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[Chemiewaffen made by BAYER] Seit dem Ersten Weltkrieg stets zu Diensten

CBG Redaktion

Auch der BAYER-Konzern beteiligte sich mit seinen Pestiziden am „Herbicidal warfare“ in Vietnam. Er konnte dabei aus einem Erfahrungsreservoir im Umgang mit chemischen Waffen schöpfen, das bis zum Ersten Weltkrieg zurückreichte.

Von Jan Pehrke

Die britischen Streitkräfte entwickelten 1940 die Strategie, Antiunkraut-Mittel und andere Pestizide als Chemiewaffen einzusetzen. Anfang der 1950er Jahre erprobten sie den „Herbicidal warfare“ dann im Kampf gegen die malaysische Befreiungsbewegung. Aber erst der Viet-nam-Krieg brachte das ganze zerstörerische Potenzial dieser militärischen Praxis zur Entfaltung. 80 Millionen Liter Ackergifte ließen die USA über das Land niedergehen. Die Armee entlaubte damit die Dschungel, um die sich dort verborgen haltenden Vietcong besser aufspüren zu können, und setzte die Mittel überdies zur Vernichtung der Ernten des Gegners ein.

Nicht nur die jetzige BAYER-Tochter MONSANTO hatte dazu die passenden Produkte parat, sondern auch die Mutter-Gesellschaft selbst. Sie bestreitet zwar, das Pentagon direkt mit Agent Orange beliefert zu haben, indirekt fanden ihre Erzeugnisse aber doch den Weg in die Tanks der Fairchild-Transportflugzeuge. So produzierte der Leverkusener Multi in der fraglichen Zeit jährlich 700 bis 800 Tonnen des „Agent Orange“-Grundstoffes 2,4,5-T und verkaufte einen Teil davon an die französische Firma PROGIL. Diese wiederum verarbeitete es weiter und exportierte es nach Vietnam. Eine Aktennotiz der ebenfalls mit PROGIL Geschäftsbeziehungen unterhaltenden BOEHRINGER AG belegt dies: „BAYER und PROGIL haben auf dem 2,4,5-T-Sektor seit Jahren (Vietnam) zusammengearbeitet“. Der Global Player bestreitet diese Kooperation nicht, hält allerdings fest: „Über die weitere Verwendung des Wirkstoffes bei der PROGIL liegen keine Erkenntnisse vor.“ In einer früheren Äußerung zu diesem Thema räumt er hingegen durchaus die Möglichkeit ein, „dass Tochter-Unternehmen beziehungsweise Drittfirmen 2,4,5-T-haltige Pflanzenbehandlungsmittel auf den amerikanischen Markt brachten“.
Andere Agro-Chemikalien wie Agent Green, Zineb und Dalapon verkaufte das Unternehmen dem Militär ebenfalls. Teilweise legten die Substanzen dabei einen weiten Weg zurück. Einige von ihnen gelangten über Konzern-Niederlassungen in den damals autoritär regierten Staaten Spanien und Südafrika zur US-Tochter CHEMAGRO und von dort dann zu den Militärbasen. Die Zeitschrift International Defense Business konnte für das Jahr 1972 sogar genau den Wert von BAYERs Kriegsbeitrag beziffern: Rund eine Million Euro stellte die Aktiengesellschaft für die verschiedenen Chemikalien in Rechnung.

ExpertInnen des Unternehmens standen der US-Army gemeinsam mit ihren KollegInnen von HOECHST aber auch direkt vor Ort mit Rat und Tat zur Seite. Als medizinische HelferInnen getarnt, arbeiteten sie dem US-amerikanischen Planungsbüro für B- und C-Waffeneinsätze in Saigon zu. Die transatlantische Kooperation vermochte sich dabei sogar auf alte Verbindungen zu stützen: Die Abstimmung zwischen US-amerikanischen und bundesdeutschen Chemie-Firmen übernahm die GENERAL ANILINE AND FILM CORPORATION, eine ehemalige US-Tochter des von BAYER mitgegründeten Mörder-Konzerns IG FARBEN.

Erster Weltkrieg
Zu diesem Zeitpunkt verfügte der Global Player bereits über einen Erfahrungsschatz auf dem Gebiet, der bis zum Ersten Weltkrieg zurückreichte. Schon in den ersten Wochen der Kämpfe erschienen der Armee-Führung die verwendeten Waffen nämlich nicht durchschlagskräftig genug. Die Oberste Heeresleitung suchte deshalb gemeinsam mit dem Chemiker Walther Nernst nach Möglichkeiten zur Erhöhung der Geschoss-Wirksamkeit. Als es an die praktische Umsetzung ging, kam der Leverkusener Multi ins Spiel. Und sein damaliger Generaldirektor Carl Duisberg verlor keine Zeit und drückte aufs Tempo, damit „die Chemie die ihr in der modernen Kriegsführung zukommende Rolle spielen“ kann. „Ich bin seit Ende Oktober 1914 zusammen mit Nernst, der (…) der Obersten Heeresleitung zugeteilt ist, auf dem Wahner Schießplatz tätig gewesen, chemische Reizgeschosse zu machen“, schrieb er in einem Brief. Bald danach konnte der Konzern liefern: Mit dem Reizstoff Dianisidin hatte BAYER die erste chemische Waffe für die deutschen Truppen entwickelt. Dabei handelte es sich noch nicht um ein Gift. Die Substanz wirkte „nur“ kurzzeitig auf die Schleimhäute ein. Die Armee wollte den Feind mit ihrer Hilfe überraschen und dann sofort unter Beschuss nehmen, um ihn aus gehaltenen Häusern, von Gehöften oder engeren Ortschaften zu vertreiben. Aber bei solchen begrenzten Wirkungen blieb es nicht. „Es ist uns jedoch auch die Frage vorgelegt worden, wie man es aufgrund unserer jetzt gemachten Erfahrungen anstellen müsste, wenn man eine vollkommene Vergiftung des Gegners auf chemischen Wege durchführen wollte“, berichtete Duisberg als führender Industrieller der „Beobachtungs- und Prüfungskommission für Sprengungs- und Schießversuche“ – und hatte auch bald eine Antwort parat: Blausäure.

Die Büchse der Pandora war also geöffnet, zumal sich Dianisidin an der Front nicht bewährte. Zum ersten Mal bei Neuve-Chapelle in der Nähe von Ypern der Sprengmunition beigemischt, bemerkten die französischen Soldaten die chemische Wirkung der 3.000 verfeuerten Granaten gar nicht.

„Versuche mit neuen Geschossen“ beschäftigten Duisberg im Herbst 1914 nach eigenem Bekunden täglich, und das „schon seit Wochen“. Besonders der sich abzeichnende Stellungskrieg, in dem die Kontrahenten sich aneinander festbissen, ohne dass eine Seite größere Geländegewinne erzielen konnte, trieb die Forschung an. Um die Patt-Situation zu beenden, galt es nämlich, „die große, schwierige Frage der Verpestung der Schützengräben mit chemischen Substanzen der Lösung näherzubringen“, wie der BAYER-Generaldirektor Gustav Krupp von Bohlen und Halbach mitteilte. Die Entwicklung solcher Kampfgase gelang dem Leverkusener Multi auch, und nicht nur das. „So habe ich unsere Fabrik zu Kriegslieferungen umorganisiert, mache Sprengstoffe aller Art, fülle Granaten und bin außerdem persönlich mit Nernst zusammen mit Versuchen beschäftigt, Spezialgeschosse anzufertigen“, vermeldete Carl Duisberg stolz. Eine dieser Entwicklungen pries er der Obersten Heeresleitung gegenüber so an: „Dieses Chlorkohlenoxyd ist das gemeinste Zeug, das ich kenne (…) Ich kann deshalb nur noch einmal dringend empfehlen, die Gelegenheit dieses Krieges nicht vorübergehen zu lassen, ohne auch die Hexa-Granate zu prüfen.“ Und sogar zur Namensgebung durfte der Konzern manchmal beitragen. „Lost“ hieß ein Senfgas zu Ehren des BAYER-Forschers Wilhelm Lommel und seines Kooperationspartners Wilhelm Steinkopf vom „Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie“.

Nur die Chlorgas-Wolke, die am 22. April 1915 in Ypern erstmals zum Einsatz kam und 800 bis 1.400 Menschenleben forderte, stammte nicht aus Leverkusen. Fritz Haber vom Kaiser-Wilhelm-Institut hat diese Waffe entwickelt, die zum Synonym für die Grausamkeit des Chemie-Krieges wurde (1). Sie durchlief ihre Testphase zwar in Köln-Wahn, und Duisberg versuchte auch, auf ihre Fertigung Einfluss zu nehmen, aber letztendlich betrachtete er das Chlor-Gebräu als Konkurrenz zu den eigenen Kreationen. Zynisch und hintersinnig schrieb er von den „‚chlorreichen Siegen’ von Ypern, denen aber leider weitere (…) nicht gefolgt sind“, um so Reklame für die Erzeugnisse aus seinem eigenen Chemiebaukasten zu machen. Und tatsächlich konnte die Wolke die BAYER-Hervorbringungen nicht vom Markt drängen. Die erprobte Leverkusener „Science for Death“ erwies sich letztendlich als überlegen.

Die Zeit des Faschismus
Auch die NationalsozialistInnen versorgte BAYER mit Waffen aus diesem Arsenal. „Angesichts des schweren Schadens, den der Konzern durch den internationalen Aufschrei über Entwicklung und Einsatz chemischer Waffen im Ersten Weltkrieg erlitten hatte, hätte man erwarten können, dass er sich von solchen Projekten ferngehalten hätte“, schreibt der Historiker Diarmuid Jeffreys in seinem Buch „Weltkonzern und Kriegskartell“. Aber der Leverkusener Multi kannte so wenig Skrupel wie die anderen Unternehmen, die damals unter dem Dach der IG FARBEN firmierten.

Einige der Kriegswerkzeuge fielen bei der Pestizid-Forschung als Abfall-Produkte an. So wollte der BAYER-Chemiker Gerhard Schrader neue Insektizide entwickeln und experimentierte dazu mit einer Kombination aus Phosphor-Verbindungen und Zyanid. Er vergiftete sich dabei jedoch selbst und war wochenlang ans Bett gefesselt. Spätere Versuche brachten noch stärkere Mittel hervor. Zur Ausbringung gegen Schadinsekten waren sie nicht geeignet. BAYER lotete deshalb andere Einsatz-Möglichkeiten aus und diente sie dem Heereswaffenamt für den „Chemical warfare“ an. Dieses zeigte sich interessiert, woraufhin Schrader das Nervengas Tabun zusammenbraute. 50.000 Reichsmark erhielten er und ein Kollege dafür von der Wehrmacht. Auf eine ähnliche Weise entstand Sarin. Und wieder floss der EntdeckerInnen-Stolz in die Namensgebung ein. In der Bezeichnung „Sarin“ für die farblose Flüssigkeit verewigten sich Gerhard Schrader, Otto Ambros und Gerhard Richter sowie ihr Kooperationspartner Hans-Jürgen von der Linde vom Heeresgasschutz-Laboratorium.

Die Chemiewaffen-Fertigung lief Ende 1936 an. Eine Tabun-Produktion im industriellen Maßstab baute die IG FARBEN Anfang 1940 in Dyhernfurth auf; das Geld dazu kam vom Oberkommando des Heeres. 12.000 Tonnen Tabun stellte das Werk dort über die Jahre her, zudem bis zu 400 Tonnen Sarin und zusätzlich noch Soman. Bei der Standort-Wahl spielte die Nähe zum KZ Groß-Rosen eine entscheidende Rolle, denn aus diesem wollten die IG-Bosse ZwangsarbeiterInnen rekrutieren. Den Gefangenen überließ Betriebsführer Otto Ambros, der im NS-Staat die Position des Wehrwirtschaftsführers für chemische Kampfstoffe innehatte, dann auch die gefährlichsten Arbeiten. Sie waren es, die das Gift in die Bomben und Granaten zu füllen hatten und dabei ihr Leben riskierten. Weit über 300 Unfälle ereigneten sich in Dyhernfurth, zehn mit Todesfolge. Aber nicht nur an diesem Ort nahe Breslau kreierte die IG FARBEN chemische Waffen. In Gendorf unterhielt sie eine weitere Anlage. Dort setzten die ChemikerInnen aus Thiodiglycol und Chlorwasserstoff Lost zusammen. Auch Sarin wollte das Unternehmen synthetisieren, konnte die Betriebsstätte in Falkenhagen aber nicht mehr rechtzeitig vor Ende des Krieges fertigstellen. Weitere Kampfstoffe lieferten dagegen unter anderem die Niederlassungen in Hüls, Ludwigshafen, Trostberg und Schkopau. Insgesamt standen den Waffenlagern der NS-Militärs 61.000 Tonnen Kampfstoffe zur Verfügung. Über 40 Prozent davon steuerte die IG bei: 25.000 Tonnen.

Und es blieb nicht dabei, den KZ-InsassInnen die riskantesten Tätigkeiten bei der Fabrikation der Nervengifte zuzuteilen, sie mussten überdies als Versuchskaninchen bei den Chemiewaffen-Tests herhalten. Die Prozeduren, mit denen die ForscherInnen genaueren Aufschluss über die Wirksamkeit und Anhaltspunkte zur Entwicklung von Gegenmitteln erhalten wollten, fanden beispielsweise in den Konzentrationslagern Natzweiler, Dachau, Neuengamme und Sachsenhausen statt. In Natzweiler leitete Prof. Dr. August Hirt die Experimente mit Lost. Beim Nürnberger ÄrztInnen-Prozess hat der ehemalige Häftling Ferdinand Holl die Tortur genau beschrieben. „Nach ungefähr zehn Stunden oder es kann auch etwas länger gewesen sein, da stellten sich Brandwunden ein, am ganzen Körper. Da, wo die Ausdünstungen von diesem Gas hinzukamen, war der Körper verbrannt. Blind wurden die Leute zum Teil. Das waren kolossale Schmerzen, so dass es kaum noch auszuhalten war, sich in der Nähe dieser Kranken aufzuhalten“, so zitiert Jo Angerer in seinem Buch „Chemische Waffen in Deutschland“ die ZeugInnen-Aussage. Die Bilanz am Ende allein bei diesem Test: acht Menschen starben. Aber für Hirt lohnte sich das Morden. Die NS-Schergen verliehen ihm für die „Kampfstoff-Versuche am lebenden Objekt“ das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern.
Zum Einsatz kamen die Chemie-Waffen letztlich nicht. Es war allerdings nicht Hitlers eigene Lost-Vergiftung im Ersten Weltkrieg auf einem Schlachtfeld bei Ypern, die zu dem Verzicht führten. Der Diktator hielt den „Chemical warfare“ durchaus für ein Mittel der Wahl. Am 30. Juni 1942 gab er den Befehl, bis zum Frühjahr 1943 alle Vorbereitungen für einen Kriegseinsatz von Lost & Co. abzuschließen. Aber eine Besprechung am 15. Mai 1943, an der auch Otto Ambros teilnahm, stimmte ihn um. Ambros glaubte fälschlicherweise, es sei den Alliierten ein Leichtes, selber Tabun herzustellen und sah – ebenfalls ein Irrtum, wie sich nachher herausstellen sollte – in dem Ausbleiben von US-amerikanischen Forschungspublikationen zu Nervengasen seit Beginn des Kriegs ein Indiz für geheime Entwicklungsarbeiten. Diese Fehleinschätzungen des IG-Managers trugen wesentlich dazu bei, Hitler und seine Gefolgsleute davon abzubringen, die Flugzeuge der Luftwaffe mit den Chemie-Bomben und -Granaten zu bestücken. Zudem fürchteten die Nazis, die Waffenlager wegen des Rohstoffmangels nicht in ausreichendem Maß mit den Kampfstoffen füllen zu können.

Nur eine chemische Massenvernichtungswaffe setzten die FaschistInnen großflächig ein: ZYKLON B. Zu den Hauptherstellern des ursprünglich zum Einsatz gegen Schadinsekten bestimmten Produkts gehörte die DEUTSCHE GESELLSCHAFT ZUR SCHÄDLINGSBEKÄMPFUNG (DEGESCH), eine 42,5-prozentige Tochter der IG FARBEN. Das in den Todesfabriken dringend benötigte Mordinstrument bescherte der DEGESCH satte Gewinne. So heißt es im Geschäftsbericht für 1943: „Den wesentlichen Anteil an der Umsatz-Steigerung hatte die Entwicklung des ZYKLON-Geschäfts. Die ZYKLON-Umsätze erreichten im Berichtsjahr die Rekordhöhe von RM 1.664.000 (…); der Umsatz hat sich somit gegenüber dem Vorjahre um 64 % erhöht.“

Nach 1945
Für diese Mittäterschaft am Holocaust, am Weltkrieg und anderen Verbrechen der Nazis verurteilten die RichterInnen bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen nur dreizehn IG-Beschäftigte, und keiner von ihnen musste seine Haftstrafe ganz absitzen. Gerhard Schrader blieb eine Vorladung ganz erspart. Die Alliierten unternahmen nichts, um die ForscherInnen mit den tödlichen Begabungen für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Sie versuchten vielmehr, von dem gefährlichen Wissen zu profitieren und Hitlers willige Helfer abzuschöpfen. Die Militärs zogen nach dem Krieg die ganze Wissenschafts-elite der Nazis auf Schloss Kransberg im Taunus zusammen. Die IG FARBEN stellte dabei das größte Kontingent. „Die chemischen Nervenkampfstoffe stießen bei den Engländern und Amerikanern auf größtes Interesse, Vergleichbares besaßen sie in ihren Arsenalen nicht. Schrader und Konsorten mussten deshalb in Kransberg bis in die kleinsten Details Aufzeichnungen über die Synthese ihrer Ultragifte anfertigen“, schreiben Egmont R. Koch und Michael Wech in ihrem Buch „Deckname Artischocke“ (siehe auch SWB 1/03). Gerhard Schrader war den US-ExpertInnen dabei sogar so wertvoll, dass sie ihn mit in die Vereinigten Staaten nahmen. In Diensten des „Chemical Corps“ der US-Streitkräfte konnte er seine Arbeit fortsetzen. In den 1950er Jahren kehrte Schrader dann in die Bundesrepublik – und zu BAYER – zurück. Er übernahm beim Leverkusener Multi die Pestizid-Abteilung, beschäftigte sich aber auch weiterhin mit kriegsverwendungsfähigen Erträgen aus der Ackergift-Forschung.

Recherchen von Günter Wallraff und Dr. Jörg Heimbrecht brachten dies im Jahr 1969 ans Licht. Heimbrecht nahm sich Schraders Buch „Die Entwicklung neuer insektizider Phosphorsäure-Ester“ vor und schaute sich einige der dort beschriebenen Stoffe genauer an. So vertiefte er sich etwa in die Struktur-Formel eines Phosphonsäure-Esters, den Schrader gemeinsam mit seinen beiden Kollegen Ernst Schegk und Hanshelmut Schlör 1957 in der Bundesrepublik und 1959 in den Vereinigten Staaten zum Patent angemeldet hatte. „Mir fiel auf, dass diese Verbindung als chemischer Kampfstoff in der ‚Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen’ von 18.7.1969 enthalten war“, lautete sein Befund. Das führte dann zu weiteren Entdeckungen. „Literatur-Recherchen in der Bibliothek des Chemischen Instituts der Uni Bonn ergaben, dass BAYER eine ganze Reihe von Substanzen in deutschen und amerikanischen Patenten hat patentieren lassen, die nach Definition der ‚Kriegswaffen-Liste’ zu den chemischen Kampfstoffen zählen. Bei weiteren Recherchen fiel mir auf, dass auch die US-Nervenkampfstoffe VE, VM, VS, VX und SM nach den o. g. Patenten von BAYER erfunden wurden“, hielt Heimbrecht fest.
Der Leverkusener Chemie-Multi kam deshalb nicht umhin, 1984 in seiner Hauszeitschrift BAYER intern einzuräumen, dass es „innerhalb dieses BAYER-Patentes (…) eine Übereinstimmung von Formeln mit einigen US-amerikanischen Kampfstoffen gibt“. Der Konzern bestritt jedoch, nach diesen Formeln selber Chemie-Waffen hergestellt oder das Recht dazu dem US-Militär gegen die Zahlung einer Lizenz-Gebühr abgetreten zu haben. Wie es dennoch zur Produktion von VX-Waffen kommen konnte, erklärte der damalige Unternehmenssprecher Jürgen von Einem mit einem Ausnahme-Passus im US-amerikanischen Patentrecht. Wenn ein übergeordnetes patriotisches Interesse bestehe, erlaube der Paragraf den zwangsweisen Zugriff auf das geistige Eigentum Dritter, ohne diese zu informieren und zu entschädigen, so von Einem. ExpertInnen ziehen das in Zweifel. Dem Münchner Patentanwalt Dr. Rolf Wilhelms zufolge existiert die entsprechende Regelung zwar, werde aber nur äußerst selten in Anspruch genommen und sehe außerdem sehr wohl eine finanzielle Kompensation etwa in Höhe der sonst üblichen Lizenz-Gebühren vor.

Günter Wallraff und Jörg Heimbrecht stützten sich bei ihrer Arbeit auf Informationen von Dr. Ehrenfried Petras. Der Mikrobiologe leitete in den 1960er Jahren ein Labor des „Instituts für Aero-Biologie“ im sauerländischen Grafschaft, welches er immer mehr für Kampfstoff-Forschungen missbraucht sah. Die Rüstungsanstrengungen der Bundeswehr im Kalten Krieg beunruhigten ihn so sehr, dass er sich entschloss, in die DDR überzusiedeln und die Pläne öffentlich zu machen. Sein Wissen über die illegalen Aktivitäten – die Bundesrepublik hatte sich 1954 beim Beitritt zur Westeuropäischen Union zu einem Verzicht auf die Herstellung biologischer und chemischer Waffen verpflichtet – legte Petras in der Broschüre „Bonn bereitet den Giftkrieg vor“ dar. Zudem gab er eine Erklärung zu dem Sachverhalt ab. Als „ein straff organisiertes System von Forschung, Testung und Produktionsvorbereitung“ bezeichnet Ehrenfried Petras das militärische Projekt darin. Dazu gehörte auch, alle Maßnahmen zu treffen, um im Verborgenen operieren zu können: „Zu Zwecken der Geheimhaltung und Tarnung hat das westdeutsche Bundesverteidigungsministerium von Anfang an bei der Wiederaufrüstung Wert darauf gelegt, seine militärische Forschung weitgehend in den bestehenden zivilen Forschungseinrichtungen der westdeutschen Chemie-Konzerne, Universitätsinstitute und anderen Forschungseinrichtungen durchführen zu lassen.“

Eine wichtige Rolle dabei kam BAYER zu. Der Konzern fungierte als Schaltzentrale, koordinierte die ganzen Abläufe und produzierte nicht zuletzt viele der Chemikalien. So lieferte das Unternehmen dem „Institut für Aero-Biologie“ etwa Zephirol für Tests zur Desinfektion von Kriegsschauplätzen. Das geschah jedoch auf Umwegen. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, gelangte der Stoff über Dr. Max von Clarmann, Leiter der bundesdeutschen Entgiftungszentrale vom Münchner Krankenhaus rechts der Isar, nach Grafschaft. Auch organische Phosphor-Verbindungen des Chemie-Riesen prüfte das Institut. Und das VX, mit dem es arbeitete, dürfte Gerhard Schrader in seinem Labor entwickelt haben.
Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Feldversuche mit den verschiedenen Substanzen unternahm dann die Bundeswehr in ihrer Erprobungsstelle E 53 bei Munster. „Aufgrund dieser wissenschaftlichen Ergebnisse (…) ist die moderne chemische Industrie der westdeutschen Bundesrepublik (zum Beispiel die IG-FARBEN-Nachfolgeunternehmen BAYER AG, BASF und HOECHST) in der Lage, kurzfristig größere Mengen des von der Bundeswehr benötigten Kampfstoffes herzustellen und auszuliefern“, erläuterte Petras.

Zum „Institut für Aero-Biologie“, später unter den Bezeichnungen „Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Aerosol-Forschung“ und „Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin“ firmierend, unterhielt der Leverkusener Multi noch lange Zeit Verbindungen. „Ich glaube, wir haben gar keinen Grund, uns in irgendeiner Weise von den durch die Fraunhofer-Gesellschaft geförderten Projekten, die ja im Interesse unseres Staates sind, zu distanzieren“, zitiert Jo Angerer in seinem 1985 erschienenen Werk dazu BAYERs Hellmut Hoffmann.
Hoffmann ist ein Mann vom Fach. Der damalige Forschungsleiter der Pestizid-Abteilung hatte nach eigenem Bekunden an der Entwicklung von Lost und Sarin mitgearbeitet. In den Augen der Politik qualifizierte ihn das dafür, den verschiedenen Bundesregierungen in den 1980er Jahren bei den Verhandlungen zum Chemiewaffen-Übereinkommen der Vereinten Nationen als Berater zu dienen. Unter anderem arbeitete Hoffmann daran mit, Kriterien zur Bestimmung von Kampfstoff-Fertigungsstätten zu entwickeln. Das scheiterte allerdings, denn eindeutige Merkmale waren ihm zufolge nicht zu finden. „Die gibt es nicht. Wir hatten gewusst, wenn man das macht, dass man alle Anlagen genehmigungspflichtig machen muss für den Export.“ Und das konnte natürlich nicht im Interesse des Leverkusener Multis sein, der damals gutes Geld mit der Entwicklung solcher Fabriken für den ausländischen Markt verdiente.
So unterhielt er beispielsweise gute Geschäftsbeziehungen zum Iran. Der Staat begann in den 1980er Jahren mit Planungen zu einem großen Chemie-Komplex mit angeschlossener Pestizid-Produktion nahe der Stadt Ghaswin. An das Anwendungsgebiet „Landwirtschaft“ dürfte das Land in Zeiten des Ersten Golfkrieges, in denen der irakische Gegner auch Tabun, Sarin und Lost einsetzte, kaum gedacht haben. Trotzdem verkaufte das Unternehmen dem Land 1984 Lizenzen zur Fertigung von Azinphos-Methyl und Fenitrothion, einer chemiewaffen-fähigen Substanz aus der berühmt-berüchtigten Gruppe der Phosphorsäure-Ester. Die Aufsichtsbehörden genehmigten den Deal, rieten dem Konzern aber von weiteren Transaktionen im Zusammenhang mit Ghaswin ab. Der Chemie-Riese hielt sich allerdings nicht daran. Ab 1987 lieferte er eine Anlage zur Herstellung von Ackergiften in den Iran. Für alle Bauten vermochte der für die technische Koordination in Ghaswin zuständige LURCHI-Konzern Genehmigungen vorlegen, nur für die von BAYER nicht – aus gutem Grund. „‚Das Endprodukt‘ könnte ‚auch zur Bekämpfung von Warmblütern‘ eingesetzt werden und ‚damit als Kampfgas dienen‘“, zitierte der Spiegel aus einem Schreiben der Kölner Oberfinanzdirektion. Die Behörden leiteten in der Sache dann auch Ermittlungen ein. Im Zuge dessen führten FahnderInnen Ende 1989 Razzien in den Dormagener, Leverkusener und Monheimer Niederlassungen des Agro-Riesen durch und stellten drei Dutzend Ordner mit Konstruktionsplänen sicher. Der Staatsanwalt stellte das Verfahren später jedoch ein.

Gefahren bis heute
Und mehr als 100 Jahre nach der Entwicklung der ersten chemischen Kampfstoffe gehen von ihnen immer noch Gefahren aus. Sie ruhen nämlich unfriedlich auf den Meeresgründen von Ostsee und Nordsee. Mehr als 1,5 Millionen Tonnen von Munition, Bomben und Granaten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg lagern dort, was Mensch, Tier und Umwelt bedroht. Da die Metall-Umhüllung der Chemie-Waffen mittlerweile durchrostet, treten die Gifte nämlich aus. Aus dem Senfgas beispielsweise bilden sich Klumpen, die nicht selten FischerInnen ins Netz gehen – häufig mit fatalen Auswirkungen. Der Phosphor hingegen wird immer wieder an die Strände gespült. Dort verwechseln ihn Bade-UrlauberInnen wegen seiner Farbe und Form dann allzu oft mit Bernstein. Sie stecken die Stücke ein und ziehen sich zum Teil schwere Verbrennungen zu, weil sich der Phosphor, sobald er trocken ist, leicht entzünden kann.
Der Biologe Dr. Stefan Nehring bezifferte die Zahl der Sterbefälle Ende 2015 auf 418. Bei den meisten Toten handelt es sich dabei um Seeleute oder FischerInnen, die durch Detonationen von See-Minen oder den Direkt-Kontakt mit den Chemie-Giften umkamen. Darüber hinaus führt Nehring 720 Personen auf, die durch die Altlasten Gesundheitsschäden erlitten. Inzwischen haben viele Urlaubsorte Warnschilder aufgestellt. Zudem suchen MitarbeiterInnen von Kampfstoff-Bergungsfirmen die Strände an einigen Küsten-Streifen regelmäßig nach Phosphor ab. Aber das ist noch nicht alles. „Daneben gehen erhebliche Gefahren durch kontaminierte Fische aus“, hielt das Bundeslandwirtschaftsministerium bereits im Jahr 1992 fest. Die Chemie-Stoffe können nämlich über die Nahrungskette in den menschlichen Organismus gelangen und dort Krankheiten auslösen. „Wenn man alle Altlasten in einen Güterzug packte, würde er dreimal von Hamburg bis München reichen. Entsorgt kriegen die Räumdienste aber bislang vielleicht einen halben Waggon pro Jahr“, sagt der Meeres-Forscher Warner Brückmann.
In diesem Frühjahr steht das Thema auf der Tagesordnung des Bundestages. Den Anstoß dazu gaben die Grünen und die FDP, die in einem Antrag die Bergung der Altlasten gefordert hatten. Eine Kostenbeteiligung von BAYER bei der kostspieligen Operation sehen die Parteien nicht vor. Dafür tritt bisher nur die Coordination gegen BAYER-Gefahren ein. Es ist nämlich an der Zeit, dass der Konzern endlich einmal wenigstens etwas dafür zahlt, aus seinen Chemie-Laboren Waffen-Fabriken gemacht zu haben.

Anmerkung
(1) Als „Perversion der Wissenschaft“ bezeichnete Habers Frau Clara Immerwahr, die ebenfalls Chemikerin war, diese neue Waffe. Vergeblich hatte sie versucht, ihren Mann von seinem Tun abzubringen. Wenige Tage nach dem ersten Giftgas-Einsatz nahm sie sich das Leben. Haber aber, der 1911 schon gemeinsam mit Carl Bosch das kriegswichtige, sogenannte Haber/Bosch-Verfahren entwickelt hatte – es ermöglichte die synthetische Herstellung von Salpeter und machte das Deutsche Reich so von Importen unabhängig – ging seinen Weg unbeirrt weiter. 1917 gründete er den „Technischen Ausschuss für Schädlingsbekämpfung“, aus dem später die „Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“ (DEGESCH) hervorging. Hier sollten Habers Mitarbeiter Ferdinand Flury und Albrecht Hase später das Zyklon B entwickeln, das die Nazis zur Ermordung der Juden einsetzten. Zu Zeiten der Weimarer Republik versuchte Haber überdies, aus Meerwasser Gold zu gewinnen, um dem Staat die Reparationszahlungen zu erleichtern. Ab 1925 saß der Wissenschaftler auch im Aufsichtsrat der IG FARBEN. 1933 aber musste er als Jude diesen Posten genauso aufgeben wie alle seine anderen. Er verließ das Land und starb 1934 in einem Baseler Hotel. An seiner Beerdigung nahmen zahlreiche IG-Direktoren teil.