Drücke „Enter”, um zum Inhalt zu springen.

[Betaferon] STICHWORT BAYER 04/2014

CBG Redaktion

BAYERs BETAFERON

Große Kosten, kleiner Nutzen

Das „Multiple Sklerose“-Präparat BETAFERON gehört zu den umsatzträchtigsten BAYER-Medikamenten, obwohl Studien ihm größere Nebenwirkungen als Wirkungen bescheinigen. Vor der jüngsten hat das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ erst im August diesen Jahres gewarnt: Nierenerkrankungen mit Todesfolge kann das Gentech-Präparat hervorrufen.

Von Jan Pehrke

Am 19. August 2014 sah sich das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ (BfArM) gezwungen, „sicherheitsrelevante Informationen“ zu BETAFERON und anderen Interferon-beta-Präparaten zu veröffentlichen. Die Behörde hatte nämlich von der „Europäischen Arzneimittelagentur“ Informationen über schwerwiegende Nierenleiden nach dem Spritzen der Mittel erhalten. „Während der Behandlung der Multiplen Sklerose mit Interferon-beta-Arzneimitteln wurden Fälle von thrombotischer Mikroangiopathie (TMA), einschließlich Fällen mit Todesfolge, berichtet“, heißt es in dem „Rote Hand Brief“. Vor Schädigungen der Nieren durch das nephrotische Syndrom warnt das BfArM ebenfalls. Beide Nebenwirkungen können noch Jahre nach der ersten BETAFERON-Injektion auftreten, so das Bundesinstitut.

Über eine solche Fallgeschichte informierte die „Arzneimittel-Kommission der deutschen Ärzteschaft“ bereits 2008. Eine Frau nahm vier Wochen nach Beginn der BETAFERON-Therapie um sechs Kilogramm zu. Sie klagte auch über Übelkeit und Erbrechen und vermochte nur noch geringe Mengen Urin auszuscheiden. Zwei Tage später kam die 38-Jährige ins Krankenhaus. Diagnose: akutes Nierenversagen. Für die Patientin ging es glimpflich aus. Die MedizinerInnen setzen sofort das BETAFERON ab, ordneten eine Dialyse an und nahmen einen Blutplasma-Austausch vor. So gelang es ihnen schließlich, die Nierenfunktionen wiederherzustellen.
Mit Nierenschädigungen erschöpfen sich die Gegen-Anzeigen des Gentech-Präparats allerdings bei Weitem nicht. 186 Meldungen über „unerwünschte Arznei-Effekte“ hat das BfArM allein im Jahr 2013 erhalten.

Auf der Haben-Seite kann BETAFERON dagegen nicht viel verbuchen. „Die Vorstellungen zur Wirkung von Interferonen basieren auf Vermutungen“, hält eine Broschüre der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (UKE) zur PatientInnen-Information fest (1). Angetreten, das Immunsystem von MS-Kranken zu regulieren und die Entzündungen zu lindern, sieht die Erfolgsbilanz des Mittels mager aus. So ist es dem MS-Ratgeber des UKE zufolge nur bei 16 Prozent der frisch Erkrankten imstande, einen zweiten Schub zu verhindern, bei fünf von sechs PatientInnen hingegen zeigt es keinen Nutzen. Bei einer schon chronifizierten, aber immer noch schubförmig verlaufenden MS schlägt es bloß in vierzehn Prozent der Fälle an. Das Fortschreiten der Erkrankung kann das BAYER-Mittel dann lediglich bei zehn Prozent der Betroffenen beeinflussen. Nur „einen geringen Effekt auf die Zunahme der Beeinträchtigung“, bescheinigt die UKE-Publikation der Arznei deshalb. Es steht nicht einmal fest, ob eine frühzeitige Gabe des Pharmazeutikums überhaupt den Verlauf der Gesundheitsstörung beeinflusst. Und bei einer von Beginn an manifesten Multiplen Sklerose ohne Schübe hilft BETAFERON so wenig wie andere Arzneien. „Bei der primär chronischen MS gibt es zur Zeit keine überzeugenden Therapie-Konzepte“, konstatieren die Hamburger MedizinerInnen. Zu einem ähnlich kritischen Befund gelangt die Cochrane Collaboration, die 44 Studien zu MS-Therapeutika ausgewertet hat. Angesichts der häufigen Nebenwirkungen stellt das Netzwerk von ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen und PatientInnen-VertreterInnen zu BETAFERON und anderen Präparaten dieser Medikamenten-Gruppe fest: „Das Kosten/Nutzen-Verhältnis könnte ungünstig sein.“

Viele Betroffene kommen zu einem ähnlichen Resultat. Nach einer Untersuchung von Emilio Portaccio brachen binnen vier Jahren 46 Prozent von ihnen die Behandlung mit BETAFERON oder anderen Interferonen ab. Die Konzerne wissen um diese hohe Quote und bieten deshalb Therapie-Begleitungen an. Der Leverkusener Multi beispielsweise versucht seine KundInnen mit dem BETAPLUS-Programm bei der Stange zu halten, „das individuelle Service-Angebote, telefonische und schriftliche Beratung und kompetente Betreuung durch geschultes Personal beinhaltet“.

Trotz all dieser Unbill steht BAYER in Treue fest zu seinem Präparat. „Interferon-beta-1b (BETAFERON) ist seit 25 Jahren auf dem Markt und immer noch top“, behauptet das Unternehmen und zählt es zu seinen „Meilensteinen“. Was den Profit angeht, stimmt das auch. Mit über einer Milliarde Euro Umsatz nimmt die Arznei unter den pharmazeutischen Bestsellern des Leverkusener Multis den zweiten Rang ein. Nur das Blutpräparat KOGENATE macht noch mehr Gewinn. Das liegt vor allem am hohen Preis – ca. 16.000 Euro pro Jahr – des MS-Präparats. Dieser orientierte sich bei der Markteinführung nämlich an den damals noch hohen Herstellungskosten für Interferone. Und seither stellt das die Messlatte dar, obwohl die Substanzen heute billig zu produzieren sind. BAYER hat die Fabrikation inzwischen nicht nur in Europa, sondern auch in den USA ganz ausgegliedert. 2011 legte der Konzern die Anlage im US-amerikanischen Emeryville still, vernichtete 540 Arbeitsplätze und schloss mit BOEHRINGER einen Lohnfertigungsvertrag ab.

Aber wie gelingt es dem Pillen-Riesen, mit einem umstrittenen Mittel so viel Geld einzunehmen? Ganz einfach: Indem er nach Kräften die medizinische Landschaft pflegt. Dem großen „Vermarktungsinteresse pharmazeutischer Firmen im Indikationsgebiet MS“ folgend, das der von der Krankenkasse Barmer GEK herausgegebene „Arzneimittelreport 2014“ den Konzernen attestiert, hat BAYER beste Beziehungen zu MedizinerInnen, Fachgesellschaften und PatientInnen aufgebaut. So fanden sich 21 der insgesamt 24 Ärzte, welche die Behandlungsleitlinie für Multiple Sklerose erstellt haben, schon einmal auf der Lohnliste des Leverkusener Multis und erhielten Schecks für Vorträge, BeraterInnen- bzw. GutachterInnen-Tätigkeiten oder Forschungsvorhaben. Gut angelegtes Geld, lautet das Fazit der Leitlinie doch: „Die mittlerweile über 20-jährige Erfahrung mit den rekombinanten Beta-Interferonen in der Behandlung der MS belegen deren gutes Nutzen/Risiko-Profil in der Basis-Therapie.“

Die MS-Selbsthilfegruppen bindet der Leverkusener Multi derweil durch Spenden an sich. Und mit der „Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft“ (DMSG) besteht dank umfangreicher Investitionen ebenfalls bestes Einvernehmen. Über 55.000 Euro ließ BAYER der DMSG und seinen Landesverbänden 2013 zukommen. Insbesondere auf den Vorsitzenden des Ärztlichen Beirates, Prof. Dr. Reinhard Hohlfeld, kann der Global Player sich verlassen, diente der Leiter des Instituts für Klinische Neuro-Immunologie an der Münchner „Ludwig- Maximilians-Universität“ dem Unternehmen doch schon als wissenschaftlicher Berater. Auch Forschungsgelder erhielt der Professor, der ebenfalls an den Leitlinien mitwirkte und noch dazu als Mitherausgeber mehrerer MS-Fachzeitschriften fungiert, bereits von dem Pharma-Riesen. Seine Vorstandskollegen Ralf Gold, Peter Rieckmann und Heinz Wiendl sind gleichfalls ziemlich beste BAYER-Freunde – und Leitlinien-Autoren.
Da wundert es dann nicht weiter, dass der Verband nur leitlinientreue MS-Zentren zertifiziert und den Interferonen trotz der neuen Warnung des „Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte“ vor Nierenschädigungen weiterhin die Treue hält. „Insgesamt ergibt sich trotz dieser Meldungen keine Änderung der Nutzen/Risiko-Bewertung von Interferon-beta-Präparaten, deren Sicherheitsprofil über mehr als 20 Jahre der breiten Anwendung bei der Multiplen Sklerose gut bekannt ist. Die aktuelle Information des BfArM allein gibt daher keinen Anlass, eine wirksame und gut vertragene Interferon-Therapie abzubrechen“, erklärt die DMSG.

Der Arzt Dr. Wolfgang Weihe rügte schon 2006 im Deutschen Ärzteblatt die alles andere als zarten Bande der DMSG im Allgemeinen, seiner ÄrztInnen im Besonderen sowie der Leitlinien-MedizinerInnen zur Industrie und meldete Zweifel an der Uneigennützigkeit ihrer BETAFERON-Vorliebe an. Das Imperium schlug sofort zurück. Die DMSG reichte eine Unterlassungsklage ein, der das Landgericht Hamburg auch stattgab. Mit solchen Mitteln gelingt es der Phalanx aus Industrie, Fachgesellschaften und willigen MedizinerInnen, Einvernehmen herzustellen. Darum wagt es auch kaum jemand aus der Zunft, eine konträre Meinung zu äußern. Es existiert auch keine unabhängige Patienten-Vereinigung, die ein Gegengewicht bilden könnte. Die DMSG gibt sich zwar den Anstrich einer dem Selbsthilfe-Prinzip verpflichteten PatientInnen-Organisation, ist in Wirklichkeit aber eine mit BAYER & Co. eng verflochtene ÄrztInnen-Organisation.
Nicht genug damit, sich Einfluss auf diese Fachgesellschaft und die MS-Behandlungsrichtlinien gesichert zu haben, nimmt sich der Leverkusener Multi die ÄrztInnen auch noch im Einzelnen vor. In den Praxen sorgt die Konzern-Armada der Pharma-DrückerInnen dafür, dass BETAFERON vermehrt auf dem Rezeptblock landet. Die so genannten Beobachtungsstudien tragen ebenfalls ihren Teil dazu bei. Aus wissenschaftlicher Sicht haben diese keinerlei Wert, denn die MedizinerInnen müssen gegen ein Honorar von bis zu 1.000 Euro nur einen kleinen Fragebogen ausfüllen, aus betriebswirtschaftlicher Sicht jedoch einen hohen. In Wahrheit verfolgen die „Studien“ nämlich nur den Zweck, die Kranken auf das getestete Präparat umzustellen.

Entsprechend hoch ist der BETAFERON-Warenumschlag in den Sprechzimmern. Die anderen Hersteller können sich auch nicht beklagen. „Am meisten ärgert mich, wenn Druck ausgeübt wird auf Betroffene“, sagte die Krebs-Medizinerin und MS-Patientin Jutta Scheiderbauer in der TV-Sendung Nano: „Wenn Sie zum Arzt gehen und ein Beratungsgespräch möchten und Sie werden nicht adäquat aufgeklärt über die Unsicherheiten des Nutzens und nicht adäquat über die Nebenwirkungen, die über das hinausgehen, was man so allgemein im Internet findet (…) Ich habe es auch am eigenen Leib erlebt, dass es mein Leben mehr beeinträchtigt hat als die MS.“ Zu diesen negativen Erfahrungen trug nicht zuletzt BETAFERON bei. Kurz nach der ersten Spritze bekam die Frau Gliederschmerzen, Schüttelfrost und andere Grippe-Symptome. Das flaute binnen drei, vier Monaten ab, und drei Jahre hatte Jutta Scheiderbauer Ruhe. Dann tauchten wieder Probleme auf: Frieren, Verstopfung, temporäre Spastiken, Schmerz-Attacken und Schläfrigkeit. Als dann noch vergrößerte Lymphknoten im Bauchraum diagnostiziert wurden, zog ihr Neurologe die Reißleine und setzte das Medikament ab. Auch andere Arzneien nimmt die Onkologin nicht mehr. Trotzdem hat sie seit drei Jahren keinen Schub mehr bekommen.

BAYER jedoch setzt unverdrossen weiter auf den lukrativen Geschäftszweig. Dem Leverkusener Multi wachsen seit jüngster Zeit sogar noch von einem weiteren MS-Medikament Einnahmen zu, das auch nicht so ganz ohne ist: LEMTRADA (SWB 1/14). Der seit 2006 zum Pharma-Riesen gehörende SCHERING-Konzern hatte die Lizenz für den Wirkstoff Alemtuzumab 1999 von GENZYME erworben und ihn zur einer Arznei zur Behandlung der Blutkrebs-Art „chronisch-lymphatische Leukämie“ (CLL) weiterentwickelt. Als besonders lukratives Geschäft erwies sich das jedoch nicht. Darum gab der Leverkusener Multi 2009 die Rechte an GENZYME zurück und handelte dafür im Gegenzug Lizenz-Zahlungen aus. Und die fließen jetzt. Alemtuzumab erhielt nämlich eine Zulassung für die Indikation „Multiple Sklerose“. Um es für einen um den Faktor 40 höheren Preis als bisher anbieten zu können, was LEMTRADA 29.000 Mal teurer als Gold macht, gab GENZYME das Anwendungsgebiet CLL auf. Eine Operation, die Wellen von Empörung hervorrief. „Der Stakeholder-Value wird hier in bisher nicht dagewesener Weise vor das Patienten-Wohl gesetzt“, erboste sich etwa Torsten Hoppe-Tichy, Präsident des „Bundesverbands Deutscher Krankenhausapotheker“. Noch dazu entspricht das Präparat nicht gerade dem Goldstandard der MS-Therapie. Darum verweigerte die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA dem Medikament auch die Zulassung. Mit Autoimmun-Krankheiten, Nierenschäden, Krebs, Infektionen, Schilddrüsen-Beschwerden und Infusionsnebenwirkungen wie Bluthochdruck, Kopf- oder Brustschmerzen war ihr die Liste der Gegenanzeigen einfach zu lang. Ihr europäisches Pendant, die EMA, hatte hingegen keine Bedenken. Sie erteilte dem Pharmazeutikum die Genehmigung, und BETAFERON kann sich nun über standesgemäßen Zuwachs freuen.

(1) Immuntherapien der Multiplen Sklerose 2008; www.gesundheit.uni-hamburg.de

Job-Streichungen in Emeryville
Auch über sein im November 2010 beschlossenes Rationalisierungsprogramm hinaus vernichtet der Leverkusener Multi noch Arbeitsplätze. So stellt er die Fertigung des Multiple-Sklerose-Wirkstoffs Betaferon im US-amerikanischen Emeryville ein. Künftig übernimmt BOEHRINGER für BAYER die Herstellung. Die meisten der 540 Beschäftigten verlieren durch diese Maßnahme ihren Job. Damit bleibt der Konzern seiner Devise treu, bevorzugt Produktionen zu schließen, in denen sich Betriebsgruppen von Gewerkschaften konstituieren wollen. In Emeryville hatte das Unternehmen die Gründung hintertrieben, indem es mit Stellen-Streichungen drohte und die Beschäftigten-VertreterInnen als „Schmarotzer“ diffamierte, die es nur auf die Beiträge der Belegschaftsangehörigen abgesehen hätten.