Das Darmstädter Echo berichtet heute über Leberschäden durch den Gerinnungshemmer Xarelto. Anders als in dem Text dargestellt, treten solche Schädigungen häufig auf. So erhielt die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) in den ersten zehn Monaten des Jahres 2013 rund 320 diesbezügliche Meldungen. Sieben tödliche Verläufe waren darunter und 26 Fälle von Leberversagen.
Schwere Schäden nach Tablettengabe
Nach der Einnahme von „Xarelto“ erlitt Cevriye Yilmaz ein Leberversagen – Klage gegen Hausarzt
18. Dezember 2014 — Wenn sich Cevriye Yilmaz Fotos von ihrem Klinikaufenthalt anschaut, ist sie immer noch geschockt. „Ich bin froh, dass ich noch lebe“, sagt die 39 Jahre alte Darmstädterin. Tagelang hat sie im Koma gelegen wegen akuten Leberversagens, mit den Folgeschäden an Leber und Lunge kämpft sie bis heute: Die Einzelhandelskauffrau ist zu 60 Prozent behindert und muss mit ihrem Sohn von einer Erwerbsminderungsrente leben.
Wer die Hauptschuld an ihrer Misere trägt, ist für die Darmstädterin klar: ihr Hausarzt. Er habe ihr ein relativ neues Medikament verschrieben und, so klagt sie, nach dem Einsetzen schwerwiegender Nebenwirkungen nicht angemessen reagiert. „Er hat mich zerstört, meine Gesundheit, meine Psyche, meine Zukunft.“
Yilmaz’ Rückblick: Nach einer Knieoperation Anfang 2013 bot ihr der langjähriger Hausarzt statt der üblichen Thrombose-Spritzen das Blutverdünnungsmittel „Xarelto“ in Tablettenform an. „Über die Nebenwirkungen klärte er mich nicht auf“, betont die Patientin, das könne eine sie begleitende Freundin bezeugen. „Da ich schon einige Jahre seine Patientin war, vertraute ich ihm.“
Bauchschmerzen und Übelkeit
Dann ging es ihr sehr schlecht: Sie fühlte sich schwach, litt unter Bauchschmerzen, Übelkeit. Mehrmals suchte sie ihren Hausarzt auf, der ihr etwas gegen die Übelkeit verschrieb. Doch ihr Zustand verschlechterte sich weiter – auch, nachdem sie in Absprache mit ihm „Xarelto“ nach einigen Tagen absetzte.
Am 18. Februar 2013 suchte sie ein letztes Mal seine Praxis auf. Er habe sie nur abgetastet und gesagt, sie habe eine Darmblutung und solle ein Abführmittel gegen die Verstopfung nehmen. Dann müsse es besser werden.
„Es war leider nicht so“, sagt Yilmaz. Als sie am Tag danach in der Praxis anrief, habe der Arzt ihr nur ausrichten lassen, sie solle weiter abführen. Sechs Tage später fand sie sich mit akutem Leberversagen im Krankenhaus wieder, wo sie zwei Monate lang bleiben musste.
Cevriye Yilmaz ist sich sicher, dass „Xarelto“ sie krank gemacht hat. Dabei stützt sie sich auf mehrere Krankenhausberichte, die einen Zusammenhang mit der Einnahme des Bayer-Medikaments als denkbar erklären. Dass das Mittel besondere Risiken birgt, ist bekannt (dazu „Hintergrund“).
Doch wie ihr Hausarzt betont, gibt es bislang keinen einzigen dokumentierten Fall von Leberversagen in Verbindung mit „Xarelto“. Die wenigsten Patienten hätten Probleme damit. Also verschreibt er es weiterhin, wie er dem ECHO mitteilt. Er räumt ein, dass er im angespannten Praxisalltag über alle Risiken gar nicht aufklären könne und stattdessen auf den Beipackzettel verweise.
Doch Yilmaz wirft ihm auch nicht in erster Linie vor, dass er ihr „Xarelto“ verschrieben hat. „Ich werfe ihm vor, dass er nicht rechtzeitig reagiert hat.“ Er hätte weitere Schritte einleiten müssen, als sich ihr Zustand zunehmend verschlechterte. Die Situation sei nicht so bedenklich gewesen, dass andere Schritte hätten eingeleitet werden müssen, sagt der Hausarzt.
Cevriye Yilmaz hat sich unter anderem an die Gutachter- und Schlichtungsstelle der Landesärztekammer Hessen gewandt, doch Recht bekam sie nur bedingt. Zwar betonen die Gutachter, der Verordner dieses Präparats müsse besondere Vorsicht walten lassen und über Risiken aufklären. Ein erhöhtes Risiko zur Leberschädigung durch „Xarelto“ sei aber nicht bekannt.
Eine Darmblutung allerdings, so räumen die Gutachter ein, hätte als hochgefährliches Ereignis eine sofortige Einweisung notwendig gemacht. Doch glauben sie den Angaben des Hausarztes, er habe nie von einer solchen gesprochen. Yilmaz aber bleibt dabei, dass sie dafür eine Zeugin habe.
Wiegt das Wort des Arztes mehr? Die Landesärztekammer teilt auf ECHO-Anfrage mit: Wenn Aussage gegen Aussage steht, gilt, was in der ärztlichen Dokumentation steht.
„In dubio pro Kammermitglied“, kommentiert das Yilmaz‘ Anwalt Thomas Löw, den sie mit der Sache betraut hat. Auch für ihn ist klar: Der Hausarzt hat sie weder ausreichend aufgeklärt noch untersucht, als es zu Komplikationen kam. „Aber wir können nicht nachweisen, dass es ,Xarelto‘ allein war.“ Es sei kein weiterer Fall mit entsprechendem Beschwerdebild bekannt.
Cevriye Yilmaz ruft deswegen andere Patienten mit ähnlichen Erfahrungen auf, sich zu melden. „Ich kämpfe um mein Recht.“ Aber eines ist ihr mindestens genau so wichtig: „Dass mit mehr Achtsamkeit vorgegangen wird, wenn Ärzte Medikamente verschreiben.“ Schließlich gehe es um Menschenleben.
Xarelto: Umstrittenes Blutverdünnungsmittel von Bayer mit besonderen Risiken
Das Blutverdünnungsmittel Xarelto des Pharmakonzerns Bayer ist seit 2008 auf dem Markt und nicht unumstritten. So berichteten voriges Jahr Medien über zunehmende Meldungen unerwünschter Nebenwirkungen und Todesfälle im Zusammenhang mit der Einnahme des Präparats beim zuständigen „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ (BfArM). Dort seien allein 2012 insgesamt 750 Verdachtsfälle registriert worden, darunter 58 Todesfälle – Tendenz steigend.
BfArM-Pressesprecher Maik Pommer bestätigt das auf ECHO-Anfrage. Doch müsse man diese Zahlen in Zusammenhang damit sehen, dass auch die Verordnungen rasant nach oben geschnellt seien. Während heute 30 mal mehr Patienten Xarelto einnähmen, habe sich die Zahl der Verdachtsmeldungen verdoppelt.
Er betont, ein Zusammenhang zwischen dem Medikament und Todesfällen sei nicht nachweisbar. Dennoch gingen von Xarelto besondere Risiken aus, die in der Vergangenheit von Ärzten teils nicht ausreichend beachtet und kommuniziert worden seien. Deswegen hat das Bundesinstitut vorigen September eine Extra-Information an Ärzte ausgegeben. Darin wird unterstrichen, dass es ein erhöhtes Blutungsrisiko gibt – auch deshalb, weil es im Gegensatz zu vergleichbaren anderen Präparaten wie Marcumar dafür noch kein Gegenmittel gibt.
Warum wird so ein risikoträchtiger Wirkstoff überhaupt zugelassen? „Wenn ein Arzneimittel ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis hat, muss es zugelassen werden“, erläutert Pommer. Nebenwirkungen gebe es immer, auch bei anderen vergleichbaren Mitteln.
„Marcumar ist sicher nicht ideal, auch da gibt es Todesfälle“, befindet Philipp Mimkes vom Netzwerk „Coordination gegen Bayer-Gefahren“. Doch im Gegensatz zu Xarelto seien etwaige Blutungen da stoppbar.
Überhaupt sei einiges dubios in Zusammenhang mit der Einführung des neuen Wirkstoffs: Studien des Herstellers seien mangelhaft und manipuliert worden, weswegen das Mittel in den USA nicht zugelassen sei. Gleichzeitig fahre Bayer eine aggressive Marketingstrategie und bedränge Ärzte. „Die Verschreibungszahlen gehen in die Hunderttausende.“ So zählt Xarelto längst zu den Kassenschlagern des Pharmariesen Bayer.