Die Europäische Union wollte konsequent sein und Rückstände von Pestiziden, die sie wegen ihrer gesundheitsschädlichen Wirkungen verboten hat, auch nicht mehr in Lebensmittel-Importen dulden. Das wussten BAYER & Co. allerdings zu verhindern.
Von Jan Pehrke
Der BAYER-Konzern unterhält in allen wichtigen Hauptstädten der Welt sogenannte Verbindungsbüros, von denen aus er seine Lobby-Aktivitäten steuert. Das größte davon befindet sich in Washington, dann folgt aber schon Brüssel. Das dortige Büro hat einen Etat von 4,3 Millionen Euro, mit dem 24 Beschäftigte versuchen, EU-Entscheidungen im Sinne des Global Players zu erwirken. Dazu haben sich die Einfluss-ArbeiterInnen allein in dem Zeitraum zwischen 2015 und 2019 31 Mal mit EU-KommissarInnen oder deren Kabinettsmitgliedern getroffen, wie aus dem Lobby-Register der Europäischen Union hervorgeht.
Vor allem auf die Pestizid-Regulierungen hatten sie es abgesehen. Und dabei wiederum galt den Import-Bestimmungen ihr gesondertes Interesse. Hier drohte nämlich Ungemach. Die Europäische Union beabsichtigte, es Agro-Chemikalien, die sie wegen ihrer Risiken und Nebenwirkungen aus dem Verkehr gezogen hatte, auch auf Umwegen nicht mehr zu gestatten, Unheil anzurichten. Also wollte sie keine Rückstände von EU-weit verbotenen Pestiziden in Lebensmittel-Einfuhren mehr tolerieren, selbst in den geringsten Mengen nicht.
Grundlage hierfür bildete der sogenannte Gefahren-Ansatz. Dieser geht davon aus, dass einige Stoffe an sich und nicht bloß ab einer bestimmten Schwelle schädlich sind, weshalb schon kleinste Reste Krankheiten auslösen können. Zu solchen Substanzen, bei denen Untersuchungen zufolge nicht die Dosis das Gift macht, zählen beispielsweise endokrine Disruptoren. Hierbei handelt es sich um hormon-ähnlich wirkende und deshalb gesundheitsgefährdende Chemikalien, die auch in einigen Pestiziden enthalten sind. Im Gegensatz dazu kennt der Risiko-Ansatz keine absoluten Gefahren, sondern nur relative, von der Wirkstärke abhängige und deshalb durch Grenzwerte einhegbare. Darum bevorzugt die Industrie eine solche Regulierungsvariante und drang darauf, von dieser auch bei den Nahrungsmittel-Importen Gebrauch zu machen.
Das ganze Ausmaß der Branchen-Vorstöße zur „Gefahren-Abwehr“ machte der Report „Toxic residues through the back door“ des CORPORATE EUROPE OBSERVATORY (CEO) öffentlich, das unter Berufung auf die Transparenz-Richtlinie der EU Einsicht in die Dokumente nehmen konnte. Der Leverkusener Multi begann mit seinen Lobby-Anstrengungen im März 2017. Da brachte ein BAYER-Abgesandter bei einem Treffen mit einem Kabinett-Mitglied des damaligen Landwirtschaftskommissars Phil Hogan die Erwartung des Konzerns zum Ausdruck, dass die EU die Frage der Agrochemie-Rückstände bei Einfuhren „im Einklang mit den WTO-Regeln zur Vermeidung von Handelsbarrieren“ behandle. Zwei Tage später wandte sich das Unternehmen in der Angelegenheit an Nathalie Chaze, die während der Amtszeit von Gesundheitskommissar Vyvenis Andriukaites dessen Kabinett angehörte. Chaze erteilte dem Global Player allerdings eine Abfuhr. Es sei das erklärte Ziel der EU, „die Konsumenten vor unter das Ausschluss-Kriterium fallende Substanzen und deren Rückstände in der Nahrung zu schützen, egal, woher sie stammen“, so Chaze. Im Juli sprach ein BAYER-Lobbyist dann gemeinsam mit einem SYNGENTA-Kollegen direkt bei Andriukaites vor. Aber auch dieser ließ nicht mit sich reden. Bei Pestiziden, die unter das Ausschluss-Kriterium auf der Grundlage des Gefahren-Ansatzes fallen, „Rückstände über der Nachweis-Grenze zuzulassen, würde ein inakzeptables Gesundheitsrisiko darstellen“, hielt der Litauer fest.
Daraufhin erhielt dieser einen Brief, den BAYERs Agro-Chef Liam Condon zusammen mit SYNGENTA-Boss Erik Frywald verfasst hatte. „Gefahren-basierte Grenzwerte sollten von der EU nicht dazu verwendet werden, Handelshemmnisse einzuführen oder politische Ziele zu erreichen“, schrieben die beiden. Sie beklagten sich aber auch generell über das „zunehmend konservative, politisch motivierte“ Kontrollsystem und forderten Brüssel auf, vereint mit ihnen offensiv solchen Gruppen entgegenzutreten, die angeblich nur emotional argumentierten.
Unterstützung erhielten die Agro-Manager von ihrer Lobby-Organisation „European Crop Protection Association“ (ECPA). Diese zeigte sich „extrem besorgt“ über die Pläne und mahnte mit Verweis auf die EU-Maxime der „Better regulation“ ein sogenanntes Impact Assessment an, eine ökonomische Folgeabschätzung. Das entsprechende Zahlenfutter dafür lieferte BAYER Mitte November 2017. In Tateinheit mit DTB ASSOCIATES CONSULTING präsentierte der Konzern der Generaldirektion Handel einen Report, der vor großen finanziellen Einschnitten durch die avisierten EU-Maßnahmen warnte. Der von der Beratungsfirma BRYANT CHRISTIE erstellte Bericht, den die ECPA gemeinsam mit CROPLIFE INTERNATIONAL finanziert hatte, bezifferte die möglichen Verluste im Falle der Implantierung der strengeren Import-Auflagen auf 70 Milliarden Euro. Diese Zahl findet sich später auch in der WTO-Beschwerde der USA und Australiens gegen ein Vorhaben der Europäischen Union zur Regulierung von endokrinen Disruptoren.
Das alles blieb nicht ohne Wirkung. „Nach Diskussionen mit den Mitgliedsländern über den ursprünglichen Vorschlag und im Angesicht der Reaktionen von Stakeholdern und Drittstaaten findet ein weiteres Nachdenken statt, um das Vorgehen der Kommission festzulegen“, ruderte die Generaldirektion Gesundheit zurück. Wenig später stellte Andriukaites in Aussicht, den mit dem Gefahren-Bann belegten Substanzen vor den Toren der Europäischen Union doch noch einmal eine Risiko-Prüfung zuzubilligen. Und in den Dokumenten zu den Verhandlungen mit Kanada über das Handelsabkommen CETA hieß es schließlich sogar: „Das langfristige Ziel der EU ist es, sich von einem gefahren-basierten Ausschluss-Kriterium bei Regulierungsentscheidungen wegzubewegen.“
Die Bundesregierung half kräftig dabei mit, die erste Etappe dazu mit den entsprechenden Import-Regeln zu meistern. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) setzte sich laut taz „für eine risiko-orientierte Bewertung von Rückständen ein“, da mit den daraus resultierenden Grenzwerten ihrer Meinung nach gesundheitsgefährdende Effekte „praktisch ausgeschlossen werden können“. PolitikerInnen aus sechs anderen Mitgliedsländern teilten die Ansicht.
Brüssel gab sich im Februar 2020 auf taz-Anfrage noch unentschieden: „Die Festlegung von Rückstandshöchstgehalten für Pestizide, die die Ausschluss-Kriterien erfüllen, ist ein komplexes Thema, über das die Kommission derzeit nachdenkt.“ Aber am Ende des Tages kippte die Europäische Union doch um. In ihrer am 20. Mai 2020 vorgestellten Landwirtschaftsstrategie „Vom Hof auf den Tisch“ zeigte sie sich gegenüber Nahrungsmitteln, die von fernen Höfen auf die europäischen Tische streben, nachsichtig. In dem entsprechenden Passus heißt es, Brüssel gewährte „Einfuhr-Toleranzen für Pestizid-Wirkstoffe, die in der EU nicht mehr genehmigt sind“. Das Mittel der Wahl bei der Prüfung der Unterlagen: die von BAYER & Co. immer wieder eingeforderte Risiko-Bewertung. Mittels dieser gedenkt die Europäische Union dann auch, „Umwelt-Aspekte“ in den Blick zu nehmen. Zudem bekundete die Kommission, sie wolle sich „gegenüber ihren Handelspartnern, insbesondere gegenüber Entwicklungsländern, tatkräftig dafür einsetzen, den Übergang zu einem nachhaltigeren Einsatz von Pestiziden zu flankieren, um Handelsstörungen zu vermeiden und alternative Pflanzenschutzmittel und -methoden zu fördern“. De facto aber hat die EU mit dem Zugeständnis von „Import-Toleranzen“ ihre Prinzipien verraten. Nicht zuletzt brüskiert sie damit ihre eigenen LandwirtInnen, die auf ihren Feldern weniger gesundheitsgefährdende Chemikalien einsetzen und jetzt Wettbewerbsnachteile fürchten müssen. Vergeblich hatten diese gefordert, „dass für importierte Waren dieselben Kriterien bezüglich Pflanzenschutz-Anwendung und Rückstandswerten angelegt werden wie für Waren aus der EU“ – gegen das Extrem-Lobbying der Agro-Branche war kein Ankommen.
„Brüssel knickt vor BAYER & Co. ein“, resümierte die Coordination gegen BAYER-Gefahren (CBG) in ihrer Presse-Erklärung dann auch: „Das ist ein Offenbarungseid. Die EU-Kommission räumt den Konzern-Interessen den Vorrang vor der menschlichen Gesundheit ein.“