BAYER vs. Kontrazeptiva-Opfer
YASMIN vor Gericht
Die Klagen gegen BAYERs Verhütungspillen aus der YASMIN-Produktfamilie häufen sich. In den USA liegen bereits 4.800 vor, und hierzulande beginnen im Herbst Schadensersatz-Prozesse von zwei Frauen, die durch die Mittel Lungenembolien erlitten haben. Der Leverkusener Multi lässt sich davon aber nicht abhalten, neue Versionen von YASMIN & Co. herauszubringen. Zudem drängen Nachahmer-Präparate von anderen Herstellern auf den Markt. Die Zahl der Toten und Geschädigten dürfte sich also noch erhöhen.
Von Jan Pehrke
„Die Pharma-Industrie muss sich auf schwerere Zeiten einstellen. Mutmaßliche Medikamenten-Opfer gehen vor allem in Deutschland dazu über, Konzerne wie BAYER, PFIZER oder MERCK & CO. zu verklagen. Die Folgen für die Unternehmen sind schwer kalkulierbar“, schrieb die WirtschaftsWoche im September 2010. Besondere Rechenprobleme hat der Leverkusener Multi, denn auf ihn kommen gleich drei Verfahren zu. Opfer des Schwangerschaftstests DUOGYNON, den das jetzt zum Konzern gehörende Pharma-Unternehmen SCHERING ab den 1950er Jahren vermarktete, haben eine Auskunftsklage eingereicht, um alte Firmen-Dokumente einsehen zu können. Zudem haben Felicitas Rohrer und Kathrin Weigele, die beide durch BAYER-Verhütungsmittel Lungen-Embolien erlitten hatten (SWB berichtete mehrfach), Schadensersatz-Prozesse angestrengt.
Dabei geht es den jungen Frauen nicht um Geld. „Ich will, dass BAYER ehrlich über die erhöhte Thrombose-Gefahr aufklärt“, sagt die Jura-Studentin Kathrin Weigele. Und ihr Rechtsanwalt Martin Jensch nennt mit Blick auf wissenschaftliche Untersuchungen, die YASMIN, YASMINELLE und YAZ ein im Vergleich mit älteren Pillen größeres Thromboembolie-Risiko bescheinigten, einen weiteren Beweggrund: „Es kann nicht sein, dass ein Unternehmen eine gefährlichere Pille mit Lifestyle-Faktoren auf den Markt wirft, nur um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen“. Der Pharma-Riese hält dagegen weiterhin eisern zu YASMIN & Co., „weil deren positives Nutzen/Risiko-Profil fortbesteht“ und angeblich „Todesfälle bei Anwenderinnen kombinierter oraler Kontrazeptiva sehr selten“ sind. Deshalb zeigte er sich auch zuversichtlich hinsichtlich des Ausgangs der juristischen Auseinandersetzung. „BAYER ist überzeugt, gute Argumente gegen die erhobenen Ansprüche zu haben und beabsichtigt, sich zur Wehr zu setzen“, so Konzern-Sprecher Michael Diehl.
Aber offenbar nicht so überzeugt, als dass der Global Player nicht für den Falles des Falles vorgesorgt hätte. Rücklagen in Höhe von 130 Millionen Euro hat er in Sachen „Verhütungsmittel“ gebildet. Besonders vor der US-amerikanischen Justiz hat BAYER Angst. Das dortige Rechtssystem kennt nämlich das verbraucher-freundliche Instrument der Sammelklage, das schon oft zu Millionen-Strafen für die Multis geführt hat. Und bei bis dato 4.800 Klagen kann das für den Konzern ganz schön teuer werden.
Die EU berät seit 2007 über die Einführung einer solchen Möglichkeit, bisher jedoch haben Lobby-Druck von BAYER & Co. sowie Interventionen der französischen und der bundesdeutschen Regierung ein entsprechendes Paragraphen-Werk unter Verweis auf die ach so böse „US-amerikanische Klage-Industrie“ immer verhindert. Und sollte Brüssel die Regelung wirklich einmal verabschieden, so dürfte sie gegenüber ihrem US-Pendant deutlich harmloser ausfallen.
Die schwarz-gelbe Koalition zeigt sich auch sonst nicht gewillt, im Sinne der PatientInnen tätig zu werden, wie eine Anfrage der Grünen zum Fall „DUOGYNON“ ergab. Die Partei wollte wissen, ob CDU und FDP gedächten, die Stellung von Pharma-Opfern gegenüber den Pillen-Riesen in rechtlichen Auseinandersetzungen zu verbessern. Aber die Parteien sehen keinen Handlungsbedarf. „Die Bundesregierung hat die Rechte geschädigter Patientinnen und Patienten bereits in erheblichem Maße gestärkt“, antworteten Merkel & Co. und wiesen auf die Verschärfung der Auskunftspflichten von Unternehmen, die Ausdehnung des Schmerzensgeld-Anspruchs und die Anhebung der Haftungshöchstgrenzen hin. „Anlass für weitere Ausweitungen der Haftungsregelungen besteht daher nicht“, erklärte Schwarz-Gelb abschließend.
Vom bundesdeutschen Rechtssystem hat BAYER deshalb nicht allzu viel zu befürchten. Einen „erzieherischen Wert“ könnten dagegen die schlechten Geschäftszahlen für YASMIN & Co. haben. Der Umsatz mit den Pillen ist im dritten Quartal 2010 gegenüber dem Vorjahr um 24 Prozent auf 243 Millionen Euro gesunken. Das liegt jedoch nicht nur an der „schlechten Presse“, sondern auch an einer wachsenden Konkurrenz durch Nachahmer-Präparate, deren Einführung der Leverkusener Multi erfolglos durch Prozesse zu verhindern suchte. Aber der Konzern baute vor und entwickelte pünktlich zum Ablauf des Patents neue Versionen mit kleinen Abweichungen wie ein Vitamin-B-haltiges YAZ, um Marktanteile zurückzuerobern. De facto gibt es heutzutage also mehr YASMIN-Produkte denn je in den Apotheken.
Und dementsprechend mehr Opfer. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) erreichen gehäuft Zuschriften von Geschädigten. „Obwohl vielleicht meine Lungenembolie und Lungenentzündung mit Herzrhythmus-Störungen im Gegensatz zu Frau Rohrers und Frau Weigeles letztendlich noch glimpflich ablief, plagen auch mich immer noch Schmerzen und der Gedanke, dass es wieder passieren könnte. Mein geschwächtes Immunsystem und die Kraftlosigkeit verursachten, dass ich vier Monate nicht arbeiten konnte, heute nicht mehr den Arbeitsalltag und die damit verbundene Belastbarkeit als Architektin im Architekturbüro meistern kann und meinen Arbeitgeber wechseln musste“, heißt es in einer Leidensgeschichte.
Ein schlimmeres Schicksal blieb der Betroffenen nur mit viel Glück erspart, denn die ÄrztInnen haben die Symptome anfangs nicht richtig zu deuten vermocht. Als sie sich das erste Mal mit akuter Atemnot bei der Notaufnahme eines Krankenhauses meldete, schickten die Doktoren sie mit einem Bündel Schmerzmittel wieder nach Hause. Auch beim zweiten Mal reagierten sie zunächst nicht anders, obwohl die Architektin Schwierigkeiten hatte, sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten. Die MedizinerInnen wollten bei einer so jungen Frau an keine ernsthafte Erkrankung glauben. Nur ein Mediziner: ihr Vater. Der HNO-Arzt rief im Hospital an und veranlasste eine Computer-Tomographie. „Glück für mich, und der Grund, warum ich heute noch hier sitze. Leider hat aber nicht jede Frau einen Vater, der Arzt ist und mitdenkt“, hält das YASMINELLE-Opfer fest.
Auch bei einer Studentin dauerte es lange, bis die Diagnose „Thromboembolie“ und die Ursache „YAZ“ feststand – zu lange. Sie ging mit Rücken- und Brustschmerzen zum Arzt und erhielt Schmerzmittel verschrieben. Doch die Beschwerden dauerten an. Der Mediziner empfahl, einen Orthopäden zu konsultieren und stellte ein weiteres Schmerzmittel-Rezept aus. Nach ca. zehn Tagen, als auch noch Husten und Atemnot dazu kamen, fuhr die Frau ins Krankenhaus. „Nach dem CT stand fest, dass ich eine beidseitige Lungenembolie habe und eine Thrombose in der gesamten linken Beckenvene. Die Ärzte waren total geschockt und konnten sich nicht erklären, wie das bei einer Frau in meinem Alter (30 Jahre) in diesem Ausmaß passieren kann“, berichtet die Studentin. Fieberhaft fahndeten die Mediziner nach einem möglichen Auslöser, und nach zahllosen ergebnislosen Untersuchungen blieb schließlich nur noch die Pille als Möglichkeit übrig.
Eine mangelhafte Aufklärung durch die ÄrztInnen beklagt die junge Frau ebenso wie viele andere Lungenembolie-Patientinnen. Die MedizinerInnen haben bei YASMIN & Co. nur die niedrige Wirkstoff-Konzentration im Blick und wähnen sich auf der sicheren Seite. Die Studentin war es, die nach negativen Erfahrung mit Kontrazeptiva zunächst kein Verhütungsmittel zur Behandlungen ihres Hautausschlags und der Folgen des prämenstruellen Syndroms einnehmen wollte, aber der Arzt beruhigte sie: „Der Gynäkologe erzählte mir dann, dass es bei den heutigen Pillen kaum noch Unverträglichkeiten gebe und empfahl mir ein niedrig dosiertes Produkt für junge Frauen: die Pille YAZ“. Von den Risiken und Nebenwirkungen dieser Kontrazeptiva wissen Doktoren oft nichts. Auch nichts von der Faktor-V-Leiden-Mutation, einem Gen-Defekt, der zu Blutgerinnungsstörungen führt und so die Thrombose-Gefahr erhöht. Bei zwei der Frauen, welche die CBG kontaktiert hatten, diagnostizierten die Doktoren während ihres Klinik-Aufenthaltes diesen Defekt – insgesamt tritt er bei fünf Prozent der Bevölkerung auf. „Deshalb verstehe ich nicht, warum die Faktor-V-Leiden-Mutation durch eine Untersuchung nicht zuerst ausgeschlossen wird, bevor eine Verhütungspille vom Arzt verordnet wird“, fragt sich eine von ihnen. Manche MedizinerInnen können nicht einmal ihre eigenen Kinder schützen. So hat sich sogar eine Ärztin bei der CBG gemeldet, deren beide Töchter nach der Einnahme der BAYER-Pillen Thrombosen bekamen.
Zu allem Übel wächst die Verdunklungsgefahr auch noch durch das perfide zielgruppen-gerechte Marketing. Ehe sich die 30-jährige Studentin versah, hatte der Gynäkologe ihr in der Praxis schon ein Gratispaket YAZ überreicht, „nett verpackt mit Beauty Etui, Schminkspiegel, Werbebroschüre“. Der Leverkusener Multi hält zudem kleine Herzen zum Herunterladen aufs Handy bereit und schmückt den Beipackzettel mit Blümchen. „Dass diese kleinen süßen Pillen nicht Zuckerdrops, sondern Medizin mit starken Nebenwirkungen sind, die auch zum Tod führen können“, geht darüber verloren, kritisiert eine Leidensgenossin diese Praxis gegenüber der Coordination.
Darüber hinaus preist BAYER YASMIN, YAZ, YASMINELLE und PETIBELLE als Lifestyle-Präparate mit „Beauty-Effekt“, „Feel-good-Faktor“ und „Figur-Bonus“ an. Eine Praxis, die Ulrich Hagemann, als Pharmazeut beim „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ (BfArM) für die Arzneimittelsicherheit zuständig, verurteilt. „Wir sehen das kritisch. Die Firmen werben mit den Nebeneffekten, und teilweise ist das grenzwertig falsch“, sagte er in einem Tagesspiegel-Interview. Einschreiten will er jedoch nicht: „Um irreführende Arzneimittel-Werbung müssten sich die Landesgesundheitsbehörden kümmern“.
Veranlasst hat das BfArM dagegen eine Änderung des Beipackzettels. Darauf muss BAYER nun auf die Nebenwirkung „venöse Thromboembolie“ (VTE) hinweisen. Der Leverkusener Multi tut dies aber sehr verklausuliert und ohne das besondere Risiko hervorzuheben, das nach zahlreichen Untersuchungen von dem YASMIN-Wirkstoff Drospirenon ausgeht. Stattdessen verweist der Multi auf eine von ihm selbst in Auftrag gegebene und von dem Institut eines ehemaligen Beschäftigten durchgeführte Studie. Das ZEG Berlin machte für YASMIN kein höheres Gefährdungspotenzial aus und stellte kurz danach auch dem Dienogest-haltigen VALETTE einen Persilschein aus. Das industrie-unabhängige arznei-telegramm traut diesen Befunden jedoch nicht. „Untersuchungen dieses Zentrums ergeben regelmäßig für die Hersteller oraler Kontrazeptiva günstige Ergebnisse“, urteilte die Fach-Publikation. Und für andere Produkte aus der Arznei-Familie liegen laut Konzern noch keine Daten vor: „Das VTE-Risiko für YAZ ist derzeit unbekannt“.
Mit einem Beipackzettel, der immer noch nicht Klartext spricht, als einzigster Konsequenz aus einem Pharma-Skandal mit bislang 190 Toten allein in den USA und zahllosen Versehrten wollen sich die Betroffenen jedoch nicht zufrieden geben. Sie planen, eine Selbsthilfegruppe Drospirenon-Geschädigter zu gründen und eine kritische Website aufzubauen. Zusätzliche Aufmerksamkeit dürfte ihre Aufklärungskampagne durch den Beginn der zwei Schadensersatz-Prozesse erhalten. Die Wirtschaftswoche sieht, zumal darüber hinaus noch die DUOGYNON-Auskunftsklage bevorsteht, schon schwere Zeiten auf BAYER zukommen. „Für die Leverkusener (…) wird es in den kommenden Monaten schwer werden, aus den Schlagzeilen zu kommen“, prophezeit das Blatt.