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DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 35/1988 vom 29.08.1988, Seite 100-103a

„Sie wollen unsere Heimat kaputtmachen“

SPIEGEL-Redakteur Michael Schmidt-Klingenberg über die Arbeit und die Motive der alternativen Aktionäre

Das Jubiläum wurde gebührend gefeiert. Kanzler und Kapital, Kunden, Konkurrenten und Mitarbeiter – insgesamt rund 4000 Gäste – waren am vorigen Donnerstag in der Kölner Messehalle versammelt. Der deutsche Chemie-Konzern Bayer AG beging sein 125jähriges Bestehen mit einem Festakt.
Übernächste Woche wird es eine Nachfeier geben, in etwas bescheidenerem Stil. „125 Jahre Umweltverschmutzung und Menschengefährdung sind genug!“ lautet das Motto eines Kongresses, den die „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ zum Firmengeburtstag abhalten will. Der Festredner heißt diesmal nicht Kohl, sondern Köhler.
„Axel und seine Mannen“, wie Bayers oberster PR-Manager Heiner Springer die Veranstalter der „Alternativen 125-Jahr-Feier“ mit vertraulicher Herablassung gern nennt, sind immer dabei. Es ist eine merkwürdige Symbiose erwachsen zwischen dem Chemie-Riesen und der kleinen Schar unermüdlicher Aktivisten, die sich kritische Aktionäre nennen.
Stellt Bayer seine Jahresbilanz vor, dann sind die Bayer-Kritiker mit einem „alternativen Geschäftsbericht“ zur Stelle. Kommen die Bayer-Aktionäre zur Hauptversammlung zusammen, melden Axel und seine Mannen – Frauen sind auch dabei – Gegenanträge an und stellen unbequeme Fragen. Erhebt sich irgendwo auf der Welt Widerstand gegen eine neue Bayer-Fabrik, greifen die Mitarbeiter der Coordination in ihr Archiv und leisten den Widersachern des Konzerns Amtshilfe.
Ebenso unermüdlich folgt die Großfirma Axels Spuren. Lädt die Coordination zu einer Informationsveranstaltung, sitzt unverdrossen auch immer ein Bayer-Mann dabei und sieht sich zum hundertstenmal geduldig den Film „Der würgende Tod“ an. Da zu diesen Abenden die Besucher nicht gerade in Massen erscheinen, sind Coordination und Konzern-Vertreter zuweilen fast unter sich.
Sozusagen als festen Programmblock haben die Organisatoren die Auftritte der kritischen Aktionäre in den Ablauf der Hauptversammlung eingeplant. Nach der Rede des Vorstandsvorsitzenden Hermann Josef Strenger kommen zunächst die gewöhnlichen Aktionäre dran. Nach Strengers Replik zu deren Fragen und Anmerkungen folgen Axel und seine Gesinnungsgenossen.
Mit ausgesuchter Höflichkeit bedankt sich dann der alternative Aktionär Reinhard Klaus für die Möglichkeit, zu Wort kommen zu dürfen. Videokameras und Projektoren werfen sein Bild überlebensgroß links und rechts an die Stirnseite der Halle 9 im Kölner Messegelände.
„Dies“, erklärt Klaus staatsmännisch, „ist der Beginn eines Dialogs mit den kritischen Bayer-Aktionären.“ Im gemessen gedämpften Tonfall der Vorstandsreden fährt der Sprecher der kritischen Aktionäre fort, über die Gefahren aus verseuchter Deponie-Erde für die Leverkusener Hausbesitzer an der Dhünnaue-West/Rheinallee zu dozieren. Formvollendet bedankt er sich am Schluß seiner Ausführungen für die Aufmerksamkeit. Zuvorkommend kündigt er dann noch ein kleines Geschenk für den Vorstandsvorsitzenden an.
Feierlich schreitet Klaus zum Tisch des Bayer-Chefs oben auf der Bühne und übergibt ihm eine hübsch verpackte Probe der giftigen Erde. Ohne eine Miene zu verziehen, deponiert Strenger die Gabe neben seinen Papieren und wartet geduldig, bis die Pressephotographen und Fernsehteams ihre Aufnahmen gemacht haben.
So anständig geht es mittlerweile zu, wenn die kritischen Aktionäre auf den ordentlichen Hauptversammlungen der Chemie-Konzerne oder Großbanken auftreten. Wie haben sich doch die Zeiten geändert, da es Strengers Vorgänger Herbert Grünewald anno 1983 beim ersten Auftauchen dieser ungewohnten Anteilseigner schier die Sprache verschlug. Oder da der 71jährige Dresdner-Bank-Aufsichtsrat Helmut Haeusgen vom Auftritt der so ganz anderen Aktionäre geschockt wurde und wegen eines Schwächeanfalls die Bühne verlassen mußte. Nun gehören die Kritiker schon zum HV-Ritual.
Sie sorgen für merkwürdige Frontenbildungen. Die Belegschaftsaktionäre wollen mit dieser Art von Anteilseignern nichts zu tun haben. Bei Bayer macht Alfred Buss klar, was sich sein oberster Chef allenfalls still zu denken traut. „Sie wollen unsere Heimat kaputtmachen und _(Bayer-Aufsichtsratschef Grünewald, ) _(Bundeskanzler Kohl, ) _(NRW-Ministerpräsident Rau am vorigen ) _(Donnerstag in der Kölner Messehalle. )
unsere Arbeitsplätze vernichten“, schleudert er den Kritikern unter begeistertem Beifall entgegen. „Sie haben in unseren Reihen nichts zu suchen.“
Doch es hilft nichts, die ungeliebten Anteilseigner haben das Aktiengesetz auf ihrer Seite. Die Bibel des Kapitals macht nun einmal keinen Unterschied zwischen echten und unechten, zwischen rechten und unrechten Aktionären. Ausgerüstet mit mindestens einer Aktie – oder wie die Bayer-Kritiker dieses Jahr immerhin mit 17 000 Stimmen -, genießen die kritischen Kapitaleigner auf den Hauptversammlungen die gleichen Rechte wie alle anderen Aktionäre.
Bei fristgemäßer Einsendung – spätestens eine Woche nach Ankündigung der HV im Bundesanzeiger – müssen Gegenanträge der Kritiker den Aktionären schriftlich mitgeteilt werden, auf Kosten des Unternehmens. Auf der Hauptversammlung haben die Opponenten Rede- und Fragerecht zum abgelaufenen Geschäftsjahr.
Gesetz und höchstrichterliche Rechtsprechung geben wenig zur Abwehr unbequemer Redebeiträge her. Solange ein „ungestörter Verlauf“ der HV möglich ist, so der Bundesgerichtshof, darf niemand hinausgeworfen oder in seiner Redezeit „unangemessen“ beschränkt werden.
Die Coordination hat diese Möglichkeiten nicht als erste entdeckt. Gewerkschafter mischten sich schon in den zwanziger Jahren hin und wieder unter die Vollversammlungen des Klassengegners. Im legendären 68er Jahr gab es auf der Siemens-HV Protest gegen die Beteiligung des Elektro-Konzerns am Bau des Cabora-Bassa-Staudamms. Gegner des Projekts sahen in dem Vorhaben eine Unterstützung der damaligen portugiesischen Kolonialherrschaft in Mosambik.
1981 meldeten sich erstmals Kernkraftgegner auf der Aktionärsversammlung des bundeseigenen Energiekonzerns Veba zu Wort. Inzwischen bekommen Stromerzeuger wie die Hamburger HEW oder der Gigant der Branche, das RWE, regelmäßig Besuch von Anti-Atom-Aktionären.
Bei den drei Großbanken – Deutsche, Dresdner und Commerzbank – sorgen Gegner der südafrikanischen Apartheid dafür, daß keine HV ohne dieses Thema abgeht. Südafrika gehört auch bei Daimler-Benz zur Tagesordnung. „Alternative Aktionäre“ kommen zu BASF nach Ludwigshafen, die „Höchster Schnüffler und Maagucker“ suchen den Frankfurter Chemie-Konzern Hoechst heim.
„Kann denn heute jeder Rotzjunge auf einer Hauptversammlung auftreten?“ erregte sich das Leitfossil der traditionellen Berufsopponenten, Kurt Fiebich, 1986 auf der Hoechst-Versammlung über die neue Konkurrenz. Ja, jeder Junge kann. Der Energiekonzern Preussag, der im Nordsee-Watt bohren wollte, bekam es dieses Jahr mit Deutschlands jüngstem kritischen Aktionär zu tun. Auf einem Schemelchen hinter dem Rednerpult stehend, forderte Christian Busche, 11: „Finger weg vom Meer!“
Die Mitglieder der „Coordination gegen Bayer-Gefahren“, das gestehen auch Konzern-Manager ihnen zu, sind unter den kritischen Aktionären deutscher Unternehmen „die hartnäckigsten – auch zeitlich gesehen“. Zwei Störfälle bei Bayer in Wuppertal waren die Initialzündung für die Entstehung dieser Gruppe. Ein Nachbar des Chemie-Werks, Axel Köhler, der nach der Hochzeit mit der Bayer-Kritikerin Christiane Schnura inzwischen Köhler-Schnura heißt, gründete 1978 eine Bürgerinitiative. Ohne kontinuierliche Arbeit, so erkannte er bald, verpufft der Widerstand gegen den Konzern so schnell wie das explosive Gemisch in den Fabrik-Tanks.
1982 demonstrierten Axel und seine Mannen zum erstenmal vor dem Eingang der Bayer-Hauptversammlung. Sie wollten den Eigentümern zeigen, daß ihre Dividende nicht so problemlos erwirtschaftet wird. Da hatte Köhler sein „erstes Aha-Erlebnis“. Wider Erwarten fuhren die Kapitalisten nicht im Daimler vor, und sie hatten weder die Zigarre im Mund noch die Melone auf dem Kopf. Die Aktionäre sahen eher aus wie Arbeiter: Die Mehrzahl der HV-Besucher von Bayer sind Belegschaftsaktionäre, die Mehrheit der Stimmen haben sie deswegen freilich noch lange nicht.
Verschwindend klein ist dagegen die Zahl der Kritischen. Der Rückhalt aus den Massen fehlte manchmal schmerzlich. Einmal mußte Axel die eine Stange seines Anti-Bayer-Transparents an einem Verkehrsschild befestigen, da das zweite und letzte Mitglied eines Demonstrationszugs vor dem Werkszaun ein Photo des Anführers machen wollte.
So jedenfalls schildert es Bayer-Sprecher Springer – mit kollegialem Respekt vor dem „Improvisationstalent“. Natürlich hat er von Amts wegen ein gewisses Interesse, den Anhang der Bayer-Kritiker eher klein erscheinen zu lassen. Die Anekdote zeigt aber auch, daß sich die Coordination bei Personalmangel geschickter zu behelfen weiß als der Konzern.
Ein peinliches Mißgeschick ist den Öffentlichkeitsarbeitern des Chemie-Riesen da nämlich unlängst unterlaufen – und das nur, beteuert Springer, weil er „nicht genügend Figuren“ habe. Anfang des Jahres hatte der Chemie-Lehrer Walther Enßlin zwei kritische Bayer-Aktionäre zu einem Diskussionsabend ins Hildener Helmholtz-Gymnasium geladen – Thema: „Gift in Lebensmitteln am Beispiel von Bayer“. Ausgerechnet an jenem Abend hatte der für die Kritiker zuständige Bayer-Angestellte, der Diplomsoziologe Wido Mosen, „eine andere Verpflichtung“. Er schickte den Werkschutzmann Kramer „als Vertretung“.
Der eifrig mitschreibende Unbekannte fiel dem Chemie-Lehrer bald auf. Von dem Studienrat gefragt, wer er sei, stellte sich der Werkschützer als zufällig vorbeigelaufener Jogger vor. Doch die Identität des Sportfreundes blieb nicht lange geheim. Eine Kopie der Aktennotiz über Kramers Eindrücke in der Aula gelangte an die Coordination, auf welchem Weg auch immer.
Das interne Papier kam gerade zur rechten Zeit. Denn derzeit streitet die Bayer-Opposition mit dem Konzern
in zweiter Gerichtsinstanz, weil sie behauptet: „Mißliebige Kritiker werden bespitzelt und unter Druck gesetzt.“
Das Landgericht Köln hatte der Coordination in erster Instanz immerhin schon zugestanden, daß sie Bayer unter anderem „grenzenlose Sucht nach Gewinnen und Profiten“ nachsagen darf. Das sei eine vom Grundgesetz geschützte Meinungsäußerung auf „verwertbarer Grundlage“. Den Spitzelvorwurf dagegen betrachteten die Richter als Tatsachenbehauptungen, die „nicht lediglich nicht erweislich wahr sind, sondern darüber hinaus auch unwahr sind“.
Mit ihren Beweisen hatten die kritischen Aktionäre bis dahin nämlich wenig Erfolg: Sie hatten die Werkschützer von Bayer immer sogleich erkannt, wenn die ihnen etwa mit Photoapparat und Videokamera nachstellten. „Das Wesentliche des Bespitzelns, nämlich das Heimliche, fehlt“, schloß das Gericht messerscharf. Der Jogger aus Leverkusen in einer schulinternen Veranstaltung in „Geheimdienstmanier“, wie die Coordination frohlockt, gibt da vielleicht schon mehr her. „Es bleibt ein Nachgeschmack“, räumt PR-Manager Springer ein, „den man nicht wegreden kann.“
Einen merkwürdigen Beigeschmack hat auch, was einer Sprecherin der Coordination widerfahren ist. Die evangelische Pastorin Friedel Geisler redet dem Bayer-Vorstand seit 1985 auf den Hauptversammlungen ins Gewissen. Mit Salomos Sprüchen („Besser wenig mit Gerechtigkeit, denn viel Einkommen mit Unrecht“) geißelt sie überhöhte Medikamenten-Preise des Konzerns in der Dritten Welt. „Teile der evangelischen Kirche“, klagte Bayer-Chef Strenger darauf letztes Jahr, würden sich „an der Diffamierung unseres Unternehmens beteiligen“. Wie bestellt kam dazu aus der Aktionärsversammlung die Frage nach den Kirchensteuern, die Bayer-Mitarbeiter zahlen. Antwort: „Allein 24 Millionen an die evangelische Kirche.“
„Innerkirchlichen Schaden“, entdeckte da Friedel Geislers Superintendent Ernst Günther, habe die Pastorin mit ihren Auftritten bei Bayer angerichtet. Die Düsseldorfer Kirchenleitung führte ein eindringliches Gespräch mit der Pastorin Geisler. Eine „Einflußnahme“ von Bayer, versichert der Konzern, hat es nicht gegeben.
Eine leibhaftige Pastorin als kritische Aktionärin auf dem Podium paßt freilich auch nicht so recht in das Bild, das Bayer von der Coordination zeichnet. Der Verein sei, so Springer, „von der Deutschen Kommunistischen Partei gesteuert“. Die Proteste in der Hauptversammlung 1983, kolportierte „Bayer intern – Mitteilungen für Führungskräfte“ eine Meldung des Bonner Dienstes „Das Wirtschaftsbild“, seien „nach den Auswertungen der Sicherheitsbehörden mit hoher Wahrscheinlichkeit direkt vom, Westbüro‚‘ der SED in Ost-Berlin gesteuert“.
Nun braucht es keine Geheimdienste, um Köhler-Schnura und ein halbes Dutzend weitere Aktivisten der Coordination als Kommunisten zu enttarnen. Die Partei-Mitgliedschaft der Hauptversammlungsredner steht zum Beipiel für jeden lesbar im „alternativen Geschäftsbericht“ („Seine politische Heimat hat er in der DKP“). Doch genauso arbeiten Mitglieder der Grünen und der SPD, parteilose Umweltschützer und engagierte Christen mit. Für Bayer sind das freilich nur „Mitläufer und Satelliten“ der „Parteisoldaten“.
Köhler-Schnura, Diplomkaufmann und Marktforscher, besteht allerdings darauf, kein „Funktionär“ zu sein, wie Bayer ihn „diffamiere“. Der Kommunist legt Wert auf eine seriöse Berufsbezeichnug. Er ist „Unternehmer“, unter anderem Herausgeber des Umweltschutzkalenders „Ökonzept“ aus dem DKP-nahen Druckhaus Plambeck.
Andere Gruppen kritischer Aktionäre lassen sich nicht so bequem in die Ecke „kommunistischer Agitation“ („Bayer intern“) abschieben. Die Opposition gegen das Südafrika-Engagement der deutschen Großbanken kommt zum großen Teil aus christlich motivierten Anti-Apartheid-Gruppen, die sich auf Beschlüsse ihrer Kirchen stützen können.
Die kritischen Banken-Aktionäre erhalten sogar Beistand aus der Belegschaft, etwa von der gewerkschaftlichen Betriebsgruppe bei der Dresdner Bank. Helmut Paschlau vom Arbeitskreis „Kein Geld für Apartheid“ – im Hauptberuf hochrangiger Manager bei einem städtischen Betrieb – vertritt als Treuhänder auf den Hauptversammlungen gar zwei Filialleiter der Dresdner. Bei den ersten Auftritten zerrten aufgebrachte Aktionäre die Apartheid-Gegner vom Rednerpult. Inzwischen geht schon mal, freut sich Paschlau, „ein positives Raunen durch den Raum“, wenn etwa die Theologie-Professorin Dorothee Sölle das Wort erhält.
Die Firmenchefs nutzen die Fragen der Kritiker mittlerweile geschickt für die eigene Image-Bildung. Die „Schuldenkrise der Dritten Welt“, neben Südafrika ein Schwerpunkt der „Kritischen Aktionäre“ der Deutschen Bank, ist auch Lieblingsthema von Vorstandssprecher Alfred Herrhausen, gern hält er dazu „ein kurzes Privatissimum“.
Freundlich tauscht man Komplimente aus. „Herr Herrhausen hat sich in _(Anläßlich der Hauptversammlung der ) _(Dresdner Bank im Mai 1986 in Köln. )
Washington im letzten Jahr schon mutig vorgewagt“, lobt Kritiker Klaus Milke. Der Bankier vermerkt „mit großem Respekt den Ernst, mit dem Sie sich dieser Frage zuwenden“.
Der verbindliche Ton täuscht die kritischen Aktionäre nicht darüber hinweg, daß sie bei den drei Großbanken in der Sache wenig erreicht haben. Keine verzichtet ganz auf Geschäfte mit Südafrika. Die Dresdner unterhält mit der „Swabank“ sogar weiter eine Tochter in Namibia, das entgegen den Beschlüssen der Vereinten Nationen von Südafrika wie ein Kolonialgebiet gehalten wird. „In den USA hat es fast 20 Jahre bis zum Boykott gedauert“, tröstet sich Paschlau mit langem Atem, „wir sind erst sechs Jahre aktiv.“
Auch für den Bayer-Kritiker Köhler-Schnura ist die Erfolgsbilanz nicht gerade ermutigend. „Der Frust überwiegt“, gesteht er, „wenn man auf der HV mal wieder eiskalt abgekoffert wird.“ Natürlich erwarten sich die alternativen Aktionäre keine Mehrheit für ihre Gegenanträge – etwa: Köhler-Schnura in den Bayer-Aufsichtsrat; oder: Kürzung der Dividende von elf auf drei Mark, damit Bayer die vom Konzern verursachten Umweltschäden beseitigt.
Doch die Hauptversammlung ist, so der Coordination-Sprecher, „die einzige Möglichkeit für einen normalen Menschen, die wirklich verantwortlichen Personen im Abstand von zwei Metern mit ihrem Handeln zu konfrontieren“. Die Wirkung ihrer Auftritte in den Medien haben die Kritiker natürlich auch bedacht. Allerdings ist Köhler-Schnura erst dieses Jahr richtig klargeworden, daß die Abweichler erst nach Redaktionsschluß der meisten Wirtschaftsblätter ans Podium gelassen werden.
Wenigstens eine Wirkung schreibt sich die Coordination auf ihr Konto: Die Auftritte der Kritiker hätten die Besucherzahl der Bayer-Versammlung von wenigen tausend auf den bundesdeutschen Spitzenwert von 13 500 Aktionären dieses Jahr „hochgedrückt“ – und wenn es auch nur das Interesse war, „mal zu gucken, was sind denn das für Typen“ (Köhler-Schnura).
Selbst dieses kleine Erfolgserlebnis gönnt ihnen der Konzern nicht. Akribisch haben die Bayer-Manager jetzt für fast zwei Jahrzehnte die Entwicklung der Zuhörerzahl untersucht. Der Andrang des Publikums, so folgern die Manager aus ihrer Analyse, hänge nicht von Axel und seinen Kollegen ab, sondern vom erwarteten Wert der Präsente, die das Unternehmen den Aktionären am Ausgang des Saales überreicht.
Im Jubeljahr 1988 verursachte folglich ein besonders großzügiges Geschenk im Wert von 102,50 Mark den Besucherrekord: die Bayer-Hydrocollagen Quenty forty, sporty und beauty „für die Haut ab 20, 30 und 40 Jahren“.