In Sachen „LIPOBAY“: Ex-Angestellte verklagt BAYER
Nach zahlreichen Meldungen über Todesfälle musste BAYER am 8. August 2001 den Cholesterinsenker LIPOBAY vom Markt nehmen. Wie gefährlich das Mittel ist, wusste der Leverkusener Pharma-Riese allerdings lange vorher. Darum verklagte eine ehemalige Angestellte den Konzern jetzt.
Von Jan Pehrke
Am 30. September 1998 standen bei einem BAYER-Meeting die Verkaufszahlen des Cholesterinsenkers LIPOBAY auf der Tagesordnung. Der damalige Pharma-Chef David Ebsworth zeigte sich enttäuscht über die Umsätze und schwor seine Mannschaft auf eine neue Werbe-Philosophie ein. „Andere Unternehmen greifen zu einer aggressiven Werbestrategie, gemäß der Devise: Wir wissen nicht, wo die rechtliche Grenze ist, bis wir auf sie gestoßen sind‘. Man muss das nicht gutheißen, aber es ist die Regel des Marktes und deshalb haben wir als Unternehmen ihr zu folgen. Die Zone ist grauer, als wir bislang wahrhaben wollen“, sprach der Manager.
Fortan betrieb der Global Player in Sachen „LIPOBAY“ die Ausweitung der Grauzone und ging dabei buchstäblich über Leichen. Der Konzern verharmloste die Risiken des Medikamentes, fälschte die Daten der klinischen Tests und kaufte MedizinerInnen. Die Marketing-Expertin Susan Blankett* erlebte das alles hautnah mit. Immer wieder versuchte sie, das gefährliche Spiel zu unterbinden, aber mit den Konzern-Bossen war nicht zu reden. Im April dieses Jahres entschloss sich Blankett schließlich, auszupacken und damit zum „whistleblower“ zu werden. Sie strengte gegen den Leverkusener Multi einen Prozess an. Die Klageschrift umfasst über 170 Punkte und bietet einen erschreckenden Einblick das Herz der Finsternis eines Pillen-Riesen.
Wer bislang vielleicht geglaubt hatte, ein Pharma-Hersteller müsste – wenn schon nicht aus Sorge um die PatientInnen, dann doch wenigstens um das eigene Ansehen – ein Interesse daran haben, das sicherstmögliche Medikament anzubieten, sieht sich nach der Lektüre des über 50-seitigen Dokumentes von seiner Gutgläubigkeit kuriert. Nach der Brandrede von Ebsworth bildete der Global Player für LIPOBAY ein Team aus den verschlagensten Marketing-Profis. Es stellte unter der Überschrift „The Science for Success“ fragwürdige Daten zusammen, wählte für die „Risiken und Nebenwirkungen“ die kleinste Schrift und nahm dafür eine Verwarnung seitens der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA billigend in Kauf. Bis die Institution reagieren würde, hätte man schon längst eine andere Kampagne in den Startlöchern, so das Kalkül, das auch aufging.
Anfang 1999 tauchten dann erste Meldungen über Muskelzerfall bei LIPOBAY-PatientInnen auf. Wegen dieser so genannten Rhabdomyolyse, die zu akutem Nierenversagen führen kann, musste BAYER das Mittel im August 2001 schließlich vom Markt nehmen. Hätte der Leverkusener Multi bereits nach dem Bekanntwerden der ersten Fälle gehandelt, wären über hundert Menschen am Leben geblieben. Aber den Konzern interessierte zu diesem Zeitpunkt nur, ob von den Konkurrenzpräparaten eine ähnliche Gefahr ausgeht. Susan Blankett erhielt den Auftrag, bei der FDA die entsprechenden Informationen einzuholen. Aus freien Stücken erkundigte sie sich auch nach den LIPOBAY-Nebenwirkungen und erfuhr Besorgniserregendes. Der hauseigene Cholesterinsenker sorgte für weit mehr Gegen-Anzeigen als vergleichbare Arzneien, was kein Wunder war, überstieg die Statin-Dosis von 0,3 Milligramm damals doch die der anderen Medikamente um einiges.
Kombinationswirkungen
Blankett mahnte deshalb in ihrem Bericht neue Untersuchungen an. Diese vermied BAYER jedoch tunlichst. „Was wir nicht wissen, brauchen wir der FDA auch nicht zu erzählen“ – an diese Maxime hielten sich die Pharma-ManagerInnen Blankett zufolge immer in solchen Fällen und strichen die entsprechende Text-Passage, um vor den juristischen Folgen ihrer Unterlassungssünde gewappnet zu sein. Auf die im Report erwähnten LIPOBAY-kritischen Artikel reagierten die Bosse ebenfalls nicht. Eine wenig später im AMERICAN JOURNAL OF CARDIOLOGY veröffentlichte Untersuchung über Rhabdomyolyse als Kombinationsnebenwirkung von LIPOBAY und Gemfibrozil-haltigen Arzneien rief hingegen eine Reaktion hervor: BAYER kaufte sich als „Opinion Leader“ geltende Professoren und schrieb in deren Namen einen alle Bedenken zerstreuenden Leserbrief an die Fachzeitschrift. Dann folgte eine Presseerklärung, in der der Pillen-Riese LIPOBAY und Fibrate wie Gemfibrozil wider besseren Wissens als das ideale Paar pries.
Schließlich wurde dem Konzern die Sache jedoch zu heiß. Er beschloss, sich abzusichern und die MedizinerInnen in einem Schreiben auf die möglichen Gemfibrozil-Komplikationen hinzuweisen. Nur lesen sollten es möglichst wenige. Also suchte der Multi die Adressaten sorgfältig aus. Zudem schickte er den Brief nicht wie geplant Anfang Dezember 1999 ab, sondern erst am 17., in der Hoffnung, er würde im allgemeinen Feiertagstrubel untergehen. Rückfragen der ÄrztInnen beantwortete BAYER erst gar nicht. Blankett zufolge galt das Schweigegebot: „Less said the better“. Eine ausdrückliche Warnung, den Cholesterinsenker nicht gemeinsam mit Gemfibrozilen zu verschreiben, erfolgte erst zwei Jahre später unmittelbar vor dem LIPOBAY-Aus. BAYER testete nämlich gerade selber eine Kombination von LIPOBAY mit dem von ABBOTT hergestellten Fibrat TRICOR und konnte deshalb keine schlechte Presse gebrauchen.
Viel hilft viel
Aber nicht nur für Gemfibrozil-PatientInnen stellte das BAYER-Statin eine Gefahr dar, auch Nierenkranke setzte es einer Bedrohung aus. Nichtsdestotrotz erhöhte das Unternehmen die ohnehin schon kräftige Dosis und pushte im August 2000 eine 0,8mg-Version auf den Markt. Mit einer Erfolgsquote von 84 Prozent bei den Kranken warb der Konzern, obwohl die ÄrztInnen-Information nur Werte von 53 bis 79 Prozent auswies und selbst hinter diesen Zahlen ein Fragezeichen steht, denn der Cholesterinspiegel einiger Test-TeilnehmerInnen war praktischerweise schon vor der LIPOBAY-Gabe im grünen Bereich.
Nach offizieller Maßgabe sollten die MedizinerInnen ihren PatientInnen zunächst die 0,4-Version verschreiben und erst nach eine Weile auf die 0,8er umstellen. Aber die Pharma-VertreterInnen hüteten sich davor, den ÄrztInnen ausdrücklich von einem Einstieg mit der höheren Dosis abzuraten. „Den Doktoren steht immer frei, das zu tun, was sie wollen“, hieß es in der Marketing-Abteilung. Der Leverkusener Multi hoffte nämlich auf das „Viel hilft viel“ und wollte LIPOBAY durch die Verdoppelung der Cerivastatin-Konzentration einen uneinholbaren Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen. Dass die stärkere Formulierung das Rhabdomyolyse-Risiko noch einmal beträchtlich erhöhte, nahm das Management dabei billigend in Kauf. Als ein Mitarbeiter bei einer Besprechung Sicherheitsbedenken geltend machte, erklärte BAYERs heutiger Forschungsvorstand Wolfgang Plischke das Meeting kurzerhand für beendet und verließ fluchtartig den Raum. Erst eine bevorstehende Risiko-Analyse der FDA veranlasste den Konzern dazu, das Praxis-Wissen über die Nebenwirkungen von LIPOBAY abzufragen. Obwohl das Ergebnis niederschmetternd war, folgte keine Aufklärungskampagne. Der Pharma-Riese spielte weiter auf Zeit und gab lieber weitere ÄrztInnen-Befragungen in Auftrag. Nur Roger Celesk von der Abteilung für Arzneimittelsicherheit wagte es bei einem Meeting in seinen einleitenden Worten, die in den USA bezeichnenderweise „field force“ genannten Außendienst-MitarbeiterInnen über die Sicherheitslage in Kenntnis zu setzen, weshalb er seine vorbereitete Rede nicht mehr halten durfte.
So erhielten die Pharma-VertreterInnen weiterhin geschönte Statistiken und Diagramme, BAYER-intern als „homemade bread“ – selbstgebackenes Brot – bezeichnet. „Ich habe noch nie einen Datensatz gesehen, der mir nicht gefallen hätte“, brüstete sich der Marketing-Direktor Eric Pauwels bei dieser Gelegenheit. Susan Blanketts Proteste blieben dagegen wirkungslos. Das gehe sie nichts an, sie solle sich da raushalten, bekam sie nur zu hören.
Geld hilft noch mehr
Parallel zu den Lieferungen perfekter LIPOBAY-Daten aus der BAYER-Versuchsküche entfalteten die Pillen-DreherInnen diverse Marketing-Aktivitäten. So verpflichtete der Konzern MedizinerInnen für Beobachtungsstudien mit dem Cholesterinsenker. Vordergründig ging es um die Wirksamkeit von LIPOBAY, in Wirklichkeit dienten die Tests, die den MedizinerInnen jeweils 750 Dollar einbrachten, nur dem Zweck, neue KundInnen für das Präparat aus Leverkusen zu gewinnen. „Ändern die ÄrztInnen bei den TeilnehmerInnen ihr Verschreibungsverhalten?“, diese Frage trieb den Pharma-Riesen bei dem Unterfangen um, und die AußendienstmitarbeiterInnen hatten sie zu beantworten: Die „Field Force“ war angehalten, der Zentrale genauestens über die „Konversion“ von Doktoren Bericht zu erstatten.
Darüber hinaus verschenkte der Multi Probepackungen en masse und initiierte Panels. 3.900 MedizinerInnen folgten dabei dem Lockruf des Geldes, um für eine Abendgage von 1.000 Dollar Vorträge über das Medikament zu hören. Diese wurden gehalten von den LIPOBAY-Verschreibungsweltmeistern unter ihren Kollegen. Ca. drei Millionen Dollar jährlich ließ BAYER sich diesen offiziell „Marktuntersuchung“ genannten Spaß kosten. Zur Produkteinführung des Cholesterinsenkers mit der 0,8mg-Wirkstoffkonzentration richtete BAYER dann Ende 2000 für 600 MedizinerInnen eine große Sause bzw. ein Symposion aus. Darüber hinaus fand der Global Player für ein Jahressalär von 100.000 Dollar in Antonio Gotto auch noch einen willigen Mediziner zur LIPOBAY-Lobpreisung auf allen Kanälen.
Der Rückruf
Aber dann brach das Kartenhaus doch zusammen. Keine noch so gut frisierte Statistik und keine noch so ausgefeilte Marketing-Strategie konnte über eine längere Zeit die Todesopfer vergessen machen, die das Medikament forderte. Im August 2001 musste BAYER das Mittel schließlich vom Markt nehmen – geschlagene zweieinhalb Jahre nach den ersten Meldungen über schwerwiegende Nebenwirkungen. Über 100 Sterbefälle und eine Vielzahl von teils lebensgefährlichen Gesundheitsstörungen – das war am Ende die LIPOBAY-Bilanz. Gelernt hat der Konzern aus dem Pharma-GAU nicht, obwohl dieser ihn auch ökonomisch schwer traf. So hat das Unternehmen jüngst bis zuletzt an seiner zur Blutstillung bei OPs eingesetzten Arznei TRASYLOL festgehalten, obwohl allein in der Bundesrepublik jährlich 300 PatientInnen daran starben und viele Studien seit langem die Gefährlichkeit des Präparates nachgewiesen hatten (SWB 4/07). Aber nicht nur der Leverkusener Multi handelt so; es ist „Business as usual“ in der Pharma-Branche. Nachdem die website pharmalot einen Artikel über Susan Blanketts Fall veröffentlicht hatte, meldete sich ein User im Forum: „Ich arbeite seit vielen Jahrzehnten in dieser Industrie. Was ich in der LIPOBAY-Klage lese, ist die übliche Praxis“.
*Name von der Redaktion geändert