SWB 03/98

Vom BAYER-Forscher zum KZ-Arzt

Dr. Vetter - Bestie von Auschwitz

BAYER-Forscher benutzten die Konzentrationslager als Pharma-Labore. Dort wurden unter grausamsten Bedingungen medizinische Präparate an den Gefangenen ausprobiert, Tausende starben an den Folgen. Einer der Verbrecher im weißen Kittel war der SS-Hauptscharführer und BAYER-Mitarbeiter Dr. Hellmuth Vetter, berüchtigt für seine Fleckfieberversuche in Auschwitz.

Von Volker Rekittke

"Es ist nicht wahr, daß die deutschen Großindustriellen sich erst im letzten Augenblick und halb gezwungen dem Nationalsozialismus angeschlossen haben. Sie waren von Anfang an seine begeisterten Förderer. Die Unterstützung seitens der deutschen Schwerindustrie und Hochfinanz ermöglichte den Nationalsozialisten die Machtergreifung. Die Umstellung der deutschen Wirtschaft auf die Kriegswirtschaft und die fieberhafte Rüstung zum Angriffskrieg erfolgte unter der unmittelbaren Leitung der deutschen Industriellen." Mit diesen Worten prangerte der US-Senator Kilgore, Leiter des Senatsuntersuchungsausschusses über das NS-Regime, Ende 1945 die direkte Verantwortung der deutschen Konzernherren für die Verbrechen des deutschen Faschismus an. Aber diese Verbrechen wurden nicht nur von den Herren in den Vorstands-
etagen geplant und angewiesen. Unzählige Helfer (und - seltener - Helferinnen) waren notwendig, um das äußerst profitträchtige Geschäft mit Krieg und "Vernichtung durch Arbeit" durchzuführen. Für die Häftlinge in den Konzentrationslagern, an denen grausamste Menschenversuche im Dienste des Kapitals durchgeführt wurden, hatte der Terror Gesichter und Namen.

SS-Arzt und BAYER-Forscher: Dr. Hellmuth Vetter
Eines dieser Gesichter ist das des SS-Hauptscharführers Dr. Hellmuth Vetter, bereits seit 1938 Mitarbeiter des IG FARBEN-Unternehmens BAYER. Sein Anfangsgehalt bei BAYER beträgt 700 Reichsmark (RM), 1944 (zu dieser Zeit testet er I.G.-Präparate in den KZs Auschwitz und Gusen) werden es 1.000 RM sein - der Konzern honoriert die Forschungstätigkeiten seiner Mitarbeiter im KZ-Außendienst nicht schlecht.

Vetter beginnt seine Forschungsarbeiten im VOLKSWAGEN-KZ Arbeitsdorf bei Wolfsburg und wechselt Ende Juli 1941 nach Dachau. Von dort schreibt er seinen KollegInnen in Leverkusen am 4. August: "Seit dem 29.7. abends befinde ich mich hier im Süden des Reiches in einem der größten und besteingerichtetsten K.L. Mit der Unterbringung und meiner Tätigkeit bin ich außerordentlich zufrieden. Die meiner Obhut anvertrauen Patienten betragen etwa 150 an der Zahl. Daß ich mich mit Feuereifer in meine neue Aufgabe hineingestürzt habe, werden Sie sich denken können, zumal mir Gelegenheit gegeben ist, auch unsere neuen Präparate praktisch auszuprobieren. (...) Beim Vergleich mit der jetzt hinter mir liegenden Zeit komme ich mir hier wie im Paradies vor. (...) Man fühlt sich jedenfalls wieder als Mensch und das ist viel wert."

Der Brief wird von zahlreichen BAYER-MitarbeiterInnen gelesen und handschriftlich abgezeichnet. Leverkusen antwortet prompt: "Lieber Herr Vetter! Aus Ihrem Brief ... ersehe ich, daß Sie in Zukunft reichlich Gelegenheit haben werden, unsere Präparate der Sulfonamidreihe, also die PRONTOSIL-Präparate, die ULIRON-Präparate, SULFAPYRIDIN und ELEUDRON, einer eingehenden Prüfung bei bestimmten Indikationen zu unterziehen." Kurz darauf werden größere Mengen Test-Präparate - Tabletten, Puder, Inhalationslösungen und Zäpfchen der im Brief genannten Präparate - nach Dachau geschickt. Versehen mit dem Hinweis, daß das BAYER-Pharma Büro in München bei Bedarf noch größere Mengen nachschicken könne, werden aus Leverkusen Anweisungen zur Erprobung der Mittel an Vetter gegeben: "Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie bei der Behandlung der Pneumonie einen Vergleichsversuch zwischen SULFAPYRIDIN und ELEUDRON [einem Medikament des Konkurrent "CIBA", V.R.] anstellen wollten." Menschenversuche, um Marktvorteile gegenüber den lästigen Pharma-Rivalen zu erlangen - Profit pur.

Bestie von Auschwitz und BAYER-Forscher
Beim BAYER-Schwesterunternehmen HOECHST wird zur Bekämpfung von Fleckfieber das Produkt "Nitroakridinpräparat 3582" entwickelt, von dem man sich einen "Durchbruch" erhofft. Am 19. November 1942 reist KZ-Arzt Vetter nach Leverkusen. Das Besprechungsprotokoll hält fest, daß Vetter zunächst 1.000 Tabletten des Stoffs "3582" an zwanzig Versuchspersonen im KZ Auschwitz ausprobieren soll.

Drei Monate später, im Februar 1943, hat Dr. Vetter in einem Versuch an 50 Häftlingen das HOECHST-Präparat erprobt. Die Ergebnisse sind, nach einer Aktennotiz vom 24. Februar in Leverkusen, "im ganzen genommen ... wertlos." Die Folgen dieses, aus Konzernsicht unbefriedigenden Versuchs sind für die Häftlinge jedenfalls fatal: In 78 Prozent aller Fälle werden die Tabletten wieder erbrochen, 12 Prozent der "Kranken" bleiben während der Behandlungszeit ohne Bewußtsein, bei fast allen kommt es zu einer vorübergehenden Schwächung der Sehkraft und besonders des Gehörs. 15 Menschen, das sind 30 Prozent der "Versuchsobjekte", sterben.

1968, im Prozeß gegen den in Auschwitz praktizierenden Arzt und Massenmörder Mengele, sagt Dr. med. Margita Schwalbova über Vetter aus: "Alle Frauen, welche gebärten, ließ er auch mit den Kindern vergasen. (...) Dr. Vetter verbot, jüdische Patienten ins Revier aufzunehmen, so daß die jüdischen Häftlinge zur Arbeit ausrücken mußten, auch wenn sie schwer krank waren. Wenn sie nicht mehr die Kraft hatten und im Block blieben, wurden sie vergast."

Menschenversuche bis zuletzt
Bis zum allerletzten Kriegstag führt Vetter in verschiedenen KZs, darunter auch im Mauthausen-Außenlager Gusen, Fleckfieber-Versuche an Häftlingen durch. Am 30. Oktober 1945 - ein halbes Jahr nach Kriegsende - stellen die IG FARBEN-Direktoren Dr. Mertens und Dr. Mentzel dem "Herrn Dr. med. Hellmuth Vetter" ein durchaus positives Zeugnis aus: "Herr Dr. Vetter hat seinen Aufgabenkreis mit guter Sachkenntnis und energisch angefaßt. Er befriedigte uns in seinen Leistungen vollkommen." Seine Zeit als KZ-Arzt wird in dem BAYER- Persilschein schnell zu dem obligatorischen "Dienst für's Vaterland" umgelogen: "Am 20. Mai 1941 [also zwei Monate vor Beginn seines ‚Wirkens' im KZ Dachau!, V.R.] wurde Herr Dr. Vetter zur Wehrmacht einberufen." Dort blieb er diesem Zeugnis zufolge bis zum 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des deutschen Faschismus' und seiner Wehrmacht. Über das, was er während dieser angeblichen vier Jahre Wehrmachtszeit getan hat, ist in dem Papier kein Wort zu lesen.

Aus Sicht seiner Opfer liest sich die "Bilanz" dieses Schlächters im Arztkittel freilich etwas anders. Ernst Martin, Häftlingsschreiber beim Standortarzt Mauthausen, berichtet nach dem Krieg: "Dr. Vetter sah von Haus einen Häftling überhaupt nur als Versuchsobjekt an. Bei diesen Versuchen haben unzählige Häftlinge ihr Leben lassen müssen. Dr. Vetter ist dafür verantwortlich, daß die Totenzahlen in Gusen oft die Zahlen vom Hauptlager Mauthausen überschritten haben." Und ein anderer Überlebender sagt aus: "Die SS-Ärzte Dr. Richter und Dr. Vetter mordeten kranke Häftlinge nahezu bis zum letzten Tag der Dauer des Lagers..."

Die Folgen
Die KZs hatten als Labore der Pharma-Industrie und der Wehrmacht gedient. Häftlinge wurden wie Laborratten zu Tode gequält oder lebenslang geschädigt. In dieser Zeit legte die deutsche Pharma-Industrie - auch aufgrund der mit Hilfe mörderischer Menschenversuche gewonnenen Forschungsergebnisse - den Grundstein für eine erfolgreiche Expansion nach 1945. Jede der drei IG FARBEN-Töchter BAYER, HOECHST und BASF ist heute rund zwanzig mal so groß wie die IG-Mutter in ihren besten Zeiten.

Nur wenige der KZ-Mörder vom Schlage Vetters wurden vor Gericht gestellt und für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen, viele konnten untertauchen und (teilweise mit Hilfe des Vatikans oder des US-Militärgeheimdienstes, der ebenfalls Interesse an bestimmten Forschungsergebnissen der Nazis hatte) in's Ausland flüchten. Vetter jedoch hatte Pech. Er wurde, trotz aller Tarnversuche, am 19. August 1947 von einem amerikanischen Militärgericht zum Tode verurteilt und am 2. Februar 1949 hingerichtet.

Was aber geschah nach dem Krieg mit den Auftraggebern von Dr. Vetter und Seinesgleichen, den Herren in den Vorstandsetagen der IG-Farben, bei BAYER in Leverkusen und anderswo? Am 29. Juli 1948 sprach der Militärgerichtshof der Vereinigten Staaten die IG FARBEN- Vorstandsmitglieder Lautenschläger, Mann und Hörlein in diesem Anklagepunkt frei. (Der "Kalte Krieg" hatte gerade begonnen und die Herren wurden wieder gebraucht.) Die Begründung für diesen Freispruch lautete: Die IG FARBEN habe die Versendung von Medikamenten eingestellt, sobald der Verdacht eines gesetz- und standeswidrigen Verhaltens der Ärzte aufgetaucht sei. Tatsache ist: Die Versendung der Präparate - nicht trotz sondern wegen genauer Kenntnis über die Menschenversuche und ihre Auswirkungen - endete nicht einen Tag vor der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus.

Fleckfieberversuche in Buchenwald
Auch in anderen KZs werden grauenvolle medizinische Experimente an Häftlingen durchgeführt. Besonders berüchtigt ist das KZ Buchenwald, wo im Januar 1942 zunächst fünf Häftlinge mit künstlich hergestelltem Fleckfieber-Serum infiziert werden. In den folgenden Monaten werden über 1.000 KZ-Gefangene im Auftrag des in Krakau ansässigen Heeres-Instituts, des Robert-Koch-Instituts und der Behringwerke als "menschliche Meerschweinchen" mißbraucht. Das Versuchsschema sieht dabei fast immer gleich aus: Die Häftlinge werden zunächst gegen Fleckfieber geimpft (oder durch Einnahme von Arzneimitteln "geschützt") und danach angesteckt. Einige Häftlinge dienen ausschließlich als Kontrollpersonen, d.h., sie werden durch Injektionen mit Frischblut von Fleckfieberkranken infiziert, als Kontrollobjekte jedoch nicht gegen Fleckfieber geimpft. Sie stellen einen hohen Anteil der Toten.

Am schlimmsten ergeht es einer weiteren Gruppe: Drei bis fünf Häftlinge werden pro Monat als sogenannte Passagepersonen künstlich angesteckt, um stets "Frischblut" von Fleckfieberkranken zur Verfügung zu haben. Von ihnen sterben fast alle. Von den mehr als 1.000 Versuchspersonen (die Passage-Personen nicht eingerechnet) werden mindestens 250 unmittelbar durch die Versuche umgebracht. Wer überlebt, behält schwerste gesundheitliche Schäden wie Herzschwäche, Gedächtnisverlust oder Lähmungen.

Entschuldigung nur in den USA
(pm) Schmerz und Scham empfinde er für die Verbrechen, die BAYER und das deutsche Volk an den Juden und der gesamten Menschheit begangen haben. Helge Wehmeier, Vorsitzender der amerikanischen BAYER-Sektion findet vor 1800 Zuhörern klare Worte bezüglich der dunklen BAYER-Geschichte - jedoch unverbindlich und nur auf öffentlichen Druck hin. Doch immerhin: zu einer vergleichbaren Aussage kann sich der deutsche BAYER-Vorstand seit 50 Jahren nicht durchringen, schon gar nicht zu einer finanziellen Wiedergutmachung für die überlebenden ZwangsarbeiterInnen.

Vorausgegangen war der öffentlichen Entschuldigung in den USA eine Kontroverse mit Gewerkschaften und jüdischen Organisationen. BAYER wollte eine Ausstellung über den Leidensweg von Anne Frank sowie eine Lesung mit dem KZ-Überlebenden Elie Wiesel unterstützen, ohne dabei jedoch ein Wort über die eigenen Verbrechen zu verlieren. Gewerkschafter aus Pittsburgh, dem Stammsitz der amerikanischen BAYER-Tochter, äußerten daraufhin die Befürchtung, der Konzern wolle die Veranstaltungen allein aus Marketing-Gründen finanzieren und von der eigenen historischen Rolle ablenken. Elie Wiesel sagte die Lesung ab, als er von der IG FARBEN-connection erfuhr.

Um ein PR-Desaster zu vermeiden, setzte sich BAYER-Chef Wehmeier persönlich mit der American Jewish Federation und Elie Wiesel in Verbindung und bot eine öffentliche Entschuldigung an; der Nobelpreisträger Wiesel sagte daraufhin sein Kommen zu. Nach der Veranstaltung äußerten die Kritiker Genugtuung über das deutliche Schuldeingeständnis, wiesen jedoch darauf hin, daß die Opfer der IG FARBEN von dem Kriegsprofiteur BAYER bis heute niemals finanziell entschädigt wurden.

Bücher zum Thema
* Klee, Ernst: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, 526 Seiten,
  viele Fotos, DM 58,--.
* Peter-Ferdinand Koch, Menschenversuche, 330 Seiten, viele Fotos,
  DM 48,--.
Beide Bücher sind (zzgl. DM 8,-- für Porto) erhältlich bei: Mensch & Umwelt-Versand: Telefon 0211 / 26 11 210.