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[Blindes Vertrauen] HV-Prozess: Gutachten macht Verfahrensfehler aus

CBG Redaktion

Im Jahr 2017 hatte der BAYER-Konzern auf seiner Hauptversammlung das Versammlungsrecht der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN massiv beschnitten. Die Coordination klagte dagegen durch alle Instanzen – erfolglos. Darum griff sie im November 2020 zum letzten Mittel: Verfassungsbeschwerde. Und jetzt legte die CBG nach. Sie reichte ein Gutachten des Rechtsprofessors Dr. Remo Klinger ein, das ihre juristische Position stützt.

Von Marius Stelzmann

Die Auseinandersetzung der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) mit BAYER und der Polizei um die Vorgänge bei der Hauptversammlung von 2017 ist mittlerweile vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gelandet. Im November letzten Jahres hatte die Coordination eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Und sie ließ es damit nicht gut sein: Anfang März 2021 stellte die CBG dem höchsten deutschen Gericht ein Gutachten von Professor Dr. Remo Klinger zu, das ihre Position untermauert.

Begonnen hatte der Rechtsstreit nach BAYERs AktionärInnen-Treffen vom 28. April 2017. Unmittelbar nach der HV hatte die CBG Klage wegen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht eingereicht, da der Konzern vor dem World Conference Center Bonn (WCCB) ein von einem mannshohen Zaun umgebenes Zelt mit Kontroll-Schleusen errichtet hatte, um sich den erwarteten Protest besser vom Leib halten zu können. Offizielle Begründung: Terror-Gefahr! Diese erfordere umfangreiche, im Gebäude selber nicht durchführbare Sicherheitschecks, erklärte BAYER – und die Polizei schluckte es.

Die Grundlagen dieser Sicherheitseinschätzung hat der Leverkusener Multi bis heute weder der Versammlungsbehörde noch später vor Gericht transparent gemacht. Er teilte lediglich die „relevanten Eckpunkte“ mit. Die Versammlungsbehörde schloss sich der Gefahrenprognose dennoch postwendend an und erteilte eine lange Liste mit Auflagen, die das Demonstrationsrecht der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) erheblich beschnitten. Diese griff die unverschämten Anordnungen in Eil-Verfahren umgehend an und erstritt reihenweise juristische Siege: Schlicht unhaltbar waren beispielsweise Vorschriften, die vorsahen, dass Lautsprecherboxen nicht in Richtung der AktionärInnen zeigen durften. Eine einzige der Auflagen konnte die CBG allerdings nicht zu Fall bringen: Das Zelt blieb, und damit musste die Coordination ihren traditionellen Kundgebungsort direkt vor dem Eingang der Hauptversammlung aufgeben und mit einem Ort weit davon entfernt, ganz am Rand des weitläufigen „Platzes der Vereinten Nationen“, vorliebnehmen.

Auch die Feststellungsklagen der Coordination brachten keinen Erfolg. Die Gerichte zogen die damaligen Entscheidungen nicht in Zweifel. Darum will die CBG jetzt vor dem BVerfG klären lassen, ob die Behörden durch die unkritische Übernahme von Sicherheitskonzept und Gefahrenprognose BAYERs ihre Pflichten verletzt und damit einen Verfahrensfehler begangen haben. Zur Seite steht ihr dabei Professor Dr. Remo Klinger, der mit seinem juristischen Fachwissen schon vielen Initiativen half. Er unterstützte bereits die DEUTSCHE UMWELTHILFE in der Auseinandersetzung um die Einhaltung der Stickstoff-Grenzwerte in deutschen Städten und die damit verbundenen Dieselfahrverbote sowie die FRIDAYS FOR FUTURE mit einer Verfassungsbeschwerde wegen unzureichender Klimaschutz-Gesetze.
Remo Klinger stellt in dem Gutachten heraus, dass Entscheidungen über die Art der Ermittlungen, d. h. auch die Beantwortung der Frage, welche Informationsquellen herangezogen werden, im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde liegen. Zwar kann die Behörde zur Ermittlung von Sachverhalten auf die Prozess-Beteiligten und sonstige Private zurückgreifen. Dies entbindet diese jedoch nicht von der Letztverantwortlichkeit der Sachverhaltsermittlung. Die Behörde kommt ihren Pflichten nur dann ausreichend nach, wenn sie die durch andere Quellen gewonnenen Erkenntnisse überprüft, andernfalls stellt deren Nutzung einen Aufklärungsfehler dar.

So heißt es im Gutachten: „Die Pflicht der Behörde zur eigenen Ermittlung wandelt sich daher vor allem im Grundrechtsschutz zu einer Pflicht zur nachvollziehenden Amtsermittlung.“ Denn die Versammlungsfreiheit ist im Grundgesetz besonders geschützt. Auch die Wahl des Ortes fällt unter das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters, welches alle versammlungsbezogenen Verhaltensweisen schützt. Eine verfassungskonforme Abwägung, ob eine angemeldete Versammlung mit Interessen Dritter kollidiert, obliegt der staatlichen Verantwortung. Diese muss aber den Gewährleistungsgehalt des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit wahren. Um eine Versammlung einschränken zu können, bedarf es einer eigenen Ermittlung. „Die Behörde bleibt danach selbst bei Nutzung der Informationen von Verfahrensbeteiligten verpflichtet, die Angaben inhaltlich auf ihre Plausibilität zu überprüfen und mit dem bisherigen Ermittlungsstand und Erfahrungen aus ähnlichen Verfahren abzugleichen“, hält Klinger mit Verweisen auf die juristische Fachliteratur fest.

Pflichtverletzung
Dieser Verpflichtung ist die Versammlungsbehörde in Bonn nicht nachgekommen. Diese hatte sich nur auf das bloße Wort BAYERs verlassen, um die CBG von ihrem Kundgebungsort zu verdrängen. Einsicht in das Sicherheitskonzept verlangte die Behörde nicht. Auch drang sie später im Prozess nicht darauf, das Dokument allen Verfahrensbeteiligten zugänglich zu machen.

Darüber hinaus hat die Behörde versammlungsrechtliche Informationen wie diejenigen, die sie von BAYER zur angeblichen Sicherheitslage erhielt, mit den Erfahrungen aus ähnlichen Vorgängen abzugleichen. Dies ist in diesem Fall schwerwiegend, da es sowohl vor als auch nach der BAYER-Hauptversammlung eine Reihe von Veranstaltungen ähnlicher Größe im WCCB gab, die ihre Sicherheitsschleusen nicht in ein externes, umzäuntes Zelt auf dem Vorplatz verlegten. Das Gutachten listet dazu einige Beispiele auf. Hierbei handelte es sich sowohl um politische Großveranstaltungen wie den Bundesparteitag der SPD im Januar 2018 oder den Europa-Parteitag der Linkspartei 2019 als auch um andere Zusammenkünfte. Selbst mehrere Hauptversammlungen zählten dazu. So verzichteten beispielsweise im Mai 2019 die DEUTSCHE POST AG und die LUFTHANSA AG auf ein externes Sicherheitszelt. Terrorgefahr? Hier offenbar kein Problem. Offensichtlich unproblematisch war es für die Lufthansa, ihre Sicherheitsschleusen bei der HV in dem extra dafür vorgesehenen Raum im WCCB aufzubauen. Auf Fotos, mit welchen der von der LUFTHANSA mit der Organisation des AktionärInnen-Treffs betraute Dienstleister sein Werk bewirbt, ist klar zu sehen, dass diese Räume allen Sicherheitsbedürfnissen gerecht wurden. Dies hatten von BAYER bestellte Sicherheitsleute bei dem gerichtlichen Begehungstermin des WCCB-Vorplatzes durch die CBG und BAYER explizit in Abrede gestellt. Durch die Errichtung der Sicherheitsschleusen in exakt jenem Raum, in dem die LUFTHANSA sie aufbaute, seien Fluchtwege im Brandfall versperrt. Grobe Fahrlässigkeit bei der LUFTHANSA also? Oder doch eher ein Sicherheitskonzept made by BAYER, das nur als Vorwand zur Abwehr von Konzern-Kritik diente …
Die im Internet lediglich eine Google-Suche entfernten Informationen belegen: Die Recherchen der Behörde, falls überhaupt unternommen, wiesen gravierende Mängel auf. Von einer Prüfung, ob Möglichkeiten für effiziente Sicherheitskontrollen im Innern des Gebäudes in baulicher, technischer und räumlicher Hinsicht vorhanden waren, die es gestattet hätten, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht zu beeinträchtigen, kann keine Rede sein. Auch bei den BAYER-Hauptversammlungen der kommenden Jahre überprüften die Behörden das Sicherheitskonzept nicht erneut, sondern übernahmen den alten Sachstand einfach unbesehen.

Das Gutachten legt dar, dass eine Beweiswürdigung eine abgeschlossene, vollständige Sachverhaltsermittlung voraussetzt. Die Beweiswürdigung darf die Behörde nicht an Dritte delegieren. Es ist erforderlich, dass sie sich ein eigenes Urteil darüber bildet, ob nach den ermittelten Umständen ein Sachverhalt als erwiesen gilt.

Klarer Befund
Wenn die Behörde gegen die klar definierten Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung verstößt, liegt ein Verfahrensfehler vor. Der von der Behörde ergangene Bescheid wird damit rechtswidrig. Im Gutachten wird daher das Fazit gezogen: Eine ungeprüfte Übernahme des lediglich mündlich mitgeteilten Sicherheitskonzeptes der BAYER AG reicht nicht aus, um das Versammlungsrecht zu beschneiden. Die Behörde hätte die Hinweise der BAYER AG zwar heranziehen und verwerten dürfen. Eine nachvollziehende Beurteilung des Sicherheitskonzeptes wäre jedoch unabdingbar notwendig gewesen. Die von der Versammlungsbehörde vor Gericht bekundete „Kenntnis der relevanten Eckpunkte“ reicht nicht aus. Eine Gefahrenprognose von Amts wegen wird dadurch nicht ausreichend gestützt.
Für die Coordination ist dieses Resultat von größter Wichtigkeit, da die Gerichte bisher der Auffassung der Versammlungsbehörde und der von BAYER folgten oder aber die Frage ganz ausklammerten. Die RichterInnen prüften lediglich, ob eine Demonstration unter solchen Bedingungen weiterhin möglich und erfolgversprechend durchführbar war. Dass die CBG in der Not erfinderisch und protest-versiert genug war, um sich von den hindernden Auflagen nicht ins politische Aus manövrieren zu lassen, legten sie absurderweise zu ihren Lasten aus. Diese Auffassung berücksichtigt darüber hinaus nicht, dass die CBG auch die sehr viel schärferen Auflagen erst in Eilverfahren wegklagen musste. Auch das hat einiges Geld gekostet, das die Coordination nicht so einfach zur Verfügung hat und viele andere Initiativen gar nicht aufbringen können. Nicht zuletzt darum lässt die CBG nicht locker und geht bis vor das Bundesverfassungsgericht. Ihr ist es um grundlegende Fragen zu tun, welche den rechtlichen Rahmen von Konzern-Kritik im Allgemeinen betreffen und deshalb auch für andere politische Gruppen von Bedeutung ist.

Wenn nämlich Versammlungsbehörden die Erstellung von Gefahrenszenarien komplett Konzernen überlassen, die sich ihrer KritikerInnen entledigen wollen und keine eigenen Kontrollen durchführt, wird diese hoheitliche Aufgabe faktisch privatisiert. Dies öffnet einem Missbrauch durch große Player Tür und Tor.
Das Gutachten klärt auf rechtswissenschaftliche Weise die Fragen, die diesen politischen Auseinandersetzungen zugrundeliegen. Es zieht zu diesen Fragen das nüchterne, verfassungsrechtliche Fazit: Im Rahmen der Beweiswürdigung hätte die Behörde das Sicherheitskonzept inhaltlich auf seine Plausibilität überprüfen müssen, sie hätte dem Leverkusener  Chemie-Multi nicht „blind vertrauen“ dürfen.