SWB 02/98

Nahrungsmittel aus dem BAYER-Labor

Aus deutschen Chemie-Labors frisch auf den Tisch

Die industrielle Lebensmittelproduktion ist ohne diverse Zutaten aus den Chemie-Labors undenkbar. Besonders die Geschmacksingeneure entfalten einige Kreativität. Sie gewinnen Erdbeeraroma aus Sägespäne, Vanillin aus den Abfällen der Papier-Industrie und Fleischextrakt aus Klärschlamm. Einer der Branchenführer: Die BAYER-Tochter HAARMANN & REIMER.

Von Jan Pehrke

75 % aller Lebensmittel stammen aus industrieller Fertigung. Was von außen unscheinbar wie Brot, Wurst oder Jogurt aussieht, ist von innen ein High-Tech-Konglomerat aus Ersatzstoffen, künstlichen Aromen, Bindemitteln, Enzymen und Farb- und Konservierungsstoffen. "Mit so einer Zwiebel kann KNORR doch gar nicht arbeiten", ereifert sich ein HAARMANN & REIMER-Mitarbeiter. Sie ist, anders als die hauseigenen Imitate, die eine Werbe-Broschüre anpreist, nicht "in gleichbleibender Qualität, zu jeder Zeit, in beliebiger Menge und zu vernünftigen Preisen verfügbar". Sondern mal groß, mal klein, von unterschiedlichem Geschmack und je nach Ernte-Ertrag mal teurer oder sehr viel teurer als die Aroma-Doublette. Für eine Tütensuppen-Produktion am Fließband bietet eine echte Zwiebel entschieden zuwenig Planungssicherheit.

15.000 Tonnen an Geschmackstoffen, die für 15 Millionen Tonnen Lebensmittel reichen, schlägt die Branche pro Jahr um.
HAARMANN & REIMER hat, neben Parfümölen, Duftstoffen und diversen Zusatzstoffen zur Lebensmittel-Herstellung, über 7.000 Geschmäcker im Angebot. Seit es Wilhelm Haarmann 1874 gelang, Vanille synthetisch nachzubauen, und er damit den Grundstein für den Aroma-Multi legte, erweiterte sich die Produkt-Palette stetig. Und die einzelnen Stoffe bieten die unterschiedlichsten Anwendungsmöglich-
keiten. Zitronensäure beispielsweise sorgt für die Bißfestigkeit von Obst, für das Spritzige in der Cola, für das Streichzarte von Schmelzkäse und bindet Schwermetalle im Wein. Blei- und Zinkrückstände können so sein kräftiges Rot nicht eintrüben. Ein ähnlicher Tausendsassa ist Vanillin. Es findet sich in Schweinsleberwurst, Baby-Nahrung, Süßigkeiten und verlängert die Haltbarkeit von Lebensmitteln.

"Modernste Biotechnik"
Enzyme von Mikroorganismen produzieren einen Großteil der Substanzen. Diese Eiweiße, die bestimmte chemische Reaktionen auslösen, gewinnen in einem Fermentation genannten Prozeß aus Mikroben-Kulturen die Grundstoffe der Lebensmittel-Industrie. Zitronensäure etwa wird aus den Mikroben des Schimmelpilzes Aspergillus Niger fermentiert.

Die Fermentation kommt im Herstellungsverfahren von einem Drittel aller Lebensmittel zur Anwendung. Dabei spielt zunehmend auch "modernste Biotechnik" eine Rolle, wie das Firmen-Info von HAARMANN & REIMER stolz verkündet. Spezielle Gene beschleunigen die Reaktionszeit der Kleinstlebewesen. Andere sorgen als Träger entsprechender Erbsub-
stanz für ""natürlichen Geschmack". Legte der gelungene synthetische Nachbau von Stoffen wie Vanille den Grundstein der Lebensmittelzusatz-
stoffe-Industrie, so ist es ihr nun mittels der Gentechnik gelungen, die Natur selber in den Herstellungsprozeß einzubinden und beliebig zu reproduzieren.

Risiken und Nebenwirkungen
In den biotechnischen Verfahren werden stets Antibiotika eingesetzt. Bei der konventionellen Fermentation verhindet Penicillin das Wuchern unerwünschter Bakterien-Kulturen im Nährboden. Die gentechnische Methode arbeitet mit Antibiotika-resistenten Genen, die an das zu duplizierende Erbmaterial gekoppelt sind. Sie trotzen dem Antibiotika- Beschuß und zeigen so zweifelsfrei an, ob die DNA-Übertragung geglückt ist. Mit dem Verzehr der entsprechend hergestellten Nahrung gelangen Rückstände davon in den menschlichen Organismus. Gemeinsam mit den ebenfalls Antibiotika-gesättigten Produkten der Massentierhaltung sorgen sie dafür, daß sich immer mehr Antibiotika-Resistenzen herausbilden. Die Folge: schon besiegt geglaubte Infektionskrankheiten stellen wieder eine Bedrohung dar.

Die größte Gesundheitsgefahr, die von der industriellen Nahrungsmittel-Produktion ausgeht, liegt jedoch im Auslösen von Lebensmittel-Allergien. Nach vorsichtigen Schätzungen sind 5 % der BundesbürgerInnen betroffen; der Bundesverband der Betriebskranken-
kassen setzt die Quote der Gefährdeten sogar bei 15 % an. Für den Anstieg der Zahlen machen sowohl der Ernährungsbericht der Bundesregierung von 1992 als auch die Welternährungsorganisation FAO die Lebensmittel-Zusatzstoffe und die Art ihrer Herstellung verantwortlich. "Je mehr Enzyme, desto mehr Allergien", so lautet die Grundregel der MedizinerInnen. Und Vanillin, HAARMANN & REIMERs Prototyp synthetischer Zusatzstoffe, gilt dem Allergologen Dr. Michael Häbele als eines der Haupt-Allergene.

Besonders gefährlich sind die versteckten Allergie-Auslöser. Da selbst die unscheinbarsten Lebensmittel eine unüberschaubare Reihe von Ausgangsmaterialien enthalten, ist es dem Allergiker unmöglich, sich umfassend zu wappnen. Eine englische Nuß-Allergikerin erlitt einen tödlichen Schock, als sie ein Zitronen-Pie aß, in dem Nuß-Fragmente verarbeitet worden waren. Ein Biß in einen Hamburger hätte ähnliche Folgen haben können. Auch in dem Junk-Fraß befinden sich Nuß-Spuren.

Eine Experten-Kommission des Straßburger Europarats stufte lediglich 391 von 2176 Geschmacksstoffen als unbedenklich ein. 180 Aromen hielt das Gremium für so gesundheitsgefährdend, daß sie von der Verwendung abriet. Stoffe wie Allylalkoholester können Krebs verursachen; Phosphate in Babynahrung haben in Japan schon zu Massenvergiftungen geführt.

Der modernen Lebensmittelindustrie sind Grundstoffe wie Eier, Milch und Zucker zu kostbar, als daß sich mit ihnen rentabel wirtschaften ließe. Also ersetzen die Lebensmittelchemiker sie durch billigere Surrogate. Da der Fließband-Fraß zu wenig Nährstoffe enthält, kann sich paradoxerweise in den reichsten Ländern der Erde ein Phänomen wie die Mangelernährung herausbilden. In der Schweiz kam eine Studie zu dem Ergebnis, daß ein Drittel aller SchülerInnen an Vitamin- und Mineralstoffmangel leidet. Und durch eine Kalzium-Unterversorgung droht die Knochenschwund-Krankheit Osteoporose - bisher älteren Menschen vorbehalten - zu einer neuen Kinderkrankheit zu werden.

Etikettenschwindel
Wollte man alle Zusatzstoffe auf den Lebensmitteln deklarieren, so müßte jeder Brühwürfel eine Packungsbeilage haben. Statt dessen einigten sich Politik und Wirtschaft auf windige Sprachregelungen, die mehr verschleiern als offenlegen. Alles, was der Natur synthetisch nachempfunden ist, gilt als natürlich. Und existiert eigentlich gar nicht: als sogenannte "Nichtzusatzstoffe" oder "Nichtzutaten" brauchen sie keine Zulassungsverfahren über sich ergehen zu lassen. "Naturidentisch" - also gleich und doch nicht gleich - heißt das dann auf den Verpackungen. Hinter der Bezeichnung "natürliches Aroma" kann sich auch gentech-
nisch hergestelltes verbergen. Denn unter die Kennzeichnungspflicht der "Novel Food-Verordnung" fallen Zusatzstoffe und Aromen nicht. Sie gilt nur für direkt verarbeitetes Gen-Food und wird selbst da hintergangen.

Die Food-Lobby
Für die globale Lebensmittelsicherheit ist der "Codex Alimentarius" zuständig, eine Organisation der UNO. Seit der Liberalisierung des Welthandels im Zuge der Globalisierung sind seine Beschlüsse weltweit bindend, kein Land kann mehr in Eigenregie strengere Vorschriften erlassen. Klar, daß sich die LobbyistInnen der Food-Multi bei den Zusammenkünften des Codex tummeln. Und bisher hatten sie leichtes Spiel. Sowohl die Positivliste für Zusatzstoffe als auch das Vorhaben, strengere toxikologische Untersuchungen bindend zu machen, kam durch ihre fürsorgliche Belagerung zu Fall. Ein Vorstoß der skandinavischen Länder, Schutzbestimmungen für Allergiker zu erlassen, wurde ebenso abgeschmettert wie das Projekt, eine Zusatzstoff-Datenbank für Lebensmittel-Allergiker einzurichten. So ist weiterhin die Bahn frei für schlechtes, billiges, krankmachendes Essen, das die Sinne täuscht und nur den Bilanzen der Food-Multis guttut.

Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN lehnt gentechnisch hergestellte Lebensmittel ab und fordert eine Kennzeichnungspflicht auch für gentechnisch hergestellte Zusatz- und Aromastoffe sowie eine klarere Deklaration von künstlich hergestellten Aromen auf den Verpackungen.

Zitronensäure zu verkaufen
HAARMANN & REIMER will seine Zitronensäure-Produktion abstoßen. Nach den Worten von BAYER-Chef Dr. Manfred Schneider auf der Hauptversammlung gehört es nicht mehr zu den Kern-Aktivitäten des Unternehmens. Der wahre Hintergrund ist aber das Kartell-Verfahren, das in den USA gegen HAARMANN & REIMER wegen illegaler Preisabsprachen im Zitronensäure-Markt angestrengt wurde. Das brachte dem Konzern eine schlechte Presse und verhagelte laut Handelsblatt das Geschäft. Im Falle des Verkaufs würden 1.300 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlieren, kündigte HAARMANN & REIMER-Geschäftsführer Lambert Courth an.