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[Schering] STICHWORT BAYER 4/2006

CBG Redaktion

Nach BAYERs SCHERING-Deal:

Noch mehr bittere Pillen

Die Übernahme des Pharma-Unternehmens SCHERING macht den Leverkusener Multi zum größten Arzneihersteller der Bundesrepublik. Dabei schluckte der Konzern so manche bittere Pille – nicht nur im wörtlichen Sinn. Auch Hypotheken aus der NS-Vergangenkeit lasten auf dem Berliner Konzern und „bereichern“ so BAYERs IG-FARBEN-Erbe.

Von Jan Pehrke

1851 kaufte Ernst Schering eine Apotheke und legte damit den Grundstein zur Geschichte des Berliner Pharma-Konzerns. Bald darauf gründete er eine Fabrik zur Herstellung von Arzneistoffen und Chemikalien, die er 1871 in eine Aktiengesellschaft umwandelte. Nach dem Ersten Weltkrieg geriet diese in ökonomische Schwierigkeiten und verlor ihre Selbstständigkeit. Die OBERSCHLESISCHEN KOHLEWERKE übernahmen die Aktienmehrheit. Erst seit 1937 firmiert SCHERING wieder unter eigenem Namen.

Auch sonst gedieh das Unternehmen während der nationalsozialistischen Zeit. Es profitierte von der „Arisierung“ jüdischen Besitzes und erwarb die Firmen DEGEWOP und SCHERK sowie einige Berliner Apotheken zum „Schnäppchenpreis“. Durch die Beschlagnahme von „Feindvermögen“ erhielt SCHERING Aktien der holländischen Firma BROCADES, und die Raubzüge der Nazis im Osten bescherten dem Konzern die tschechoslowakischen Fabriken „Aussig I“ und „Aussig II“. Vor der Beschäftigung von ZwangsarbeiterInnen schreckten die Konzern-Herren ebenfalls nicht zurück.

„Negative Bevölkerungspolitik“
Und schließlich unterstützte das als „kriegswichtiges Unternehmen“ eingestufte SCHERING-Werk die NS-Vernichtungspolitik. Diese beschränkte sich nämlich nicht nur auf das Töten „unwerten Lebens“; sie wurde auch „präventiv“ tätig. „Unter Zerstörung verstehe ich nicht unbedingt die Ausrottung dieser Menschen. Ich werde einfach systematische Mittel anwenden, den Nachwuchs dieser Bevölkerung zu unterbinden“, sagte Adolf Hitler und setzte auf willige Helfer unter den Medizinern. Einen solchen fand er in Professor Carl Clauberg. Während seiner Zeit an der Universität Kiel leitete er für SCHERING die klinische Erprobung der Hormon-Präparate PROGYNON und PROLUTON. Später arbeitete der mit einem Jahressalär von 21.144 Reichsmark bestbezahlteste externe Mitarbeiter des Konzerns an einer Technik zur Massensterilisation.

Das brachte ihm ein Empfehlungsschreiben des SS-Reichsarztes Ernst Grawitz an Himmler ein. „Bei der unerhörten Bedeutung, die ein solches Verfahren im Sinne einer negativen Bevölkerungspolitik haben würde, … erlaube ich mir daher, Reichsführer, den Vorschlag, Prof. Clauberg ein entsprechendes Forschungsinstitut in oder bei Königshütte einzurichten und diesem ein Frauenkonzentrationslager für etwa zehn Personen anzugliedern“, heißt es darin (1). Ein Jahr später, nach dem Scheitern der Experimente von Dr. Madaus, darf Clauberg Himmler im Führerhauptquartier persönlich seine Pläne zur Sterilisierung von Männern mittels Röntgenstrahlen und der von Frauen mittels einer Reizflüssigkeitsinjektion unterbreiten. Im Herbst 1942 macht sich der inzwischen zum SS-Brigadeführer aufgestiegene Clauberg gemeinsam mit dem bei SCHERING wegen Krankheit beurlaubten Paul Göbel im KZ Auschwitz-Birkenau an die Arbeit, wobei ihm die Berliner Zentrale die benötigten Medikamente und Röntgenkontrastmittel liefert. Hatte Clauberg ab 1938 bereits hochdosiertes PROGYNON und PROLUTON ohne Rücksicht auf Verluste an Frauen getestet, so ging er bei den Menschenversuchen im KZ noch rücksichtsloser vor. „Nach dem Erwachen lag ich wieder auf meiner Pritsche und war im Unterleib vollkommen verblutet. Ich bekam dann so furchtbare Schmerzen, dass ich mich wand wie eine Schlange. Ich grub mir vor Schmerzen die Fingernägel ins Fleisch.“, beschreibt Rosa Finkelstein ihr Martyrium. Die Gesundheitsschädigungen der Opfer reichen von Blasenkrankheiten, Unterleibsabszessen, Verdauungsproblemen, Sexualstörungen bis zu Unterleibskrebs.

Keine Stunde Null
Einige haben über ihre Pein auch den Verstand verloren, wie die von dem Publizisten Ernst Klee im Vorwort seines Standardwerkes „Auschwitz – die NS-Medizin und ihre Opfer“ beschriebene Frau. Bei einer polizeilichen Vernehmung konnte sie nur noch zusammenhanglos von einem Dr. Clauberg und einem ihr angeblich in den Bauch eingesetztes lebendiges Kaninchen fabulieren – offenbar eine fehlgeschlagene Verarbeitung ihres Schicksals als menschliches Versuchskaninchen. Klee beginnt sein Werk mit dem Hinweis: „In diesem Buch genannte Mediziner haben nach eigener Aussage niemals gegen ärztliches Ethos verstoßen.“ Ebendies reklamierte SCHERING nach dem Krieg auch für Dr. Clauberg. Er habe sich „mit dem Thema Sterilisierung nach den damaligen ethisch-medizinischen Richtlinien“ befasst und keine „verbrecherischen Handlungen“ begangen. „Am Interesse eines pharmazeutischen Forschers an einer für Patientinnen operationslosen und damit u. U. komplikationsärmeren Sterilisierung allein kann noch kein Interesse an einer politisch intentierten Zwangssterilisation abgelesen werden (was in der heutigen Literatur so gut wie nie bedacht wird)“, befindet der Konzern und muss auch zu einem solchen Urteil kommen. Eine Stunde Null gab es nämlich für das Unternehmen ebenso wenig wie für den Rest der medizinischen Welt. SCHERING profitierte – mit freundlicher Unterstützung der Marshall-Plan-Gelder – weiterhin von seinen Forschungen auf hormonellem Gebiet. Hatte dieser in einem Brief behauptet, die ursprünglich zur Behandlung weiblicher Unfruchtbarkeit bestimmten Mittel PROLUTON und PROGYNON könnten auch den gegenteiligen Zweck erfüllen und Schwangerschaften verhindern, so verfolgte der Pharmariese den von Clauberg und seinen Kollegen eingeschlagenen Weg konsequent weiter und brachte 1961 schließlich europa-weit die erste Verhütungspille heraus. Heutzutage ist das Unternehmen Weltmarktführer in diesem Segment, aber auch weiterhin mit der dunklen Vergangenheit Claubergs konfrontiert: Noch in diesem Jahr musste sich ein US-Gericht mit der Schadensersatzsklage des im KZ unfruchtbar gemachten Simon Rozenkier gegen SCHERING (und BAYER) befassen – lehnte diese allerdings mit Verweis auf den Entschädigungsfonds der bundesdeutschen Wirtschaft ab.

Die erste Pille
So gut die Pille den FinanzbuchhalterInnen schmeckte, so bitter stieß sie vielen Frauen auf. Das von SCHERING als „supersanft“ vermarktete Präparat FEMOVAN etwa erwies sich in seiner Wirkungsweise als nicht gerade zimperlich. Die „niedrigst dosierte Antibabypille“ führte bei vielen Komsumentinnen zu Herzkreislauf-Problemen. In England ereignete sich sogar ein Todesfall: Eine 19-jährige bekam zunächst eine Venenthrombose, dann eine Lungenembolie und starb. Die bundesdeutschen Aufsichtsbehörden erhielten bis Ende 1989 119 Meldungen über solch thromboembolische Nebenwirkungen. Der Vorstand aber schaltete auf stur. „Es gibt kein Medikament ohne Nebenwirkungen“, beschied der Vorstandsvorsitzende Guiseppe Vita einem Vertreter des SCHERING-kritischen Netzwerkes SCHAN auf der Hauptversammlung im Jahr 1989. Bei dem Fall einer Frau, die nach der Einnahme des Verhütungsmittels einen Hirninfarkt erlitten hatte, machten Unternehmenssprecher ihren hohen Cholesterinspiegel für den Gehirnschlag verantwortlich, obwohl dieser nach der Absetzung der Pille sofort von 236 auf 176 sank und erhöhte Blutfettwerte eine bekannte Nebenwirkung von Kontrazeptiva sind.

Der durch SCHAN aufgebaute öffentliche Druck bewog die Unternehmensleitung dann aber doch, den Endokrinologen Prof. Dr. Herbert Kuhl mit einem Gutachten über die Risiken und Nebenwirkungen von FEMOVAN im Vergleich zu dem Präparat MARVELON zu beauftragen. Es räumte kräftig mit dem Mythos um die „niedrigst dosierte Antibabypille“ auf. „Auch neue, extrem niedrig dosierte Gestagene (weibliches Keimdrüsenhormon, Anm. SWB) sind keine Wundersubstanzen (…), ihre starke orale Wirkung beruht in erster Linie auf ihrer langsamen Inaktivierung in der Leber und der dadurch verzögerten Ausscheidung, die – wie im Falle des Gestodens – eine für die geringe Dosis von 75 µg außergewöhnlich hohe Serumkonzentration zur Folge haben kann“, hieß es in dem Gutachten. Bei FEMOVAN war diese vier- bis fünfmal höher als bei MARVELON. SCHERING bestritt die Ergebnisse und fertigte eine hauseigene „Null Problemo“-Untersuchung an. Trotzdem dauerte es noch fast 10 Jahre, bis das „Bundesinstitut für Arzneien und Medizinprodukte“ zögerlich an der Reißleine zog und es MedizinerInnen wenigstens untersagte, Erstanwenderinnen FEMOVAN zu verschreiben.

Der Ruf der anderen „Supersanften“, TRIQUILAR und YASMIN, steht dem von FEMOVAN kaum nach. TRIQUILAR lässt ebenso wie FEMOVAN den Blutfettspiegel steigen, was Arterienverkalkung befördert und so das Risiko für Herzinfarkte oder Schlaganfälle erhöht. Der SCHERING-Konzern bestritt dies und legte zum Beweis eine Studie seines Mitarbeiters Prof. Michael Briggs vor, die sich jedoch später als Fälschung erwies. „Für die von SCHERING beanspruchte Stoffwechselneutralität von TRIQUILAR ergeben sich in der Literatur keine legitimierten Hinweise“, urteilte das arznei-telegramm deshalb und nennt kardiovaskuläre Komplikationen, Gebärmuttererkrankungen und Zystenbildungen als Nebenwirkungen. Auf die Hauptwirkung „Schwangerschaftsverhütung“ ist indes nur bedingt Verlass – wie auch bei dem Pessar MIRENA, unter dessen Anwendung es häufig zu gefährlichen Bauchhöhlenschwangerschaften kommt.

Auch bei YASMIN rät die Fachzeitschrift zu Zurückhaltung und führt die Gegenanzeigen „Kopf- und Brustschmerz“, „Übelkeit“, „Migräne“ und „Depressionen“ als Gründe auf. Zudem macht das Blatt auf die chemische Verwandtschaft des Inhaltsstoffes Drospirenon mit Spironolakton aufmerksam, dessen pharmakologische Verwendung nach Studien zum Krebsrisiko starken Auflagen unterliegt. Aber SCHERING störte das alles nicht. Der Konzern rührte mit Verweis auf eine angeblich diätische Wirkung des Kontrazeptivums kräftig die Werbetrommel, was Schlagzeilen wie „neue Anti-Baby-Pille macht sogar schlank“ produzierte. Durch den Presserummel um SCHERINGs YASMIN und das JENAPHARM-Präparat PETIBELLE sah sich das arznei-telegramm zum Eingreifen gezwungen und wandte sich mit einer Blitz-Meldung an die Öffentlichkeit. Mit Verweis auf die fehlenden Warnhinweise hieß es darin: „Bei dieser dürftigen Risikoinformation halten wir den Gebrauch von PETIBELLE und YASMIN, die offensichtlich den Lifestyle-Bereich abdecken sollen, für nicht begründbar“. Am ökonomischen Erfolg änderte diese Intervention freilich nichts: YASMIN ist Weltmarktführer unter den Verhütungsmitteln, und BAYER folgte bei der Kaufentscheidung nicht zuletzt dem Lockruf dieses Goldes.

Bevölkerungskontrolleur SCHERING
Die Pille hat die sexuelle Revolution mitausgelöst, was nicht unbedingt im Sinne der Erfinder war. Diese empfanden sich zum Teil eher als Claubergs Brüder im Geiste, da ihnen auch nach einer „negativen Bevölkerungspolitik“ der Sinn stand. Als Objekte galten ihnen aber nicht mehr Juden, sondern die Menschen in der Dritten Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nämlich für sie plötzlich zuviel davon, die Rede von der „Bevölkerungsexplosion“ ging um. Auf den Gedanken, mit einer gerechteren Verteilung der Güter und einer konsequenten Entwicklungshilfe-Politik vielleicht auch die „Überzahl“ satt zu machen, kamen ForscherInnen und PolitikerInnen nicht. „Fünf gegen das Wachstum der Bevölkerung investierte Dollar sind wirksamer als hundert für das Wirtschaftswachstum investierte Dollar“, meinte etwa der ehemalige US-Präsident Lyndon B. Johnson (2).

Die „Worchester Foundation for Experimental Biology“ legte ihr Geld deshalb ab 1951 in der Pharmaforschung an und machte den Biochemiker Gregory Pincus so zu einem der Väter der Pille. Der „Population Council“ von John Rockefeller III zeigte sich gleichfalls großzügig und finanzierte die Entwicklung zahlreicher Kontrazeptiva bis hin zu „Innovationen“ wie dem auch von SCHERING vertriebenen Implantat NORPLANT mit. Sogar auf ganz praktischem Gebiet kam Clauberg wieder zu Ehren. Jüngere GynäkologInnen entwickelten seine an KZ-Häftlingen erprobte „Verschweißmethode“ weiter und machten daraus ein Instrument zur Bevölkerungskontrolle in der „Dritten Welt“. Für SCHERING und die anderen Pharmariesen bahnte sich hier ein Milliardengeschäft an, ein hoch subventioniertes überdies. So gab die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits 1990 drei Millionen Dollar für den Vertrieb von Verhütungsmitteln aus, und der SCHERING freundlich verbundene Reproduktionsforscher Egon Diczfalusy sorgte als WHO-Berater dafür, dass die Berliner dabei nicht leer ausgingen. Die Bundesrepublik ließ sich die auswärtige Bevölkerungspolitik schon in jenem Jahr bedeutend mehr kosten: jährlich 50 Millionen Euro. Deshalb hat sich der Berliner Pillenriese schon frühzeitig um gute Kontakte zu den verantwortlichen Ministerien bemüht, die sich immer wieder auszahlten. Kein anderes Unternehmen hat so viele Pillen-Packungen unter das Weltvolk gebracht, umsatzmäßig reichte das allerdings nur zu Platz 3. „Das liegt einfach daran, dass wir viel mit Familienplanungsorganisationen zusammenarbeiten und dann die Zykluspackungen zu geringen Kosten abgeben“, erläutete die SCHERING-Sprecherin Klutz-Specht in dem 1992 erschienenen SCHAN-Buch „SCHERING – die Pille macht Macht“ diese Geschäftspolitik (3).

Als eine solche politischen Landschaftspflege verstand BAYER-SCHERING es sicherlich auch, im Oktober 2006 gemeinsam mit dem „Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (BMZ) die Tagung „International Dialog on Population and Sustainable Development“ auszurichten. Außenpolitisch legten die Arznei-Hersteller eine ähnliche Aktivität an den Tag. Sie bauten beispielsweise über Jahre hinweg Beziehungen zum Gesundheitsministerium von Bangladesh auf, das sich infolgedessen bei der „Gesellschaft für technische Zusammenarbeit“ (GTZ) erfolgreich für das Unternehmen stark machte. Bald pumpte SCHERING 600.000 Pillen in den „gigantischen Fruchtbarkeitsmarkt“. Die Bangladesher Frauen wussten allerdings noch gar nichts von ihrem Glück. Nach Recherchen des GTZ-Mitarbeiters vor Ort waren nur rund 15 Prozent der Angesprochenen bereit, empfängnisverhütende Mittel einzunehmen. Deshalb wollte er sich auch nicht als Pharma-Drücker betätigen und kündigte. „Es ist die schiere Perversion, weiter in diese Programme zu investieren, die nicht dazu beitragen, die Strukturen für die Mehrheit der unterdrückten Bauern und Frauen (…) zu verändern“, resümierte er (4).

Und was SCHERING im Laufe der Jahre so alles auf die „gigantischen Fruchtbarkeitsmärkte“ der „Drittweltländer“ warf, entsprach oft nicht den gängigen Standards. Galt den Behörden hierzulande die Dreimonatsspritze NORISTERAT wegen des Krebsrisikos nur als „Verhütungsmittel 2. Wahl“, womit es noch glimpflich wegkam, so war es für die armen Staaten gerade gut genug. 1,4 Millionen Ampulen verkaufte SCHERING davon 1982. Auch die Pillen der ersten Generation, die der Konzern daheim schon im firmeneigene Museum SCHERINGIANUM ausstellte, exportierte er noch nach Pakistan.

Test the South
Darüber hinaus nutzte die Firma die südliche Halbkugel als riesiges Versuchslabor. Das injizierbare Kontrazeptivum NET-EN testete das Unternehmen noch vor der Genehmigung durch das Bundesgesundheitsamt in Peru und Indien, wo es bei 43 Prozent der Teilnehmerinnen zu schweren Menstruationsstörungen kam. Die Zulassung in der Bundesrepublik erfolgte dann konsequenterweise nur unter strengen Auflagen. Ebenso wenig hatte das Implantat NORPLANT, von der WHO, Rockefellers „Population Council“ und der Industrie gemeinsam entwickelt und von SCHERING für den finnischen Hersteller WYETH in Thailand vertrieben, das OK der bundesrepublikanischen Behörden, als das Berliner Unternehmen es – auf Kosten der WHO – in dem südostasiatischen Land erprobte. Westlichen Gepflogenheiten entsprach die Anwendungsbeobachtung bei weitem nicht. Über mögliche Nebenwirkungen klärten die MedizinerInnen die Teilnehmerinnen, zur Hälfte Prostituierte, nicht auf. Eine gründliche gynäkologische Untersuchung erfolgte ebenfalls nicht, lediglich der Blutdruck wurde gemessen. Über die zahlreichen Frauen, die das Implantat dankend zurückgaben, schwieg die mit den Tests beauftragte Klinik. „Nicht ein einziger Fall davon steht in den Klinik-Daten. Als die Krankenschwester erklärte, dass Daten über frühzeitige Entfernung auch schon mal herausgenommen waren, zerstörte sie unsere letzte Hoffnung, herausfinden zu können, wieviele der ursprünglich 101 “Akzeptorinnen„ abgebrochen hatten“, schrieb ein deutsch-thailändisches AutorInnen-Team (5). Die hohe AbrecherInnen-Quote verwundert nicht, denn NORPLANT macht fünf Jahre unfruchtbar. Deshalb erfreut es sich unter BevölkerungspolitikerInnen, die bei der Umsetzung ihrer Programme oftmals wenig zimperlich sind, großer Beliebtheit. Die indonesische Regierung nutzte es beispielsweise großflächig zu einem gegen bestimmte Minderheiten gerichteten politischen Instrument und betrieb eine „ethnischen Säuberung“ in der Gebärmutter. Auch die Nebenwirkungen haben es in sich. Sie reichen von schweren Blutungen über Blindheit bis zu Depressionen.

Diese Rücksichtlosigkeit bei der Vermarktung von empfängnisverhütenden Mitteln steht derjenigen, die SCHERING beim Export anderer Medikamente in „Drittweltländer“ an den Tag legt, kaum nach. Der von der BUKO-PHARMAKAMPAGNE im Jahr 2004 vorgelegte Report „Daten und Fakten 2004 – Deutsche Medikamente in der 3. Welt“ stuft von den 142 in den armen Ländern auf dem Markt befindlichen SCHERING-Arzneien nur 39 als unentbehrlich ein. Ebenso viele bezeichnen die Pharma-KritikerInnen als irrational, darunter z. B. das Abführmittel KANORMAL, das angeblich gegen Blähungen und Völlegefühle wirkende PANKREOFLAT und die in der Bundesrepublik seit 2003 nicht mehr zugelassene Hämorrhoiden-Salbe SCHERIPROCT.

Noch mehr Hormone
Mit seinen Hormon-Präparaten deckt SCHERING noch viele weitere Gebiete der Frauenheilkunde ab. So brachte der Konzern 1950 das Medikament DUOGYNON als Mittel gegen Regelstörungen und als Schwangerschaftstest heraus. Die Wirkstoffkombination aus den Hormonen Gestagen und Östrogen ließ zahlreiche PatientInnen kranke Kinder zur Welt bringen. Viele Babys hatten eine gespaltene Wirbelsäule, einen Wasserkopf, Herzmissbildungen oder deformierte Gliedmaßen. Das rief die INTERESSENSGEMEINSCHAFT DUOGYNON-GESCHÄDIGTER ins Leben, die den Konzern wegen Körperverletzung verklagte. Das Unternehmen jedoch war sich keiner Schuld bewusst, wohl aber des schlechten Rufes von DUOGYNON: SCHERING nannte es kurzerhand in CUMORIT um und hielt es allen Anfechtungen zum Trotz noch bis 1987 auf dem Markt.

Ein besonders dunkles Kapitel im SCHWARZBUCH SCHERING nimmt die Hormonersatztherapie für Frauen in den Wechseljahren ein. Was der Konzern „Menopausen-Management“ nennt, nennen Pharma-KritikerInnen „die Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen im Leben von Frauen“ Die Autorin Petra Kolips hat ihr Buch über die Hormonmedikamente deshalb programmatisch „Weiblichkeit ist keine Krankheit“ genannt. Für SCHERING aber machen typische Wechseljahresbeschwerden wie Hitzewallungen und Schweißausbrüche einen Pharma-Einsatz unausweichlich. Auch kosmetische Gründe lassen einen Griff zu Hormonen angeraten erscheinen: Sie machen angeblich die Haut straffer. Zudem nutzt das Unternehmen die Angst als Verkaufsargument. Angeblich beugen Hormone der Osteoporose vor und wirken präventiv gegen Demenz. Nach Untersuchungen ist das Gegenteil der Fall: Hormone steigern sogar das Risiko, an Demenz zu erkranken. „Ein riesiges, unkontrolliertes Experiment mit den Frauen“ nennt das arznei-telegramm deshalb das „Menopausen-Management“. Bei vier Millionen Anwenderinnen in der Bundesrepublik schätzt eine Expertise die Zahl der Herzinfarkte und Schlaganfälle auf 3.000 und die Zahl der Thrombosen auf 7.000. Zudem erhöhen die Hormontherapien das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. MedizinerInnen mussten sogar eine Studie abbrechen, die beabsichtigte, das genauer zu ergründen, weil dieser Zusammenhang schon früh offen zu Tage trat und die ForscherInnen die Frauen nicht länger einer Gesundheitsgefährdung aussetzen wollten. Und trotz all dieser Befunde raten Fachverbände wie die „Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe immer noch nicht von den Produkten ab. Auch die zuständigen Stellen können sich dank der Lobby-Aktivitäten SCHERINGs noch immer nicht zu einem Verbot der Hormonersatztherapie entschließen.

Daneben bietet SCHERING noch Spezialtherapeutika wie das gentechnisch mittels E.-Coli-Bakterien produzierte BETAFERON gegen Multiple Sklerose, Krebsmedikamente, Wachstumsfaktoren und Röntgenkontrastmittel wie ULTRAVIST an, das der Konzern Mitte des Jahres zurückrufen musste, da in dem Medizinprodukt kleine Partikel zu Kristallen zusammengeklumpt sind, was Arterien verstopfen und so Thrombosen auslösen könnte.

Über die Produktpalette des nun zu BAYER gehörenden Unternehmens fällt Ulrich Möbius vom arznei-telegramm im Vorwort des bereits zitierten SCHAN-Buches ein vernichtendes Urteil. “Das Symptom der Sorglosigkeit – um nicht zu sagen, das Syndrom ungezügelter Profitgier – zieht sich wie ein roter Faden durch die Pharmadivision von SCHERING”, schrieb der Pharmakologe. Der Konzern reagierte prompt. Er versuchte, das Buch verbieten zu lassen.

Anmerkungen

(1) zit. n. Ernst Klee, Auschwitz – Die NS-Medizin und ihre Opfer, S. 436
(2) zit. n. Josefa Wittenborg u. a., SCHERING – Die Pille macht Macht, S. 61
(3) zit. n. Josefa Wittenborg u. a., SCHERING – Die Pille macht Macht, S. 53
(4) zit. n. Josefa Wittenborg u. a., SCHERING – Die Pille macht Macht, S. 55
(5) zit. n. Josefa Wittenborg u. a., SCHERING – Die Pille macht Macht, S. 59

(Beide Bücher sind über den J5A-Versand erhältlich – www.j5a.net)