SWB 01/99

Pyrethroidstudie der Firma Bayer

Können Zahlen lügen ?

Warum liegen die Ergebnisse verschiedener toxikologischer Bewer-
tungen oft so weit auseinander? Zu Umweltrisiken einzelner Stoffe liegen häufig völlig unterschiedliche Expertisen vor, die sich jeweils streng wissenschaftlich geben. Die einen sehen bei jeglicher Schadstoff-
belastung der Bevölkerung die Gefahr von Gesundheitsschäden, andere erwarten selbst bei einer tausendfachen Dosis keine ernsthaften klinischen Wirkungen. Es scheint, als wüssten die Experten nicht weiter, und die Öffentlichkeit steht ratlos daneben.

Dass Ergebnisse bewußt verfälscht werden, kann oft nicht bewiesen werden. Ein solcher Nachweis erfordert schwierige Recherchen, wie das Beispiel der kontaminierten Castorbehälter demonstriert hat. Manchmal jedoch, wie bei der Bewertung der Giftigkeit von Pyrethroiden durch die BAYER AG, genügt es, den Text genau zu lesen.

Von Dr. Tino Merz

BAYER: Pyrethroide unbedenklich bis 5.000 ppm?

In der von BAYER vorgelegten Studie (J. Pauluhn "Pyrethroide im Hausstaub - Vorgehensweise bei der Quantifizierung gesundheitlich bedeutender Parameter und deren toxikologischer Bewertung") wird vorgerechnet, daß Pyrethroide bis zu einem Gehalt von 5.000 ppm im Hausstaub völlig ungefährlich seien (ppm = parts per million, entspricht 5 Promill). Solche hohen Konzentrationen finden sich im Hausstaub auch in extremen Fällen nicht, das BgVV (Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, ehemals Bundesgesundheits-
amt) nennt einen Wert von 1 ppm als den Richtwert zur Unterscheidung von sachgemäßer und nicht sachgemäßer Anwendung dieser Insektizide. Das Papier von BAYER wurde auf einem Kolloquium zur Pyrethroidproblematik 1995 in Berlin vorgestellt und allgemein akzeptiert. Es spielt bis heute bei Schadensersatzprozessen eine zentrale Rolle, etwa für die Verteidigung von Schädlings-Bekämpfer-
firmen.

Oberflächlich gelesen wird in der Studie aus einem Tierversuch eine Wirkschwelle ermittelt, daraus mit einem Sicherheitsabstand von einem Faktor 10 eine allgemein verträgliche Atemluftkonzentration bestimmt und daraus schließlich unter Zuhilfenahme von üblichen Staubgehalten in Innenräumen der Unbedenklichkeitswert von 5.000 ppm errechnet. Darüber hinaus wird noch in einem weiteren Experiment die Transferrate bestimmt, die angeben soll, wieviel eines Pyrethroids (Cyfluthrin) aus einem normal behandelten Teppich bei starker Beanspruchung in die Raumluft gelangt. Die Wahl von Cyfluthrin aus der großen Palette der Pyrethroide wird damit begründet, dass es sich dabei um das giftigste Pyrethroid handelt. In diesem Sinne wurde das Papier auch von diversen Autoren in Zeitschriften dargestellt.

Für die wissenschaftliche Bestimmung einer lebenslang verträglichen Dosis benötigt die Toxikologie üblicherweise einen Langzeittierversuch (2 Jahre) zur Bestimmung der chronischen Wirkschwelle, um Speicher- und Zermürbungseffekte mit einzubeziehen. Diejenige Versuchsreihe, die keinen Effekt mehr zeigt, legt den No Effect Level (NOAEL = No Adverse Effect Level) fest. Mit einem mehr oder weniger willkürlichen Sicherheitsfaktor von mindestens 100 - ein Faktor 10 für den Unterschied der Spezies und ein Faktor 10 für die Unterschiede der Individuen einer Spezies - oder 1000 (wie bei Dioxin) wird dann der ADI-Wert (acceptable daily intake) errechnet.

Der Tierversuch bei BAYER dauerte jedoch nur 80 Minuten. Die Tiere zeigten trotzdem sofort einsetzende Reaktionen. Eine solche Akut-Reaktion erfolgt nur bei einer sehr hohen Schadstoffkonzentration. Aber auch eine um Zehnerpotenzen niedriger liegende Wirkkonzen-
tration kann noch nach Jahren zu chronischen Effekten führen. In der Studie wird von vornherein zum einen ein zu niedriger Sicherheitsfaktor angesetzt und zum anderen das hohe Belastungsniveau einer sofortigen Reaktionen zur generellen Bemessungsgrundlage gemacht.

Die errechnete "maximale tolerierbare Grenzkonzentration von 10 µg Cyfluthrin/m³ Luft" beinhaltet einen um 10-100 zu niedrigen Sicherheitsfaktor und ist darüberhinaus erfahrungsgemäß um etwa einen weiteren Faktor 100 zu hoch für chronische Belastungen. Nach diesem Korrekturansatz ergäbe sich eine möglicherweise tolerierbare Luftkonzentration für die lebenslange Belastung von 0,001-0,01 µg/m³ entsprechend 1-10 ng/m³.

Grundlage fehlt
Selbst jenes magere Ergebnis, das dem Zwecke einer Unbedenklichkeitserklärung kaum dienlich ist, ist durch die Laborversuche keineswegs abgesichert. Bei allen Versuchen mit dem Pyrethroid zeigten die Ratten Wirkung. Eine im Text eingeführte "Reizschwellenkonzentration (RD0)" wird weder definiert noch berechnet. Sie taucht einfach auf. In der Darstellung schließt sich diese Auswertung des Experiments, also die Einführung einer Reizschwellen-
konzentration, nicht einmal unmittelbar an die Darstellung des Tierversuches an. Dann würde es wohl auch dem flüchtigen Leser auffallen. Denn zwischendurch wird über den Transferversuch Teppich => Meßstation => Ratten berichtet.

Diese Gliederung des Textes ist gar nicht von vorneherein zu beanstanden, denn zur Errechnung der maximalen Staubbelastung muß man sowohl die maximal verträgliche Atemluftkonzentration mit Cyfluthrin als auch die maximale Staubbelastung, etwa beim Spielen und Toben, ermitteln. Die Experimente mit Teppich und Bürste bewirken Sofort-
reaktionen bei den Tieren. Rechnerisch zeigt sich bei einer Kontamina-
tion von 20 mg Cyfluthrin/m² Teppich und starker Beanspruchung - z.B. Kinderzimmer - eine derart hohe Luftbelastung, dass alleine auf inhalativem Wege die Grenzwerte der WHO von 10 µg/Tag pro kg Körpergewicht für Deltamethrin um das 4-20fache überschritten wird, wenn man die Beanspruchungsphase (Toben und Spielen) mit
6 Stunden pro Tag in Ansatz bringt. Doch nun eine weitere Überraschung: Die im Versuch eruierte Staubkonzentration wird in die spätere Rechnung nicht eingesetzt, sondern stattdessen veraltete Literaturwerte. Mit den maximalen Staubwerten aus dem Experiment wäre die Grenzkonzentration mit 50 ppm um einen Faktor 100 niedriger ausgefallen.

Reizhusten oder chronische Nervenschäden
Doch mit derartigem Schönrechnen hat die Abteilung Inhalationstoxi-
kologie der BAYER AG ihr Klassenziel noch immer nicht erreicht. Sie muß jetzt darstellen, dass diese Ergebnisse auch bei lebenslanger Belastung gelten. Dies wird folgendermaßen gemacht: Es wird einfach festgestellt, daß die Stärke der Reaktion der Versuchstiere linear von der Belastungskonzentration abhängt und diese Wirkung mit der Zeit nicht zunimmt. Somit spielt nur die Wirkschwelle der Sofortreaktion, nicht aber die Wirkdauer eine Rolle.

Ein solcher Verlauf ist bei Akutreaktionen die Regel. Der Körper steuert zunächst gegen, und die Reaktion nimmt kurzzeitig sogar ab. Dies zeigen auch die Versuche. Bei entsprechend niedrigen Konzentrationen - niedriger als in diesem Experiment - schafft es der menschliche Körper in der Regel, die Symptome für einen gewissen Zeitraum ganz zu unterdrücken. Um so schlimmer ist nachher der Zusammenbruch. Dieser Mechanismus wird noch verstärkt, wenn die Gifte im Körper gespeichert werden, was bei den Pyrethroiden der Fall ist. Aus diesen Gründen darf eine Unbedenklichkeitsschwelle (ADI-Wert) grundsätzlich nur auf der Basis von Langzeitversuchen abgeschätzt werden. Das BAYER-Papier ignoriert diesen toxikologischen Grundsatz!

Weiter heißt es in der Studie: "Dosisberechnungen des auf chronischen Fütterungsstudien basierenden ADI-Wertes werden daher für die relevantere inhalative Exposition als nicht zulässig angesehen." Diese Aussage gründet allein auf der Behauptung, der Schwellenwert der Inhalation sei "der niedrigste". Durch das Wörtchen "daher" wird so getan, als sei dies eine zwingende Schlussfolgerung des bereits Vorgetragenen. Vergleiche von verschiedenen Wirkschwellen für verschiedene Aufnahmewege wurden jedoch nicht unternommen, die Behauptung ist ähnlich unbefleckt erzeugt worden wie zuvor die Reizschwellenkonzentration.

Die Dosisabschätzung - Pfade der Giftaufnahme
Doch mit den beiden dargestellten Übungen Schönrechnen und Umschiffen der Klippe "chronische Exposition" ist die Sache noch immer nicht wasserdicht. Denn grundsätzlich muß für alle drei Expositionspfade - Atemweg, dermale Aufnahme (Resorption über die Haut) und orale Aufnahme - das Risiko bestimmt werden. Also enthält das Papier auch eine Abschätzung der dermalen und oralen Aufnahme. Nun wird sich der Leser fragen, wie man eine Aufnahme über die Haut und die Ingestion (z.B. Ablecken von Spielzeug, Eintrag der Chemikalien auf die in der Wohnung gelagerten Nahrungsmittel) mit einer rein inhalativen Wirkschwelle vergleichen kann. Die Frage ist berechtigt. Man kann nicht. Auch dieser Teil der BAYER-Studie ist Unfug. Er hat nur den Sinn, schwarz auf weiß dem zu erwartenden Vorwurf zu begegnen, Teile der Risiken seien vernachlässigt worden. Schon die alten Römer wußten: quod est in acta, est in mundo - was in den Akten steht, ist auch in der Welt - sprich: ist existent. Ob der Inhalt Unfug oder Wissenschaft ist, bleibt dann für Öffentlichkeit, Verwaltung und Gerichte "Expertenstreit".

Beim Nachrechnen finden sich wieder Rechenkünste. Bei der dermalen Aufnahme wird der Transferversuch erstmals herangezogen. Dort ergab sich eine Streuung im Ergebnis von einer Zehnerpotenz . Es wird die untere Transferrate eingesetzt. Doch dies genügt noch nicht. Deswegen taucht in der Rechnung noch ein Faktor "Bioverfügbarkeit" von 2% auf, der wie gehabt weder definiert noch berechnet wird. Diese Bagatelli-
sierung um den Faktor 500 muß vor dem Hintergrund der Ergebnisse chinesischer Autoren gesehen werden, die der dermalen Aufnahme in Innenräumen eine ganz entscheidende Rolle beimessen. Korrigiert man die hier monierten Fehler, so ergibt sich eine kritische Konzentration für Hausstaub von 17 ppm. Doch dies ist weniger von Belang, da wissen-
schaftlich ohnehin wertlos. Die so niedergerechnete dermale Dosis soll dem flüchtigen Leser wohl suggerieren, dass die Frage nach dermaler und ingestiver Aufnahme, deren Akkumulation und chronischer Wirkung, unwichtig sei. Man rechnet die Expositionsdosen passend herunter, verwechselt sie mit den Wirkschwellen und eliminiert so die für die Bewertung der Pyrethroide alles entscheidende Frage nach der chronischen Belastung.

Daten und Unbedenklichkeit schließen sich aus
Zusammenfassend kann man sagen, daß es der BAYER AG trotz fleißiger Labortätigkeit nicht gelungen ist, toxikologische Daten zu schaffen, die geeignet wären, eine Unbedenklichkeit von Pyrethroiden im Innenraum auch nur annähernd plausibel zu machen. Im Gegenteil. Der Versuch mit der Teppichbürste zeigt, daß eine so hohe Schad-
stofffracht entsteht, daß die ADI-Werte der Weltgesundheitsorganisation WHO allein durch die inhalative Aufnahme weit überschritten werden. Diese Daten wurden bei der Dosisberechnung entweder übergangen, wie beim inhalativen Risiko, oder schöngerechnet, wie bei der dermalen Aufnahme. Die Risikobewertung ist letztlich aus der Luft gegriffen. Was hier entwickelt wurde, könnte man als toxikologischen GAU - größten anzunehmenden Unfug - bezeichnen.

Auch die äußere Form zeigt, dass dem Autor angesichts der Daten nur übrig blieb, Verwirrung zu stiften: mit anmaßender Sprache, schludriger äußerer Form und absichtlich chaotischem Aufbau der Argumentation. Tabellen sind nicht selbsterklärend, Abkürzungen werden nicht erklärt, einzelne Elemente von Tabellen sind völlig unverständlich.
Die Darstellung wird immer wieder unterbrochen, was zusammengehört, wird nicht zusammen dargestellt. Ein solch umfassendes Täuschungsmanöver kann kaum adhoc erfunden werden. Man benötigt dafür langjährige Übung und die Möglichkeit, auf eine entwickelte Tradition zurückgreifen zu können, die immer wieder kreativ und damit bewußt gegen besseres Wissen fälscht.

Wissenschaft geht in die Irre
Falsche Daten haben in der Wissenschaft bekanntermaßen ein langes Leben. Berühmt wurde jener Tippfehler in der Kommastelle für den Eisengehalt von Spinat, entnervte Mütter wissen ein Lied davon zu singen. Das war sicher kein böser Wille. In der Umweltdebatte finden sich oft überraschend hohe ubiquitäre (also allgegenwärtige) Hintergrundswerte: "Ein alter Toxikologentrick übrigens. Man verzichtet auf die risikoreiche Manipulation der Meßwerte und sorgt stattdessen durch eine entsprechende Zusammensetzung des Kontrollkollektivs für eine handfeste Hintergrundbelastung", wie der Staatsanwalt des Holzschutzmittelprozesses in seinem Buch berichtet. Die Landesämter für Umweltschutz nehmen zur Bewertung von Dioxinmeßwerten als "Hintergrundbelastung" notorisch jene drei Werte, die in Nordrhein- Westfalen in der Nähe von Großemittenten gemessen wurden. So gelten in der Verwaltung 5-15fach erhöhte Werte als Hintergrundbelastung (100-300 statt 20 fg TE/m³).

Auch darin ist das Papier von BAYER "innovativ". Für die Grenzkonzentration der Luftbelastung von 10 µg/m³ wird nur ein Sicherheitsfaktor von 10 eingesetzt. Später bei der Berechnung der Grenzbelastung für Stäube von 5.000 ppm wird "großzügig"' ein weiterer Faktor 10 eingebracht, so kann niemand behaupten, der Sicherheits-
faktor betrüge nur 10. In Richtlinien werden manchmal Staub- und Luftproben verlangt. Gesetzt den Fall, in einer Richtlinie würde "zur Sicherheit" ein Staubgehalt von 500, 50 oder gar "nur" 5 ppm als Anhalt für Handlungsbedarf genommen, Sanierung oder gar Schadensersatz aber von einer Überschreitung des Luftwertes von 10 µg/m³ abhängig gemacht, so würde in den allermeisten Fällen Sanierung oder Schadensersatz versagt.

Mit hoher Sicherheit sind viele Daten, an denen wir uns derzeit orientieren, falsch. Waren alle Personen gesund, deren Daten für die Hintergrundbelastung und die daraus abgeleiteten Referenzwerte verwendetet wurden? Sicher nicht. Wir haben eben gelernt, dass selbst wissenschaftlich sterile Laborwerte nicht nur nicht stimmen, sondern um mehrere Spinateinheiten verschoben werden können. Wer heute blauäugig Forschung fordert, sollte wissen, dass die Überpüfung alter Daten möglicherweise viele angebliche "Unsicherheiten" klärt.

Dieses schiefe Bild ist Absicht. Es ist nicht nur die Trägheit des Wissenschaftsapparates, dass ex catedra das Wissen von vorgestern gelehrt wird. Dies wird gesteuert mit Geld und Würden. Letztendlich ruiniert ein ganzer Fachbereich seine Glaubwürdigkeit.

Dr. Tino Merz, 50 Jahre, ist Chemiker und arbeitet als Gutachter in den Bereichen Umwelterkrankungen, Müllverbrennung und Risikobewertung von Umweltproblemen

Hervorhebungen:
Auch dieser Teil der BAYER-Studie ist Unfug. Er hat nur den Sinn, schwarz auf weiß dem zu erwartenden Vorwurf zu begegnen, Teile der Risiken seien vernachlässigt worden. Schon die alten Römer wußten: quod est in acta, est in mundo - was in den Akten steht, ist auch in der Welt - sprich: ist existent. Ob der Inhalt Unfug oder Wissenschaft ist, bleibt dann für Öffentlichkeit, Verwaltung und Gerichte "Expertenstreit".

Die Risikobewertung ist letztlich aus der Luft gegriffen. Was hier entwickelt wurde, könnte man als toxikologischen GAU - größten anzunehmenden Unfug - bezeichnen.