Immer wieder kommt es in BAYER-Werken zu Unfällen und Katastrophen. Dass Beschäftigte, AnwohnerInnen und Umwelt dabei aufgrund glücklicher Umstände oftmals mit einem blauen Auge davonkommen, dafür ist die Beinahe-Kata¬strophe vom 7. November 1979 bei BAYER in Dormagen/Deutschland ein herausragendes Beispiel.
von Axel Köhler-Schnura
Dormagen, 7. November 1979, 19.50 Uhr. Es ist herbstlich dunkel, der Wind heult, es stürmt. Und es regnet in Strömen. Plötzlich beginnen in einem Gebiet von ca. 50 km Breite und ca. 200 km Länge nordwestlich von Dormagen die Sirenen zu heulen. In Stadt und Land rasen Polizeifahrzeuge mit Blaulicht und Sirene durch die Straßen. Über Radio und Lautsprecher werden die Menschen aufgefordert, nach Hause zu gehen, Fenster und Türen verschlossen zu halten, Mund und Nase mit nassen Tüchern zu schützen. Menschen fliehen panikartig aus dem betroffenen Gebiet. Rettungsfahrzeuge machen sich einsatzbereit.
Kleines Feuer auf dem Werksgelände
Was war geschehen? Im BAYER-Werk Dormagen war es nach Angaben eines Sprechers des Unternehmens in der „Pflanzenschutzabteilung“ zu einer „chemi¬schen Reaktion“ gekommen, die zu einer Verpuffung führte. Es handle sich aber „um harmloses Zeugs“. Und auch diese Meldung gab BAYER erst an die Behörden und die Öffentlichkeit, als die Feuerwehr am Katastrophenabend nach der Ursache der stinkenden Wolke fahndete. BAYER sprach zunächst von „einem kleinen Feuer auf dem Werksgelände“.
Doch weder war das Feuer „klein“, noch das „Zeug harmlos“. Und auch die Abteilung, um die es sich handelte, war nicht so harmlos, wie der in Industrie-deutsch geschönte Name vermuten lässt: Es handelte sich um die Pestizid-Abteilung in der mit Stoffen hantiert wird, die gemeinhin auch als chemische Waffen eingesetzt werden und deshalb für Mensch und Tier in kleinsten Mengen tödlich sind. Entsprechend gefährlich war denn auch das Gift das austrat. Es handelte sich um GUSATHION, ein hochgiftiges Pestizid, tödlich für den Menschen bereits in einer eingeatmeten Menge von ca. 390 mg pro Kubikmeter Luft. Der Grundstoff AZINOPHOS ist der gleiche, der auch für die Herstellung des hochgiftigen E605 und des berüchtigten BAYER-Nervenkampf¬stoffes aus dem II. Weltkrieg TABUN eingesetzt wird bzw. wurde.
Was BAYER und die Behörden verharmlosend einen „Störfall“ nannten, war tatsächlich eine ausgewachsene Katastrophe. Nachdem BAYER zunächst von „kleinen Mengen“ sprach, wurde nach und nach eine immer größere Menge zugegeben. Öffentlicher Druck und anhaltende Kritik erzwang schließlich am Tag nach dem Unfall das Eingeständnis, dass 575 kg ausgetreten waren. Diese Menge Gift hätte ausgereicht für den Tod von Tausenden von Menschen und Tieren. Wie groß die Menge des freigesetzten Giftes letztendlich tatsächlich war, wird sich nie klären lassen. Niemand außer BAYER selbst weiß, was sich damals hinter den Werksmauern wirklich abspielte.
Nur glückliche Umstände verhinderten den GAU
Trotz der Freisetzung nur „kleiner Mengen“ des „harmlosen Zeugs“ lösten die Behörden Katastrophenalarm für einen mehrere hundert Quadrat¬kilometer umfassenden Korridor in Windrichtung Nordwest aus, bis nach Belgien und die Niederlande hinein. Betroffen waren u.a. die deutschen Städte Neuss und Krefeld.
In den Polizeiwachen und Krankenhäusern standen die Telefone nicht still. In den Behörden spielten sich Dramen ab. Niemand wusste, wer eigentlich zuständig war, die Kompetenzen für solch einen „Störfall“ waren nicht geklärt. Obwohl das Riesen-Giftwerk unübersehbar vor der Haustüre stand, hatte sich niemand veranlasst gesehen, Vorsorge für einen Ernstfall wie die eingetretene Katastrophe zu treffen.
Menschen mit tränenden Augen und laufenden Nasen suchten verzweifelt Rat und Hilfe. Es konnte jedoch niemand helfen. BAYER gab zunächst noch nicht einmal den freigesetzten Stoff bekannt, die Krankenhäuser wurden zu keiner Zeit vom Konzern über geeignete Gegenmaßnahmen informiert, ob¬wohl dies möglich gewesen wäre. Immerhin verfügt der Konzern aufgrund seiner seit dem I. Weltkrieg bis heute andauernden Kampfstoff-Forschung über das weltweit größte Wissen über das Wirken von chemischen Giften auf den Organismus von Menschen und Tieren. In diesem Fall jedoch übte sich der Leiter der BAYER-Poliklinik in Dormagen in Zynismus und reagierte auf die Frage nach den Ursachen der auftretenden Übelkeit: „Den Menschen ist vor Angst schlecht geworden.“
Am 7. November 1979 war nicht nur Dormagen, ganz Europa war einer großen Chemie-Katastrophe nur knapp entgangen. Hätte nicht das Zusam¬mentreffen einer Vielzahl glücklicher Umstände das Gift wirkungslos werden lassen, die Katastrophe hätte in den entscheidenden Minuten nach 20.00 Uhr bereits zahlreiche Todesopfer gefordert.
* Stürmische Winde mit Geschwindigkeiten von 25 km/h verwirbelten die Gaswolke in aller kürzester Zeit, verdünnten so die Konzentration des Giftes und setzen damit die Giftigkeit des Gases stark und rasch herab.
* Zudem ist GUSATHION wasserlöslich. Es löste sich aufgrund des Regens aus der Luft, verband sich in den Regenwolken mit Wasser und regnete ab. Das minderte die Giftigkeit des Gases weiter und führte schließlich sogar zur Auflösung der Wolke.
* Es war „Tagesschau-Zeit“, die Menschen saßen in den wegen des nasskalten Herbstes zuhause vor dem Fernseher und waren weitestgehend der Gas¬wolke und den abregnenden Giften nicht direkt ausgesetzt.
Verlogene Versuche die Störfallverordnung zu verwässern
So blieb es bei toten Vögeln und Kleintieren, tränenden Augen und Nasen und bei einigen mit Vergiftungserscheinungen eingelieferten Opfern. Aber dennoch wurde in den folgenden Wochen ein Verzehr- und Handelsverbot für Gemüse aus dem gesamten betroffenen Gebiet verhängt und Millionen Tonnen Feldfrüchte mussten auf Giftmüll-Deponien als „Sondermüll entsorgt“ werden.
Niemals wurde eine exakte Zahl von Opfern veröffentlicht. Bis heute blieb ungeklärt, welche kurz- und langfristigen Folgen diese Beinahe-Katastrophe für die Menschen der betroffenen Region hatte. Auch nach dem Unfall wurde verschleiert, verharmlost und vertuscht. Für BAYER selbst gab es “zu keiner Zeit Gefahr für die Bevölkerung„. Auch die wissenschaftlichen Messungen in der Werksumgebung durch das Gesundheitsministerium waren nach BAYER-Ansicht “eigentlich unnötig, … das Gusathion sei vollständig zu ungiftigen Stoffen verbrannt.„ Verschwiegen wurde allerdings, dass Gusathion sich erst bei 200 Grad in ungefährliche Bestandteile auflöst.
Trotzdem machte das Schicksal dem BAYER-Konzern an jenem Abend noch einen besonderen Strich durch die Rechnung: Genau zur Zeit, als sich die GUSATHION-Wolke in Dormagen und Umgebung ausbreitete, saßen die Lobbyisten des Konzerns in Bonn im Ministerium und wollten mit verlogenen Argumenten GUSATHION auf die Liste der ungefährlichen Stoffe, die nicht den besonderen Vorschriften der “Störfall-Verordnung„ unterliegen, gesetzt haben. Ein Unterfangen, das angesichts der noch während der “Diskussion” ein¬setzenden Katastrophensirenen in Dormagen und Umgebung hinfällig wurde. Wobei es einmal mehr von der von BAYER praktizierten gemeingefährlichen Verharmlosung gegebener Gefahren zeugt, dass der Konzern GUSATHION auf die Liste der ungefährlichen Stoffe setzen lassen wollte.
(aus Unfall-Broschüre, 2008, CBG)