Katastrophen-Ergebnis. Wer dies hingegen tut, sieht keinen Handlungsbedarf, trotz der viel beschworenen Veränderung in der Altersstruktur der Bundesrepublik. Der enorme Produktivitätsfortschritt hat nämlich zur Folge, dass die in der Tat abnehmende Zahl der abhängig Beschäftigten immer noch genug gesellschaftlichen Reichtum erwirtschaftet, um eine angemessene Gesundheitsversorgung der Allgemeinheit sicherzustellen - theoretisch zumindest. In der Praxis privatisieren BAYER & Co. diesen gesellschaftlichen Reichtum allerdings in zunehmendem Maße. Hier und nur hier besteht wirklich Reform-Bedarf.