SWB 03/97

Eine strategische Investition gerät ins Wanken

Widerstand gegen geplantes Plaste-Werk ein Alptraum für BAYER

In der Nacht zum 1. Juli 1997 platzt bei BAYER in Dormagen ein Rohr (siehe Bericht in diesem Heft). Über 12 Tonnen hochgiftiges TDA gelangen in die Umwelt. Das rheinische Werk gilt als mustergültige "Referenzanlage" für ein gigantisches neues Werk in Taiwan. Doch hier formiert sich Widerstand. Diplom-Ingenieur Uwe Friedrich vom Vorstand der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) war vor Ort und hat mit landesweit beachteten Auftritten bei Vorträgen und Fernsehauftritten mit dazu beigetragen, daß die "strategische Investition" nun ins Wanken gerät.

In Dormagen handelt es sich in etwa um die gleiche Anlage, wie sie in Taiwan errichtet werden soll. Es geht um ein Zwischenprodukt zur Herstellung von Polyurethan-Schäumen auf Basis von TDA und dem extrem risikoreichen Phosgen - als chemischer Kampfstoff im Ersten Weltkrieg eingesetzt - mit dem Namen TDI (Toluylendiisocyanat). Der Dormagener Unfall erhält unmittelbare Bedeutung für eine aktuelle Großinvestition des BAYER-Konzerns in Taiwan, insbesondere deshalb, weil die angeblich mustergültige Anlage erst Ende 1996 eingeweiht wurde, also den "neuesten Stand der Technik" darstellt. In Taiwan hat BAYER bisher immer mit dem "unfallfreien Betrieb dieser Technologie in deutschen Werken" argumentiert.

Der Dormagener Unfall im Bereich der "Schaumstoffproduktion" mit Austritt von über zwölf Tonnen der krebserregenden Chemiekalie Toluylendiamin (TDA) ist Munition in den Händen der taiwanesischen KritikerInnen, die in ihren Broschüren ebenfalls auf die Katastrophe von Bhopal verweisen. Sowohl in Deutschland als auch in Fernost bemängeln KritikerInnen insbesondere die unzureichende Informationspolitik des BAYER-Konzerns.

Chlorfreie Alternative bei BAYER unbekannt
Als Gast der in Taiwan vor Ort aktiven Bürgerinitiative ANTI-BAYER ACTION UNION (ABAU) hatte ich Gelegenheit, Gespräche vor Ort zu führen, Politikern und Medien die Erfahrungen mit der Betriebssicherheit, Störanfälligkeit und Genehmigungspraxis deutscher TDI-Anlagen vor Augen zu führen und BAYER vor Ort mit neuen technologischen Erkenntnissen zu konfrontieren. So war den Vertretern des Weltkonzerns offensichtlich nicht bekannt, daß bereits mehrere chlorfreie und damit deutlich risikoärmere Verfahren zur TDI-Produktion entwickelt, erprobt sind und sich seit mehr als einem Jahr auch im großtechnischen Einsatz befinden. Die Entwickler dieser Verfahren sind die deutsche Firma ARCO sowie die japanischen Konzerne MITSUI TOATSU und MITSUBISHI.

Zum Zeitpunkt meines Besuchs hatte die örtliche BAYER-Tochter die ersten Hürden der Umweltverträglichkeitsprüfung genommen: Eine zweibändige Fleißarbeit wurde als Planwerk ohne Nachbesserungen angenommen und ein sogenanntes Scope Meeting legte den weiteren Verfahrensablauf bis zum Spätsommer diesen Jahres fest. BAYER war zuversichtlich, daß der zuständige Umweltausschuß der Provinzver-
sammlung bis dahin positiv entscheiden würde. Noch am 1. Mai diesen Jahres wurde dies in den China News verlautbart. Doch die Ereignisse des 16. Mai und der Folgetage machten den BAYER-Verantwortlichen einen Strich durch die Rechnung: Für diesen Tag hatte die ANTI-BAYER ACTION UNION in Zusammenarbeit mit der Democratic Progressive Party und der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN zu einer Internationalen Pressekonferenz geladen, an der vier nationale Fernsehstationen und Vertreter von zehn regionalen und überregionalen Printmedien teilnahmen. BAYER reagierte umgehend und rief ein eigenes Presse-Meeting am gleichen Tag ein - exakt eine Stunde später als die Konkurrenzveranstaltung. Doch die geplante Gegenreaktion auf Äußerungen der Projektkritiker, auf die neuen Erkenntnisse und Argumente mißlang. Chlorfreie Verfahrenstechnologien zur TDI- Herstellung waren BAYER nicht bekannt; oder wenn doch, dann "nur im Labormaßstab". Die von den KritikerInnen nachgewiesenen Versäum-
nisse und Schwachstellen im Abwassertechnischen Konzept der Anlage wurden nicht zur Kenntnis genommen; einzelne Meinungsäußerungen in alter Manier als kommunistische Propaganda abgetan. Kein Wunder, daß der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von BAYER FAR EAST POLYURETHANE, ein gewisser Herr Chen, während eines live gesendeten Streitgesprächs in der Late Night Show des größten Kabel-TV-Kanals in Taiwan am selben Abend ins Stottern geriet, als er wiederum zu diesen unangenehmen Fragen Stellung nehmen mußte.

Die Gespräche mit den Bürgermeistern der vier größten Gemeinden (mit jeweils ca. 50.000 Einwohnern) in Taichung County, mit PolitikerInnen, Interessenverbänden sowie die Teilnahme auf AnwohnerInnen- und StudentInnen-Meetings an den folgenden Tagen waren vom positiven Verlauf der Pressearbeit am 16. Mai vorgezeichnet. BAYER war gegenüber den neuen Argumenten erneut in die Defensive geraten. Die in den Monaten davor möglicherweise "erarbeitete" Akzeptanz war endgültig dahin. Da die ANTI-BAYER ACTION UNION befugt ist, eigene Stellungnahmen in den Prozeß der Umweltverträglichkeitsprüfung einzubringen - also (wie hierzulande kaum denkbar) als "Träger öffentlicher Belange" behandelt wird - wurden die neuen Erkentnisse und Argumente umgehend in die Genehmigungsmaschinerie eingebracht. Der Versuch von BAYER, auf öffentlichen Versammlungen einen Stimmungsumschwung zu erwirken, ging gründlich daneben. Diese Versammlungen - geschützt durch ein riesiges Polizeiaufgebot - waren eher Forum des Protestes der Betroffenen.

Bittere Pillen der süßen Bilanzen
Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN begleitet seit 1978 aktiv und kritisch die Geschäftspolitik von BAYER und tritt alljährlich im Bündnis mit weiteren Kritischen Aktionären auf der Hauptversammlung des Konzerns in Köln auf, um "die bitteren Pillen der süßen Bilanzen" zu präsentieren und Betroffenen die Möglichkeit der Wortmeldung gegenüber dem Konzernvorstand einzuräumen. Wie berichtet, trug auf der diesjährigen BAYER-Hauptversammlung am 30. April Frau Uie-Liang Liou als Vertreterin der ABAU die Fragen und Forderungen des taiwanesischen Aktionsbündnisses vor. Die Antwort des sichtlich frustrierten BAYER-Vorstandsvorsitzenden Schneider: "Alles unwahr!"... Im übrigen seien die Demonstrationen (SWB berichtete mehrfach) und parlamentarischen Initiativen in Taiwan "von der COORDINATION gesteuert".

Herr Schneider hat Grund für seine Unbeherrschtheit: Am 19. Juni berichtete das Magazin Wirtschaftswoche unter dem Titel "Taiwan- Projekt auf Eis" darüber, daß sich das Milliardenprojekt des Baus einer TDI-Anlage langsam aber sicher zum "Alptraum" des BAYER-Chefs entwickelt: Spätestens im vierten Quartal 1996 wollte der Konzern mit dem Bau dieser weltweit größten Anlage (Kapazität ca. 100.000 Jahrestonnen) in der taiwanesischen Hafenstadt Taichung beginnen, um von hier aus die gesamte ostasiatische Region mit Kunststoff-Vorpro-
dukten zu beliefern. Doch das Vorhaben, das schon in der ersten Ausbaustufe Investitionen in Höhe von 450 Millionen Mark erforderte, liegt auf Eis. Erst ein Drittel des Werksgeländes im Hafen von Taichung/Wu-Shi ist aufgeschüttet und planiert. Der Planungs- und Genehmigungsprozeß verzögert sich durch den lokalen Widerstand von AnwohnerInnen, Gewerbetreibenden und PolitikerInnen. Das zuständige Industrial Development and Investment Center (IDIC), eine Agentur des nationalen Wirtschaftsministeriums in Taiwan, rechnet selbst für dieses Jahr nicht mehr mit einem Baubeginn für das BAYER-Projekt. Die LokalpolitikerInnen in Taichung County, dem unmittelbar an das Hafengebiet angerenzenden Distrikt, wollen vor den Kommunalwahlen im Dezember keine Genehmigung erteilen. Und dies obwohl Taiwans Zentralregierung schon im Herbst 1996 grünes Licht für das Projekt gegeben hatte. BAYER hatte offensichtlich zu sehr auf die nicht- öffentlichen Verhandlungen mit Zentralregierung und der alten Staatspartei Guomindang (KMT) gesetzt und den lokalen Widerstand, unterstützt durch die einflußreiche größte Oppositionspartei DPP (Democratic Progressive Party), völlig unterschätzt. Durch Projekt-
management und Verhandlungsführung nach deutscher Gutsherrenart gerät so eine für den Konzern dringliche strategische Investition im asiatischen Raum ins Wanken.

Die Geschichte dieses Projektes ist aber auch die Geschichte des Widerstands der Betroffenen; derjenigen vor Ort und ihrer solidarischen UnterstützerInnen am Konzernsitz in Deutschland. Sie zeigt, daß auch in der heutigen Epoche des brutalen Neoliberalismus, Erfolge gegen global angelegte Konzernentscheidungen möglich sind.

Zusamenarbeit "wie geschmiert"
Die TDI-Produktion ist ein Hauptstrang der berüchtigten und fachlich umstrittenen Chlorchemie. Als Zwischenprodukt in der Kunststoff- und Pharmaproduktion verwendet, werden bei seiner Herstellung gefährliche Vorprodukte wie Phosgen und gesundheitsschädigende wie TDA eingesetzt. Das Risikopotential dieser Produktlinie wird spätestens nach der Chemie-Katastrophe von Bhopal - die durch TDI verwandte Isocyanate hervorgerufen wurde - als besonders hoch eingeschätzt. BAYER stellt Isocyanate außer an deutschen Standorten auch in den USA und in Brasilien her. Dort ereignete sich im Werk Belford Roxo bei Rio de Janeiro 1992 ein schwerer Unfall mit Todesfolge. 1986 hatte bereits ein Werksfeuerwehrmann als Gast der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) auf der BAYER-Aktionärsversammlung auf fehlende Katastrophenpläne in der brasilianischen Niederlassung hingewiesen. Doch hatte dies offensichtlich keinerlei Auswirkung auf Bau und Genehmigung der neuen BAYER-Anlage in Taiwan. Die Zusammenarbeit zwischen der dortigen BAYER-Tochter BAYER FAR EAST POLYURETHANE und den Genehmigungsbehörden auf Seiten der Zentralregierung verlief wie geschmiert, denn schon nach wenigen Tagen wurde das brisante Projekt durchgewunken. Alles schien ganz einfach; die Investitionssumme von über einer Milliarde Mark ließ offensichtlich alle Bedenken verblassen. BAYER kümmerte sich anfänglich kaum um öffentliche Information oder Kommunikation und begann mit solchen Bemühungen erst, als es nach Projektbeginn Proteste hagelte.

Nach einer Störfallserie in der taiwanesischen Chemie-Industrie im Laufe des Jahres 1996 sank das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Vermögen der Zentralregierung und in das neue BAYER-Projekt auf den Nullpunkt, zumal die Chemieindustrie im dichtbesiedelten Taiwan besonders auf dem Prüfstand steht. Gleichzeitig wurde bekannt, daß BAYER ein ungewöhnlich langer Pachtvertrag von 125 Jahren, extrem niedrige Bodenpreise und sieben Jahre Gewerbesteuerfreiheit zuerkannt worden waren, was manche allzusehr an die erniedrigenden ausländischen Konzessionen im neunzehnten Jahrhundert erinnerte. Im Oktober 1996 stimmte dann fast die Hälfte aller Abgeordneten der zuständigen Provinzversammlung dafür, das BAYER-Projekt von drei Voraussetzungen abhängig zu machen:

1. vollständige Durchführung der gesetzlich vorgeschriebenen Prozedur
   zur Einschätzung der Umweltverträglichkeit
2. ein fairer und angemessener Pachtvertrag und
3. die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung.

Im Januar 1997 wurde eine dreistufige - auf sechs Monate angelegte - Umweltverträglichkeitsprüfung für das Projekt beschlossen. BAYER hatte zwei Monate Zeit, dezidierte Planungsunterlagen einzureichen. Diese Entwicklung war nur dadurch möglich geworden, daß sich im Sommer letzten Jahres die Bürgerinitiative ANTI-BAYER ACTION UNION (ABAU) gegründet hatte, die regen Zulauf von AnwohnerInnen, StudentInnen und AnhängerInnen der Oppositionspartei DPP erhält. Die ABAU setzt auf intensive Kontakte mit den örtlichen Entscheidern: Bürgermeister, Kommunalparlamente, lokale politische Parteien, Gewerbevereine und weitere Interessengruppen. Hintergrund der Entscheidung der Provinz-
versammlung war eine während der Sitzung in Taichung stattfindende Demonstration von 6.000 AnwohnerInnen, die ihren Protest lautstark deutlich machten und kurz davor waren, die Sitzung zu stürmen.

BAYER in der Defensive
Derweil intensivierte auch die örtliche BAYER-Tochter ihre Bemühungen um Durchsetzung des Projektes: Wie ich in Gesprächen vor Ort erfuhr, wurde unmißverständlich Druck auf Politiker ausgeübet, auch von finanziellen Zuwendungen ist die Rede. JournalistInnen wurden nach Deutschland eingeladen, sogenannte Opinion leader des örtlichen Widerstands zu Hause unaufgefordert besucht. In der Öffentlichkeit wurde die Protestbewegung als "kommunistisch unterwandert" diffamiert, ein Vorwurf, der auch heute noch vor dem Hintergrund der chinesischen Geschichte und des aktuellen Konflikts mit der Volksrepublik Wirkung zeigt.

Nicht unwichtig für den Lauf der Dinge sind die im Dezember stattfindenden Kommunalwahlen. Neben den lokalen Parlamenten wird ein Landrat direkt gewählt. Der dem BAYER-Projekt kritisch gegenüber-
stehende Kandidat der Democratic Progressive Party, Herr Liao, hat gute Chancen, gewählt zu werden. Dies könnte eine Vorentscheidung gegen das Projekt sein. Obwohl der Landrat nicht direkt in den Entscheidungsprozeß eingreift, wäre die Wahl eines Kritikers jedoch Ausdruck der Ablehnung breiter Kreise in der Region. Selbst die Provinzversammlung wird sich einer solchen Willensentscheidung nicht entgegenstellen. Die Aufschiebung eines bindenden Votums auf das Jahr 1998 bringt dies zum Ausdruck.

Aus all dem ergibt sich offenbar die Erkenntnis: Wenn ein global agierender Konzern am Ort der Investition lediglich eine lokale Größe darstellt, sind die Chancen, örtliche Interessen auch durchzusetzen, sehr aussichtsreich. Andererseits: Wie schwer ist dann die aufreibende und langjährige konzernkritische Arbeit im Stammland und am Hauptsitz eines Multis. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN hat sich jedenfalls bislang nicht kleinkriegen lassen.