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Beirut ist überall

CBG Redaktion

Die Katastrophe von Beirut kostete über 220 Menschen das Leben, weitere 6.000 trugen zum Teil schwere Verletzungen davon, Hunderttausende wurden obdachlos. Die Großexplosion offenbarte wieder einmal, welche Gefahren der industrielle Umgang mit chemischen Stoffen birgt. Aber die VertreterInnen von BAYER & Co. wiegelten ab. Dabei genügt schon ein kurzer Blick auf die Störfall-Liste des Leverkusener Multis, um sie eines Besseren zu belehren.

Von Jan Pehrke

„Wir saßen in unserem Wohnzimmer, und plötzlich fielen uns die Wand und Glas auf den Kopf“, so beschreibt ein Beiruter die Folgen der Explosion, welche die Stadt am 4. August 2020 erschütterte. Viele BewohnerInnen überlebten das nicht. Die Detonation von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der Metropole riss über 220 Menschen in den Tod, fügte 6.000 zum Teil schwere Verletzungen zu und machte 300.000 zu Obdachlosen.

Das Unglück rückte wieder einmal die Gefahren der Chemie-Produktion in den Fokus. Rund 80 kleinere und größere Störfälle allein in Nordrhein-Westfalen binnen der letzten zehn Jahre zählte der WDR. Trotzdem gab der „Verband der Chemischen Industrie“ (VCI) Entwarnung. Hierzulande werde alles sorgfältig kontrolliert, so Hans-Jürgen Mittelstaedt vom nordrhein-westfälischen Landesverband der Lobby-Organisation zu den ReporterInnen der Aktuellen Stunde. „Wenn eine Anlage in Betrieb gegangen ist, dann gibt es eine regelmäßige behördliche Überwachung durch die Bezirksregierung (…) Je höher das Risiko-Potenzial durch Stoffe ist, desto regelmäßiger und auch schneller wird eine solche Überwachung durchgeführt“, tat Mittelstaedt kund. Marius Stelzmann von der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) vertrat in der Sendung naturgemäß eine ganz andere Meinung, hatte die Coordination sich doch 1978 nach einer Reihe von Beinahe-Katastrophen im Wuppertaler BAYER-Werk gegründet und ihrer seither geführten Unfall-Liste jedes Jahr neue Einträge hinzufügen müssen. „Die Kontroll-Mechanismen, die wir haben, sind den großen Mengen der gefährlichen Substanzen und dieser Form der Produktion nicht angemessen. Man könnte sich zum Beispiel auch fragen: Ist es – und das ist auch die Kritik, die wir haben – ist es richtig, dass so große Mengen von so hoch gefährlichen Chemikalien in der Nähe von Wohngebieten eingelagert werden?“, gab der CBG-Geschäftsführer zu bedenken.

Die CBG hatte sich jahrzehntelang bemüht, von BAYER genauere Angaben über das Ausmaß der an den Standorten vorgehaltenen risikoreichen Stoffe zu erhalten. Der Konzern verwies jedoch auf das Betriebsgeheimnis und hüllte sich in Schweigen. 2011 und 2012 stellte die Coordination dann offizielle Anfragen nach dem Umweltinformationsgesetz und bekam so die gewünschten Auskünfte. Und was sie da in Erfahrung bringen konnte, gab Grund zur Beunruhigung. So lagerte am Stammsitz Leverkusen allein die inzwischen abgestoßene Kunststoff-Sparte 1.600 Tonnen sehr giftiger, 9.200 Tonnen giftiger Stoffe und 3.400 Tonnen leicht entzündlicher Flüssigkeiten ein. Unter anderem befanden sich damals 42 Tonnen des Giftgases Phosgen in den Beständen.

Zum letzten großen Knall bei BAYER kam es im Jahr 2008. Am US-amerikanischen Standort Institute ging ein Rückstandsbehälter in die Luft und schlug in eine Anlage zur Herstellung des Pestizids Methomyl ein. Von „Schockwellen wie bei einem Erdbeben“ berichteten AugenzeugInnen damals. Zwei Beschäftigte starben durch die Detonation. Dabei hätte alles noch schlimmer kommen können, wenn nämlich der Kessel den Tank mit dem Ackergift Methylisocyanat (MIC) getroffen hätte. „Die Explosion in dem BAYER-Werk war besonders beunruhigend, weil ein mehrere Tonnen wiegender Rückstandsbehälter 15 Meter durch das Werk flog und praktisch alles auf seinem Weg zerstörte. Hätte dieses Geschoss den MIC-Tank getroffen, hätten die Konsequenzen das Desaster in Bhopal 1984 in den Schatten stellen können“, hieß es in dem Untersuchungsbericht des US-Kongresses zum Unglück. Weil die US-Aufsichtsbehörde CSB in Institute „schwerwiegende Sicherheitsmängel“ ausmachte, musste der Leverkusener Multi eine Strafe in Höhe von einer Million Dollar zahlen und zusagen, 4,6 Millionen in Vorsorge-Maßnahmen zu investieren.

Aber der Konzern hat auch so seine eigenen Erfahrungen mit dem in Beirut detonierten Ammoniumnitrat. Diese auch „Ammoniak-Salpeter“ oder „brennbarer Salpeter“ genannte Substanz gehört zu den „Dual Use“-Gütern. Sie kann sowohl als Basis zur Produktion von Düngemitteln als auch von Sprengstoff dienen. Und Anfang des 20. Jahrhunderts interessierten hierzulande vor allem die explosiven Eigenschaften. Die erste Marokko-Krise hatte damals die Gefahr einer See-Blockade durch England heraufbeschworen, was das Deutsche Reich von Salpeter-Zufuhren aus Chile abgeschnitten hätte. Darum fingen die Chemie-Firmen an, mit der synthetischen Herstellung des Stoffes zu experimentieren. BAYER begann 1906 mit entsprechenden Versuchen, stellte diese aber wieder ein, als die außenpolitische Lage sich wieder zu entspannen schien. Durchsetzen konnte sich schließlich das von dem Wissenschaftler Fritz Haber gemeinsam mit Carl Bosch von BASF entwickelte Verfahren, auf chemischem Weg Ammoniak herzustellen. Diesem brauchte dann nur noch Salpetersäure beigegeben werden, um Ammoniumnitrat zu erhalten. 1910 erhielten die beiden Männer dafür das Patent. Schon vier Jahre später sollte es eine große Bedeutung erlangen. Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte Großbritannien nämlich die Nordsee dichtgemacht und Deutschland damit den Weg zum sogenannten Chile-Salpeter verbaut. Da trat jedoch die heimische Chemie-Industrie auf den Plan. Haber und Bosch schlossen sich mit dem damaligen BAYER-Generaldirektor Carl Duisberg kurz und gaben der Obersten Heeresleitung gemeinsam das sogenannte Salpeter-Versprechen. Das Trio sicherte den Generälen zu, ausreichend Sprengstoff für die Pläne der Militärs zu liefern. Duisberg & Co. hatten damit nach eigenem Bekunden „den Krieg gerettet“ – und dem Staat so ganz nebenbei auch noch Abnahme-Garantien zu Festpreisen und Finanzspritzen zum Ausbau der Produktionskapazitäten abgerungen.

Die BASF machte sich sogleich daran, die Fabrik am Standort Oppau umzurüsten und in Leuna ein neues Werk zur Ammoniak-Synthese hochzuziehen, wofür das Unternehmen staatliche Subventionen in Höhe von 400 Millionen Reichsmark erhielt. BAYERs nach dem Haber/Bosch-Verfahren arbeitende Anlage nahm indessen im März 1915 ihren Betrieb auf. Das fertige Ammoniumnitrat kam dann unter anderem bei der Produktion von TNT zum Einsatz. Für die Produktion solcher Sprengstoffe baute das Unternehmen in Köln-Flittard eine eigene Fertigungsstätte auf, die einen beträchtlichen Ausstoß hatte. Allein an TNT braute sie pro Monat 250 Tonnen zusammen. Daneben spezialisierte sich der Konzern während des Krieges vor allem auf chemische Kampfstoffe.

Bei den mit Ammoniumnitrat in Zusammenhang stehenden chemischen Prozessen ereigneten sich immer wieder schwere Unfälle. 1897 brach in einem Salpetersäure-Lager am BAYER-Standort Wuppertal ein Feuer aus, woraufhin sich giftige Untersalpetersäure-Dämpfe bildeten. 1917 gingen in Köln-Flittard 60.000 Kilogramm TNT hoch und rissen acht Arbeiter in den Tod. Hunderte Beschäftigte trugen Verletzungen davon. Die Spur der Verwüstung zog sich von der Flittarder Anlage bis hin zu den Leverkusener Werken. Die schlimmste Katastrophe aber geschah 1921 bei der BASF in Oppau. 559 Menschenleben kostete die Explosion von 400 Tonnen Ammoniumsulfatnitrat. Und dass die Gefahr bis heute nicht gebannt ist, zeigt nicht allein Beirut. Im Jahr 2001 entzündeten sich im französischen Toulouse mehrere hundert Tonnen Ammoniumnitrat, das in der Giftmüll-Deponie eines Düngemittel-Unternehmens lagerte. Die Bilanz: 31 Tote und über 2.500 Verletzte.

Auch die Sprengstoffe, welche die Chemie-Firmen im Ersten und Zweiten Weltkrieg auf der Basis von Ammoniumnitrat oder anderen Substanzen entwickelten, bergen immer noch ein Gefährdungspotenzial. Die Reste davon wurden nämlich zusammen mit chemischen Kampfstoffen, Minen, Bomben und Granaten einfach in der Ost- und Nordsee entsorgt. Rund 1,6 Millionen Tonnen davon lagern in den Gewässern. Und sie schlummern nicht einfach friedlich auf dem Meeresgrund. Immer wieder kommt es zu Unfällen, etwa wenn FischerInnen Sprengstoffe ins Netz gehen oder die Behältnisse durchrosten und die Stoffe austreten und an die Strände gelangen.
Der Biologe Dr. Stefan Nehring zählte bis Ende 2015 418 Todesfälle und 720 Verletzte. Auf der letzten BAYER-Hauptversammlung im April 2020 forderte die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN den Global Player auf, sich an den Bergungsarbeiten zu beteiligen. Aber davon wollte der Vorstand nichts wissen. Und auch nach Beirut dürfte er seine Meinung nicht geändert haben.