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[Pharmaindustrie] STICHWORT BAYER 02/2014

CBG Redaktion

Tatort Pharma-Industrie

Die interessantesten Krimis sind nie nicht nur dem Täter, sondern immer auch der Wirklichkeit auf der Spur. „Die letzte Flucht“ von Wolfgang Schorlau gehört zu dieser Kategorie. Das Buch gewährt einen tiefen Einblick in die Machenschaften der Pillen-Industrie. Wobei der Autor die Informationen in seinem Roman aus berufenem Munde kommen lässt, dem eines Pharma-Managers. Dieser gibt allerdings nicht ganz freiwillig Auskunft. Dirk Assmuss ist Opfer einer Entführung geworden; und sein Kidnapper hat es nicht etwa auf Lösegeld abgesehen, er verlangt von ihm genre-untypisch nur eines: Dass Assmuss redet. Stichwort BAYER dokumentiert im Folgenden die „Vernehmungsprotokolle“ über die Praktiken der Arznei-Unternehmen, deren Ähnlichkeit mit den Gepflogenheiten von BAYER & Co. alles andere als zufällig ist. Schorlau hat nämlich zwei Jahre lang im „Milieu“ recherchiert.

Vertriebsstelle Arzt
„Der Arzt ist das Nadelöhr. Er schreibt das Rezept aus. Ich sage immer zu meinen Leuten: Die Verordner, das ist unsere eigentliche Vertriebsorganisation. Ihr müsst diese Vertriebsorganisation intelligent managen.” Henry lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er faltete die Arme hinter dem Nacken zusammen und sah Assmuss lange an. „Ich höre”, sagte er nach einer Weile. „Nun, wir haben unsere Pharmareferenten. Über diese bauen wir eine persönliche Beziehung auf in jede einzelne Arztpraxis. Wir … ” „Beeinflussen Sie Ärzte, sodass sie Medikamente von Peterson & Peterson verordnen?” „Ja, sicher. Unser ganzer Marketingapparat richtet sich an den Arzt. Wir wollen ihn überzeugen, unsere Präparate zu verschreiben. Das ist doch vollkommen legal.” „Sicher, Sagt Ihnen das Kürzel AWB etwas?” „AWB? Sicher. Es ist die Abkürzung für Anwendungsbeobachtung.” „Erklären Sie mir, was das ist. „Anwendungsbeobachtung? Sie sind kein Arzt, Henry, nicht wahr? Nun, ein Arzt kreuzt auf einem unserer Formulare nach jeder Verschreibung eines Medikaments an, ob und wie das Präparat wirkt.” „Also eine wissenschaftliche Studie?” Assmuss schwieg. „Überlegen Sie sich Ihre Antwort gut. Sind die Anwendungsbeobachtungen, die Ärzte für Ihr Unternehmen durchführen, wissenschaftlich?” Assmuss schwieg. Nach einer Weile sagte er: „Nein. Das sind sie nicht. Sie sind eines unserer Marketinginstrumente. Ein einfacher Fragebogen. Der Arzt kreuzt bei der Verordnung eines unserer Präparate an: Patient, wirkt oder wirkt nicht, manchmal ein wenig aufwendiger, aber nicht viel. Wissenschaftlich ist das nicht von Belang. Kein Forscher schaut sich die Ergebnisse der AWBs an. Die Vertriebsleute schon.” „Warum füllen die Ärzte dann solche Bögen aus? Wegen Ihrer Vertriebsleute?” Assmuss schluckte. Er fühlte sich unwohl. „Nun ja”, sagte er. „Der Bogen ist der Nachweis des Arztes dafür, dass er unser Medikament verordnet hat. Und, nun ja, wir bezahlen entsprechend.” „Sie bezahlen entsprechend?” „Ja. Aber nicht nur Peterson & Peterson. Verstehen Sie? Das ist nicht exklusiv unsere Spezialität. Alle unsere Wettbewerber machen das.” „Ich will es schon etwas genauer wissen.” Assmuss atmete einmal tief ein. „Wir gewähren den Verordnern eine Aufwandsentschädigung für ihre Teilnahme an der AWB. Für jedes Präparat von Peterson & Peterson bekommt der Arzt eine Vergütung.” „Ist das nicht verboten?“ „Nun, in jeder Branche gibt es Prämien, Tippprämien, wenn Sie jemandem einen lukrativen Hinweis geben. Kickback. Sie vermitteln jemand ein Geschäft, und der gibt aus Dankbarkeit einen kleinen Betrag zurück. Kickback eben, so sehen wir das.” „Und nehmen Ärzte tatsächlich an solchen Projekten teil?” Assmuss lachte wieder das trockene, hässliche Lachen. Jetzt fühlte er sich sicher, er kannte sich aus. „Beinahe die Hälfte der Ärzteschaft. “
Fangprämien
„Schon gut. Welche Prämie zahlen Sie einem Arzt, wenn er Ihr Medikament verordnet?” „Das kommt auf das Medikament an. Der Kickback liegt zwischen drei und acht Prozent.” „Nehmen wir Ihr Medikament Veclimed.” „Veclimed? Warten Sie … Wir zahlen ungefähr 50 Euro pro Infusion an den Verordner. Die genauen Zahlen habe ich nicht im Kopf. Bei etwa zehn Infusionen pro Tag kann ein Onkologe damit etwa 100000 Euro extra machen. Im Jahr.” „Machen Sie Anwendungsbeobachtungen mit Veclimed?” „Ja.” „Mit welchen Medikamenten führen Sie die AWBs durch?” „Nur mit teuren und neuen Medikamenten. Es ist für uns eine wichtige Maßnahme, um hochpreisige Medikamente im Markt zu platzieren.” „Wenn ich das richtig sehe, zahlen Sie diese 100.000 Euro von dem Geld, das Ihnen die Krankenkassen überweisen. Also zahlt die Krankenkasse den Kickback, das heißt, letztlich zahlen die Patienten über die Krankenkassenbeiträge die Prämien, die Sie bestimmten Ärzten zukommen lassen.” „Das kann man so sehen.” „Und das macht nicht nur Peterson & Peterson?” „Natürlich nicht.” „Beispiele?” „Nun ja. Nehmen wir zum Beispiel das deutsche Unternehmen TROMMSDORFF. Dieses Pharmaunternehmen hat bis mindestens 2007 Ärzten Elektrogeräte oder Bargeld geschenkt, wenn diese im Gegenzug den Blutdrucksenker EMESTAR bzw. EMESTAR plus verordnet haben. je mehr Verordnungen, desto größer die Geschenke. Für fünf Patienten gab es einen Flachbildschirm oder einen iPod, für sieben Patienten einen DVD-Recorder, für zwölf einen sehr schönen JURA-Kaffee-Vollautomaten, für vierzehn das Navigationssystem TomTom Go, ab achtzehn dann Laptops, Beamer, Computer mit Drucker, was die Ärzte halt gerade so brauchten.” „Geben Sie auch elektronische Geräte?” „Nein. Das ist doch primitiv! Es würdigt den Verordner herab, der das entgegennimmt, finde ich.” „Wie machen Sie es stattdessen?” „Geld. Wir übergeben einen Scheck. Dann kann der Arzt damit machen, was er will.” „Und als Verwendungszweck schreiben Sie drauf: Umsatzbeteiligung Veclimed?” „Nein. Natürlich nicht. Wir rechnen diese Summen als Referentenhonorare ab. Oder lassen einen Fachartikel schreiben und setzen den Namen des Arztes davor. Dann wäre das ein Artikelhonorar.” „Ist das legal?” Assmuss schwieg erschöpft. Er atmete heftig. „Wann komme ich hier raus?”, fragte er leise. „Warum wollen Sie das alles wissen, Henry?” „Wir sind auf einem guten Weg. Vielleicht bringe ich Sie morgen Abend oder übermorgen hier raus, und Sie sind wieder frei. Es hängt davon ab, wie gut Sie mitarbeiten. Aber wir sind auf einem guten Weg. Ich will nur verstehen, wie Sie Ihren Beruf ausüben. Mehr will ich nicht. Und wenn ich das weiß, sind Sie wieder ein freier Mann.” „Wirklich?” „Ja. Vertrauen Sie mir. Also: Ist das legal?” „Nun ja, die ärztliche Berufsordnung verbietet es, dass Ärzte für die Verordnung von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln oder Medizinprodukten eine Vergütung oder andere Vorteile für sich oder Dritte fordern, sich oder Dritten versprechen lassen oder annehmen – das ist nahezu die wörtliche Formulierung. “ „Trotzdem nehmen Ärzte Ihre Vergütungen für sinnlose Anwendungsbeobachtungen an? Wie viele Ärzte nehmen das Geld?” „Nach unseren Untersuchungen ist die Hälfte der Ärzte – wie soll man sagen? – aufgeschlossen.” „Jeder zweite Arzt ist korrupt?” „Dieses Wort vermeiden wir.”

Aus Alt mach Neu
„Bringen Sie dann ein besseres Medikament?” Assmuss schwieg. Henry lehnte sich im Stuhl zurück: „Bringen Sie dann ein besseres Medikament?” Assmuss zog die Luft tief durch die Lunge ein, als wolle er eine innere Barriere überwinden. „Darum geht es nicht”. sagte er. „Es geht darum, wieder ein Hochpreis-Medikament für die betreffende Krankheit zu haben und zu verhindern, dass die Ärzte Nachahmer-Präparate verschreiben. Es geht um die 40 Prozent.” „Das neue Präparat ist also keine Verbesserung?” „Ich gebe zu: Meist verändern wir nur ein paar Moleküle, aber im Grunde ist es immer noch unser altes Präparat. Es bekommt einen neuen Namen, wir haben ein neues Patent, und nun werfen wir die Maschine an, um die Kundschaft, also die Ärzte, zu überzeugen, dass sie das neue Produkt verschreiben.” „Das teurere, obwohl es ein billigeres, identisches gibt?“ „Ja.” „Und es gelingt Ihnen tatsächlich, die Ärzte davon zu überzeugen?” „Wir haben eine gewisse Erfahrung auf diesem Gebiet. Wir haben hart an dem Mythos gearbeitet, dass ein neues Medikament auch ein besseres ist.” „Das ist nicht so?” „Natürlich nicht. Wir bringen neue Medikamente nicht aus medizinischen, sondern aus kommerziellen Gründen. Ältere Medikamente haben, unter medizinischen Gesichtspunkten gesehen, oft den Vorteil, dass sie besser untersucht sind, dass man ihre Nebenwirkungen kennt und so weiter. Meine Aufgabe ist aber eine völlig andere. Ich habe dafür zu sorgen, dass Ärzte möglichst teure Medikamente verordnen, und zwar die von Peterson & Peterson.“ „Dann schlagen Sie zum Beispiel Anwendungsbeobachtungen vor oder Sie liefern iPods für jeden Patienten?“ „Peterson & Peterson gibt grundsätzlich keine Sachleistungen.” Henry lachte kurz. „Sorry, ich vergaß, Sie bevorzugen Geld.” „Es ist ein hartes Geschäft.” „Ich verstehe langsam. Ihre Aufgabe besteht darin, die Ärzte dazu zu bewegen, teure Medikamente zu verschreiben, obwohl es auch günstigere gibt, die genauso gut wirken.” „Das ist sicher ein Teil meiner Aufgabe. Genauer könnte man sagen: Meine Aufgabe ist es, mindestens so viel Geld aus den Krankenkassen auf die Konten von Peterson & Peterson zu leiten, dass die geplante Rendite erreicht wird. Das geht nun mal nicht mit billigen Medikamenten.” „Haben Sie noch weitere Tricks auf Lager?” „Das sind keine Tricks, noch nicht einmal besondere Geheimnisse. Das hat sich so eingespielt. Man kann das sogar in Büchern nachlesen. Die Öffentlichkeit und die Regierung akzeptieren dieses Verfahren.” „Ok. Ich verstehe. Aber hin und wieder bringen Sie doch ein neues Medikament auf den Markt, eine Innovation. Ich meine, Sie forschen doch auch?” Assmuss schien sich innerlich zu verbiegen. Er sah Henry an und schwitzte. „Sie wollten kooperieren.” „Nun gut, in der Branche gibt es so etwas wie einen Forschungsstillstand. Wir hängen das nicht an die große Glocke, verstehen Sie?” „Nein. Erklären Sie es mir.” Assmuss zögerte kurz und atmete mit einem leichten Stöhnen aus, bevor er weitersprach: „Es ist so: Zwischen 1990 und 2009 sind etwas mehr als 550 neue Wirkstoffe auf den Markt gekommen. Davon waren aber nur acht eine echte Innovation, eine übrigens von Peterson & Peterson. Zwischen 40 und 50 hatten einen kleinen, beschränkten Zusatznutzen, nicht der Rede wert. Der Rest, also 90 Prozent, waren genauso gut, manche auch schlechter als die Vorläufermedikamente. Sie waren nur teurer.” „Wie viel gibt Ihre Firma für Forschung und Entwicklung neuer Medikamente aus?” „Nun, Peterson & Peterson ist ein forschendes Arzneimittelunternehmen. Wir sind aus der Forschung entstanden. Der Firmengründer … “ „Wie viel Prozent, Assmuss? Wie viel Prozent Ihres Gewinnes stecken Sie in Forschung und Entwicklung?” Assmuss sah ihn gequält an. „Zehn Prozent”, brachte er schließlich heraus. „Zehn Prozent stecken wir in die Forschung.” „Assmuss, von diesen zehn Prozent – wie viel verwenden Sie, um wirklich neue Medikamente zu erforschen?” „Um ehrlich zu sein”, sagte Assmuss, „stecken wir fast alles in Nachfolgeprodukte unserer patentgeschützten Medikamente.” Er senkte den Kopf. Dann blitzte helle Empörung aus ihm heraus: „Wissen Sie, was die Entwicklung eines neuen Medikamentes wirklich kostet? Die Studien? Die Zulassungen? Es rechnet sich einfach nicht.” „Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie die Forschung nach neuen Medikamenten eingestellt haben? Dass Sie nicht mehr wirklich forschen?” Assmuss gewann seine Fassung zurück. In einem fast belehrenden Ton sagte er: „Forschung nach neuen Substanzen sind Kosten. Kosten sind ein beständig zu eliminierendes Element.” „Das heißt, Sie erklären mir gerade, dass dieses System funktioniert? Ich meine, Sie verkaufen immer nur Abwandlungen der immer gleichen Arzneien?” Assmuss schwieg, fast ein wenig beleidigt. „Wie viel geben Sie für Marketing und Werbung aus?” „Für Marketing und Werbung? Round about vierzig Prozent”, sagte Assmuss. „Viermal so viel für Werbung wie für Forschung?” „So funktioniert unsere Branche nun einmal. Wir haben ein Innovationsloch. Niemand weiß das besser als die Vorstände der großen Pharmakonzerne.” „Aber sie forschen ja auch kaum mehr …” „Es ist billiger, alte oder ältere Medikamente zu recyceln, als neue zu entwickeln. Leider ist das so.” „Und die wenigen neuen Substanzen? Wo kommen die her?” „Nun, wir beobachten sehr genau, was an den staatlichen Universitätskliniken geschieht. Dort wird geforscht. Wir haben das ganz gut im Griff. Eine eigene Abteilung bei uns steuert das. Wir sponsern systematisch Institute, Lehrstühle, Kolloquien und Studien.” „Und dann?” „Dann kaufen wir die Ergebnisse. Oder nehmen sie in Lizenz. Wissen Sie”, Assmuss beugte sich nach vorn und sprach nun leise, „die Unikliniken sind froh, wenn wir ihnen drei oder vier Millionen zahlen. Das ist für die viel Geld.” „Es gibt keinen Aufschrei in der Wissenschaft, wenn sie so übers Ohr gehauen werden?” „Sie kennen diesen Betrieb nicht, nicht wahr, Henry?” „Nein.” „Viele Institute von deutschen Universitätskliniken hängen von Drittmitteln ab. Von unserem Geld also. Arbeitsplätze, Karrieren junger Wissenschaftler sind direkt davon abhängig. Wir achten darauf, dass gerade junge Forscher schon früh den Umgang mit Drittmitteln lernen. Sie müssen es für selbstverständlich erachten, dass ohne Drittmittel nichts geht. Dies entwickelt antizipative Umgangsformen bei den Wissenschaftlern.” „Erläutern Sie das.” „Beide Seiten sind klug genug zu wissen, wie es läuft. Man muss nicht mehr darüber reden. Wir geben das Geld und wir lassen wissen, wie wir uns das Ergebnis einer Studie oder was auch immer vorstellen. Die jungen Leute merken bald: Wenn sie sich mit uns gutstellen, geht es voran, gibt es Geld, gibt es neue Stellen.” „Aber diese Forschung wurde doch von den Bürgern aus Steuergeldern bezahlt?” Assmuss nickte. „Von uns nur zu einem kleinen Teil.” „Und was machen Sie daraus?” „40 Prozent”, sagte Assmuss.

Die Pharma-Drücker
„Ich fasse unser Gespräch von heute zusammen: Die Pharmaindustrie forscht nicht wirklich, sie motzt nur alte Medikamente auf, weil das billiger ist, als neue innovative Arzneien zu entwickeln. Wenn es eine Innovation gibt, dann kommt die aus öffentlichen Uni-Kliniken, weitgehend finanziert mit öffentlichen Geldern. Die Ergebnisse dieser Forschungen kaufen die Firmen günstig und verdienen viel damit. Ist das so weit richtig?” „Ich würde das anders ausdrücken.” Henry fragte: „Die angeblichen neuen Medikamente bringen Sie mit einem riesigen Marketingaufwand bei den Ärzten unter. Wie funktioniert das?” „Nun, wir haben unsere Pharmareferenten. Etwa 20.000 gibt es davon in Deutschland. Wir allein beschäftigen etwa 3.000.” „Pharmareferent. Mmh. Ich habe noch keinen kennengelernt. Was macht ein Pharmareferent?” Er sagte: „Unter uns: Es ist ein Scheißjob. Wir sammeln die abgebrochenen Mediziner ein, Biologen ohne Job, Studienabbrecher aller Art. Die Leute sind sprechendes Marketingmaterial.” „Sie sind was?” „Sprechendes Marketingmaterial. So sagen wir dazu, auf Vorstandsebene.” „Was tun diese Leute?” „Das kann ich Ihnen genau sagen, Henry: An ein oder zwei Tagen im Jahr gehe ich mit meinen Leuten raus, an die Front, also zu den Verordnern. Schließlich muss ich ja wissen, wie die Arbeit dort läuft. Erstaunlicherweise finden meine Leute das gut, sie finden es toll, dass der Chef an ihrem Arbeitsalltag teilnimmt oder so etwas Ähnliches.” Assmuss lachte sein Lachen, das wie ein Meckern klang. „Diese Arbeit”, fuhr er dann fort, „das habe ich dabei bemerkt, hat etwas Absurdes an sich. Es ist ein Scheißjob. Ein normaler Arztbesuch dauert oft nur wenige Minuten. Aber für die paar Minuten wartet der Pharmareferent oft Stunden, sitzt im Wartezimmer, schleicht durch die Gänge der Klinik, hockt stundenlang in der Cafeteria. Die Verordner haben immer weniger Interesse an einem wirklich vertieften Gespräch mit den Pharmareferenten. Dazu kommt: Wir machen strenge Vorgaben: Ein Referent von Peterson & Peterson muss zehn Besuche pro Tag erledigen. Über jeden Besuch wollen wir einen Bericht. Manchmal erfinden die Referenten Teile ihres Berichts, denn wahr ist, dass die meisten Verordner höchstens einen knappen Händedruck für sie übrig haben. Manche unserer Leute müssen sich mit einer Arzthelferin zufriedengeben. Manche Ärzte sind betont schroff, um sie sich vom Leib zu halten. Denn Sie müssen wissen: Bei der großen Zahl an Firmen bekommt jeder Arzt mehrmals am Tag Besuch vom Pharmareferenten. Motivierend ist das alles nicht. Wir feuern pro Jahr fünf oder sechs Mitarbeiter, wenn‚s geht fristlos, um die Moral in der Truppe zu halten – aber es ist und bleibt ein Scheißjob.” „Die kommen zu den Ärzten gar nicht durch?” „Es wird immer schwieriger. Deshalb arbeitet die Branche lange schon mit diesen Geschenken, von denen wir schon sprachen. Mit Einladungen zum Abendessen kann man nicht mehr landen. Wer will schon mit einem Pharmareferenten zu Abend essen? Und dabei möglicherweise noch von einem Kollegen gesehen werden? Die alten Witwer gehen gern mal mit einer jungen Referentin aus, aber das hat alles keine rechte Zukunft mehr,” „Trotzdem machen Sie das?” „Es wird immer schwieriger. Die Ärzte werden immer kritischer. Sie nehmen immer weniger Geschenke an. Die Klinikleitungen beobachten unsere Tätigkeit zunehmend aufmerksam, manchmal fast feindselig.” „Trotzdem finden Sie immer noch Leute, die das machen?” „Referenten verdienen gut. Sie bekommen bei uns einen A6 als Firmenwagen. Sie müssen nicht viel denken, nur fleißig sein. Man kann damit eine Familie ernähren. Es melden sich immer noch mehr als genug Bewerber. Aber sie sind auch ein Kostenfaktor, vergessen Sie das nicht. Überlegen Sie mal: Wir geben pro Referent im Jahr 130.000 Euro aus, also für Gehalt, Wagen, Spesen, Innendienst und so weiter. Das macht 390 Millionen – nur für die Personalkosten in diesem Bereich. Eine Infobroschüre ist davon noch nicht gedruckt. Die Branche gibt etwa 2,5 Milliarden Euro nur für die Referenten aus.” „Aber wenn es sich nicht lohnen würde, würden Sie das doch nicht machen.” „Es bleibt immer was hängen. Alle Studien sagen, dass die Ärzte, selbst wenn sie den Pharmareferenten behandeln wie einen Fußabtreter, dann doch unsere Medikamente verordnen – jedenfalls häufiger, als wenn wir nicht ständig in der Praxis stehen würden.

Goldgrube Krebsmittel
„Als ich zu Peterson & Peterson kam, habe ich alles umgekrempelt. SAP eingeführt, den Vorstand ausgewechselt, MCKINSEY ins Haus geholt, was man eben so macht, wenn man einen großen Laden übernimmt. Footsteps setzen, wie man so sagt. Aber auf den entscheidenden Gedanken bin ich selbst gekommen. Wer sind unsere Kunden, wollte ich wissen. Wer schluckt unsere Medikamente? Diese Analyse hat unser Geschäftsmodell geändert. Auf Grund meiner Analyse, das darf ich sagen, hat Peterson & Peterson in Europa eine Gewinnexplosion erlebt, die es in dieser Firma noch nie gegeben hat. – Kann ich noch einen Schluck von diesem wirklich vorzüglichen Barbera haben?” „Sicher.” Henry hatte ein komplettes italienisches Menü zum Mittagessen mitgebracht. Bruschetta, Vitello tonnato, Spaghetti alle vongole und drei Flaschen Barbera d‘alba DOC. Er hatte alles in Tupperdosen umgefüllt: kein Hinweis auf das Lokal, in dem er das Essen und den Wein gekauft hatte. Assmuss merkte diese Sorgfalt wohl. Er interpretierte es als gutes Zeichen. Wenn er mich umbringen wollte, würde er sich solche Mühe nicht geben. Und zum ersten Mal aß Henry, trotz schwarzer Maske, zusammen mit ihm. „Also mit dem Wein muss ich vorsichtig sein. Wahrscheinlich bin ich gleich betrunken, hab ja seit Tagen keinen Alkohol mehr getrunken.” „Wird schon nicht so schlimm werden”, sagte Henry und schenkte Assmuss nach. „Ich habe, das darf ich wirklich sagen, in aller Bescheidenheit, das Geschäftsmodell in der gesamten Branche völlig revolutioniert.” „Und? Wer schluckt Ihre Medikamente?” „Die Analyse ergab, dass wir 42 Prozent unseres Umsatzes mit nur drei Prozent der Patienten machen.” „Was sind das für Patienten, diese drei Prozent?” „Ja, das ist die Frage nach der Zielgruppe. Eine zweite Frage ist aber viel interessanter.” „Nämlich?” „Wie hoch sind die Jahrestherapiekosten dieser Zielgruppe und wie kann man sie steigern?” „Ich bleibe aber erst mal bei meiner Frage: Was sind das für Patienten?“ „Nun.”Assmuss wand sich. „Das sind die final Erkrankten”, sagte er schließlich. „Final Erkrankte?” „Menschen, die nicht mehr gesund werden.” „Sie meinen todkranke Patienten?” „Wenn Sie wollen, Henry, sagen Sie Todkranke. Mir gefällt der Ausdruck nicht.” „Wie Sie wollen. Sie stellten also fest, dass Sie mit diesen Tod … , also mit dieser Zielgruppe 42 Prozent Ihres Umsatzes machen?” „Genau. Eine wachsende Zielgruppe übrigens. Sie müssen wissen: In Deutschland erkranken jährlich 450.000 Menschen an bösartigen Tumoren, also an Krebs. Davon sterben 216.000 Patienten. Wir gehen davon aus, dass diese Zahl bis 2050 um 30 Prozent steigt, weil die Bevölkerung immer mehr altert.” „Die Todkranken sind eine wachsende Zielgruppe?” „So ist es.” „Sie nennen diese Menschen Zielgruppe.” „Nun ja. Aber Peterson & Peterson hat durchaus auch ethische Zielsetzungen. Wir engagieren uns zum Beispiel sehr gegen Sterbehilfe durch Ärzte. Wir sind dafür, dass Ärzte mit scharfen Sanktionen zu rechnen haben – selbst wenn es sich um passive Sterbehilfe handelt.” Der Entführer schwieg. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Henry, sind Sie böse? Ich kooperiere. Das sehen Sie doch. Ich bin guten Willens. Ich erzähle es, wie es ist.” „Dann erzählen Sie jetzt von Ihrer bahnbrechenden Idee.” „Meine Idee war zielgruppenorientiertes Marketing. Kann ich noch die letzte Bruschetta haben?” „Bitte. Nehmen Sie nur.” Assmuss steckte sich die Bruschetta vollständig in den Mund und begann fast gleichzeitig zu sprechen. „Bei den herkömmlichen Therapien lag der Umsatz pro Patient bei 10.000 bis 15.000 Euro im Jahr. Wissen Sie, was ich mich fragte?” „Sagen Sie es mir?” „Wie steigere ich die Jahrestherapiekosten auf 100.000 Euro und mehr.” Henry nahm den Schreibblock und zog einen Kugelschreiber aus der Hosentasche. „Stopp. Ich möchte mal rechnen”, sagte er. Er schrieb: 450.000 Neuerkrankungen x 15.000 Euro Therapiekosten = 6750.000.000. Er fragte: „Was ist das für eine Zahl? Ist das schon eine Billion?” Assmuss lachte: „Nein, leider nicht. Das sind 6,75 MilliardenEuro.”Henry rechnete erneut. 450.000 x 100.000 = 45.000.000.000. „Das sind 45 Milliarden.” „Pro Jahr”, sagte Assmuss. „Sie wollten Ihren Umsatz von 7 auf 45 Milliarden Euro steigern?” „Nein, das sind die Zahlen des Gesamtmarkts. Da sind leider NOVARTIS und die lieben anderen Kollegen mit drin. Wir haben nur einen marketshare von 20 Prozent.” „Einen was?” „Marketshare. Einen Marktanteil.” „Gut, lassen Sie mich rechnen.” Henry schrieb erneut. 20 % von 7 = 1,4; 20 % von 45 = 4,5 x 2 = 9.„Sie haben den Umsatz von PETERSON & PETERSON von 1,4 auf neun Milliarden Euro gesteigert!” „Das haben wir noch nicht vollständig geschafft, aber wir sind auf einem guten Weg. Leider haben unsere Wettbewerber unsere Strategie sehr schnell analysiert, ihre Vorteile erkannt und sie dann kopiert.” „Das heißt?” „Die Strategie besteht aus zwei Elementen. Erstens: neue Substanzen, zweitens: neue Vertriebsstrategie.” „Fangen wir mit den neuen Substanzen an.” „Die vorhandenen Präparate konnten wir nicht einfach verteuern. Deshalb suchten wir neue Produkte, bei denen wir ein völlig neues Preisgefüge im Markt etablieren konnten.” „Das habe ich ja schon gelernt. Sie können die Preise festlegen, wie Sie wollen.” „Ja, wenn sie zugelassen sind.” „Was sind das für neue Substanzen?” „Es sind neue Wirkstoffe gegen Krebs. Diese Antikörper oder Enzymstoffe greifen in die kranke Zelle direkt ein und bekämpfen molekulare Ziele. Sie richten sich also direkt und ausschließlich gegen die Krebszelle. Die Chemotherapien greifen ja gesunde und kranke Zellen gleichzeitig an. Verstehen Sie?” Das klingt nach einem großen Fortschritt.” „Sehen Sie, so haben wir das auch dargestellt.” „Ihr Produkt heißt Visceratin.” „Ja. Dieses Produkt hat unseren free cash flow nachhaltig verändert, also unser freies Geld. Die Barmittel.” „Sie haben gute Geschäfte mit Visceratin gemacht, wollten Sie sagen?” „Sensationelle Geschäfte.” „Wie viel kostet das Medikament?” „Es ist uns damit gelungen, die Jahrestherapiekosten auf 114.835 Euro hochzufahren.” „Macht Visceratin die Patienten wieder gesund?” „Gesund? Nein. Aber wir verlängern das Leben der krebskranken Menschen.” „Wirklich?” „Ja. Da darf der Preis doch wirklich nicht das erste Kriterium sein. Zumal – den bezahlen doch die Krankenkassen. “ „Wie lange verlängert dieses Medikament das Leben?” „Nun, da kann ich Ihnen sagen, Henry, dass wir bei fortgeschrittenem Lungenkrebs erstmals die Schallmauer von zwölf Monaten Überlebenszeit durchbrochen haben. Wir konnten sie auf 12,3 Monate steigern und arbeiten an weiteren Verbesserungen.” „Das hört sich gut an.” „Nicht wahr? Sie wirken nachdenklich, Henry” „Sagen Sie, Assmuss, wie hoch war die Überlebenszeit ohne Ihr Medikament?” Dirk Assmuss schwieg. „Kann ich noch ein Glas von dem Barbera haben?” Henry goss schweigend nach. „Nun, ohne Visceratin sterben die Patienten im Durchschnitt nach 10,3 Monaten, mit unserem Medikament sind es 12,3 Monate.” „Und das nennen Sie eine Schallmauer? Zwei Monate!” Plötzlich schrie Assmuss: „Es geht um den Preis, den Umsatz. Verstehen Sie das denn nicht? Und die anderen machen es doch genauso!”

Die Zulassungsstudien
„Was ich nicht verstehe”, sagte Henry. „Sie müssen diese neuen Medikamente doch irgendwie zulassen. Die werden doch sicher geprüft. Oder nicht?” Assmuss hatte rotgeäderte Augen. Auch Nase und Wangen waren rot. Der schwere italienische Rotwein wirkte. Er stützte den Kopf in beide Hände. „Ja sicher. Wir müssen den Nachweis führen, dass das Medikament wirkt. Wenn wir das nachweisen, wird es zugelassen. Die Behörde ist die Europäische Arzneimittelagentur. EMA steht für European Medicines Agency. Sprechen Sie Englisch, Henry?” „Nicht fließend. Ich kann mich verständigen.” Wieder eine kleine Information, die dir das Genick brechen wird. Wenn ich erst mal hier draußen bin. „Wir führen Studien durch. Die EMA prüft sie. Und entscheidet. Das ist ein eingespieltes Verfahren.” „Wer finanziert diese Studien?” „Das ist unterschiedlich. Ein Großteil dieser Studien und klinischen Tests wird von uns, also der pharmazeutischen Industrie, bezahlt. Andere bezahlt die öffentliche Hand: Universitätskliniken.” „Nehmen Sie Einfluss auf die Ergebnisse dieser Studien, enn Sie sie bezahlen?” „Nun, das ist nicht so einfach. Da gibt es hohe wissenschaftliche Standards, die wir einhalten müssen.” „Das beantwortet meine Frage nicht.” „Es gibt ja diese Studie über die Studien. Kennen Sie die?” „Nein.” Noch eine kleine Information, die für deine Verhaftung vielleicht wichtig ist, Henry. „Nun, diese Studie über die Studien besagt, dass die klinischen Tests, die von der pharmazeutischen Industrie bezahlt werden, häufiger zu einem positiven Ergebnis über die zu testenden Medikamente kommen als die Studien, die ohne uns finanziert werden.” „Und? Wie nehmen Sie Einfluss?” Assmuss schwieg. Er hatte den Kopf gesenkt. Seine Kiefernmuskeln bewegten sich auf und ab. Es arbeitete in dem schweren Mann. „Wir können uns morgen weiter unterhalten”, sagte Henry. „Vielleicht brauchen Sie eine Pause.” Assmuss hob den Kopf und starrte Henry an. „Ich will hier raus”, schrie er. „Ich brauche keine Pause.” „Gut. Wie Sie wollen. Also zurück zu den Studien. Wie nehmen Sie Einfluss?” Assmuss atmete schwer. „Nun, wir haben da natürlich langjährige Erfahrungen. Die Ergebnisse fallen verschieden aus, je nachdem, was gefragt wird oder was nicht gefragt wird. Wichtig ist die Auswahl der Patienten, welche ein- oder ausgeschlossen werden. Wichtig ist auch, womit verglichen wird.” „Geht es noch etwas genauer?” „Wenn wir eine schwache Substanz haben oder eines unserer Nachfolgeprodukte, dann vergleichen wir sie mit einem Placebo. Dann stellt sich eine gewisse Wirkung fast von allein ein, und wir haben den Nachweis, den wir für die EMA brauchen.” Assmuss schwieg. Henry sagte: „Also, ich habe keine Lust, Ihnen jeden Wurm einzeln aus der Nase zu ziehen. Entweder Sie reden jetzt oder schmoren weiter hier in Ihrer Höhle. Vielleicht finden Sie‚s ja gemütlich hier.” Assmuss warf ihm einen Blick zu, in dem Henry nur das Weiße von Assmuss‘ Augen sah. „Wir dosieren den Wirkstoff niedriger, dann treten weniger Nebenwirkungen auf. Wir nehmen junge Testpersonen, auch bei denen treten Nebenwirkungen seltener auf als bei älteren oder Kranken.” „Testen Sie Krebsmedikamente an Personen, die die Krankheit erst im Anfangsstadium haben?” „Was werfen Sie mir vor, Henry? Das machen alle so. Warum haben Sie mich genommen? Warum nicht irgendeinen meiner Kollegen? Warum ich?” Er schluchzte. Vielleicht war es der Rotwein, vielleicht Verzweiflung. Plötzlich standen Tränen in den Augen des mächtigen Mannes. „Warum ich, Henry? Ich arbeite, seit ich denken kann, in dieser Branche. Ich bin erfolgreich. Ich werde nicht kritisiert, außer von gewissen Journalisten. Ich habe das Verdienstkreuz. Ich speise im Kanzleramt. Ich bin ein angesehener Bürger dieses Landes. Wir spenden an die CDU. Wir spenden sogar an die SPD und ein bisschen an die Grünen. Was wollen Sie von mir?” „Ich will nur verstehen, Assmuss. Mehr nicht.” Assmuss seufzte. „Warum lesen Sie dann nicht das arzneimittel-telegramm? Dort war zu lesen von einer Studie der Universität Edinburgh. Demnach räumte ein Drittel der befragten Forscher ein, dass sie Daten aufgrund eines Bauchgefühls fallen lassen. Sie verändern das Design der Studien, an denen sie arbeiten, sie verändern die Methode oder die Ergebnisse, oft wegen des Drucks, der von den finanzierenden Institutionen ausgeübt wird.” „Und das macht auch Peterson & Peterson?” „Ja. Aber Henry, ich kann es immer wieder sagen: Peterson & Peterson ist doch nicht alleine auf der Welt. Sie kennen doch die firmeninternen Schulungsunterlagen von PFIZER, die wegen Gerichtsverfahren in den USA bekannt wurden.” „Nein, die kenne ich nicht.” „Nun, vielleicht wurden die in Deutschland nicht so bekannt. Ich kenne einiges davon auswendig.” „Ich höre.” „Die von PFIZER finanzierten Studien gehören PFIZER und nicht irgendjemandem. Der Zweck der Daten ist es, direkt oder indirekt den Verkauf unseres Produkts zu unterstützen.“ So steht das da, Henry. Und so denkt jeder in der Branche. Und weiter heißt es: „Deshalb ist die Marketingabteilung immer einzubeziehen, wenn Studiendaten verbreitet werden.“ So sieht’s aus. „Weiter!” „Nun”, sagte Assmuss resigniert, „wir veröffentlichen Studien nicht, wenn sie nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. Oder wir brechen sie ab und setzen sie neu auf, vielleicht mit anderen Testpersonen, anderem Design oder anderen Fragestellungen.” Oder anderen Dosierungen? „Oder anderen Dosierungen?” „Oder anderen Dosierungen. Ja, das auch. Studien sind Verkaufsargumente. Und wir wollen gute Verkaufsargumente. Ist das denn verwerflich? Veröffentlicht DAIMLER denn alle Ergebnisse der Crashtests? Legt die Bahn den Stresstest zu Stuttgart 21 nicht aus, wie sie ihn braucht?” „Medikamente sind keine Autos oder Kugelschreiber oder Reisetickets. In meinem laienhaften Verständnis sollen Medikamente Krankheiten heilen, vielleicht sogar Leben retten. Ist es da nicht wichtig, auch negative Studien zu kennen?” „Ich bin Geschäftsmann, Henry. Ich werde nicht danach bezahlt, wie viel Leben ich rette. Ich werde daran gemessen, ob ich vierzig Prozent Umsatzrendite mache. So einfach ist das. So sind die Verhältnisse. Und ich habe sie nicht erfunden.”

Die Werbestrategie
„Damit fing alles an. ‚Direct to consumer advertising’ heißt die Strategie, die ich entwickelt habe.” „Das heißt?” Englisch kann er wirklich nicht, dachte Assmuss. Auch das muss ich mir merken. „Das bedeutet Werbung für Medikamente direkt beim Verbraucher.” „Ist das erlaubt?” „In Deutschland verbietet das Heilmittelwerbegesetz, dass wir uns direkt an die Verbraucher wenden. Leider. Für verschreibungspflichtige Medikamente dürfen wir direkt nur bei Ärzten, Zahnärzten oder Apothekern werben.” „Und Sie tun es trotzdem?” „Nein. Die Ausgangslage verändert sich. Die jüngeren Ärzte sehen unser Engagement zunehmend kritischer. Ein Arzt hat mir mal offen ins Gesicht gesagt, er fühle sich beschmutzt, wenn er Geschenke von der Pharmaindustrie annehme. Es gibt eine Ärztevereinigung, die nennen sich WIR BEZAHLEN UNSER ESSEN SELBST. Stellen Sie sich das einmal vor! Als würden wir den Herren Doktoren nur das Essen zahlen!” Assmuss schnaufte empört. „Die wollen es nicht anders. Wir nehmen sie jetzt von einer anderen Seite her unter Feuer. Kern unserer neuen Strategie ist, dass die Patienten selbst verlangen, dass die Ärzte unsere Medikamente verschreiben. Wir wenden uns direkt an die Endverbraucher.” Henry zog die Luft durch die Nase ein, beugte sich ein kleines Stück nach vorne, als wolle er etwas sagen, schwieg dann jedoch. „Sehen Sie, der heutige Patient beschäftigt sich intensiv mit seiner Krankheit. Er liest Bücher über Gesundheitsthemen. Über Ernährung. Der moderne Patient hat ein gesteigertes Informationsbedürfnis. Wir befriedigen es.” „Auch über Visceratin?” Sie fragen nun schon zum dritten Mal nach diesem Medikament, Henry. Leiden Sie an … “ „Ich stelle hier die Fragen.” Assmuss legte beide Arme auf seinen Bauch. Er wirkte plötzlich sehr zufrieden. Wir haben dich, Henry, dachte er. Wenn du nur einmal in deinem Leben Visceratin verschrieben bekommen hast, haben wir dich. Dein Name steht in irgendeinem Ärztecomputer. Die Polizei wird dich finden. „Ich kann Ihnen helfen, Henry. Wenn Sie es möchten. Ich kenne die besten Ärzte, die besten … “ „Letzte Warnung: Halten Sie die Klappe und beantworten Sie meine Frage.” „Gut, Wie Sie wollen. Es war ein Angebot, Henry, mehr nicht. Wir erstellen Internetseiten für die Krankheiten, zu denen wir ein Medikament anbieten.” „Wie heißen diese Seiten?” Jetzt geht es nur noch darum, hier zu überleben. Henry ist Kunde. Es geht um ein verschreibungspflichtiges Medikament. Die Polizei wird ihn finden. Ich muss nur aus diesem Keller lebend rauskommen. „Wie heißen die Seiten?” Assmuss schreckte aus seinen Gedanken und nannte drei Internetseiten, und Henry tippte sie ein. „Assmuss – das sind Seiten von Selbsthilfegruppen.” „Klar, das ist ja das Geniale. Wir dürfen nicht werben. Wir sponsern Selbsthilfegruppen. Wir bieten ihnen an, endlich einen richtigen Internetauftritt zu gestalten. Auf unsere Kosten natürlich.” Er lachte. „Da gibt es Diskussionsforen. Da kann man sich austauschen. Erfahrungen mitteilen. Alles sieht professionell aus und nicht so selbstgebastelt wie zuvor,” „Und die Selbsthilfeorganisationen machen das mit?” „Erstens haben die kein Geld. zweitens, wenn sie nicht mitmachen, gründen wir eben neue.” „Sie gründen neue Selbsthilfeorganisationen?” „‚Direct to consumer advertising’ – die Patienten stehen im Mittelpunkt unseres neuen Marketingkonzepts. Wir informieren sie. Wir wollen, dass sie zu ihrem Arzt rennen und unsere Medikamente verlangen. Und wenn er sie nicht verschreibt, gehen sie zum nächsten Arzt. Der verschreibt sie dann ganz sicher.” Assmuss lachte wieder dieses meckernde Lachen. „Es funktioniert, Henry. Wir schulen unsere Pharmareferenten um. Sie betreuen Selbsthilfeorganisationen. Sie organisieren Veranstaltungen. Sie organisieren die Mietmäuler. Sie helfen bei … “ „Mietmäuler?” „Sorry, Henry. Diesen Begriff dürfte ich gar nicht verwenden. Er ist mir rausgerutscht. Aber so nennt man in der Branche die Referenten, die gegen Bezahlung das Loblied auf unsere Produkte singen.” „Können das auch Oberärzte sein oder gar Klinikchefs?” „Das ist die unterste Stufe. Die setzen wir ein bei Patiententagen und Ähnlichem. Je glaubwürdiger, desto besser, Institutsleiter sind besser, die schreiben Aufsätze in den medizinischen Journalen, die wiederum die niedergelassenen oder die Fachärzte lesen.” „Und treten auf diesen Veranstaltungen auch von Ihnen bezahlte Leute auf, geben sich als Patienten aus und sagen, wie gut Visceratin bei ihnen wirkt?” „Ja. Das machen wir auch. Wir überlassen nichts dem Zufall.”