Veröffentliche Beiträge in “SWB 03/2015”
KritikerInnen dominieren BAYER-HV
Das Tribunal
Die „verkehrte Welt“, die sich auf der letzten BAYER-Hauptversammlung mit der großen Dominanz von Konzern-KritikerInnen auftat, kam auch am 27. Mai nicht wieder ins Lot. Erneut lasen 26 RednerInnen dem Konzern von morgens früh bis abends spät die Leviten. Sie setzten sich mit gefährlichen Medikamenten, Plastik-Abfällen, der Vergangenheitspolitik des Konzerns, der Abspaltung der Kunststoff-Sparte sowie all den vielen anderen ohne Rücksicht auf Verluste betriebenen geschäftlichen Aktivitäten zur Rendite-Steigerung auseinander.
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Eigentlich schien das unwiederholbar: 2014 auf der BAYER-Hauptversammlung hatten 26 Konzern-KritikerInnen Einspruch gegen die gnadenlose Profit-Jagd erhoben und damit die RednerInnen-Liste ganz klar dominiert. Und jetzt das: Erneut traten 26 RednerInnen ans Pult, und konfrontierten Konzern und AktionärInnen ebenso umfangreich wie qualifiziert mit Kritik an den profitablen Geschäften. Auch vor der Kölner Messehalle braute sich wieder viel zusammen. Das Unternehmen versuchte jedoch mit allen Mitteln zu verhindern, dass Bilder davon künden und ein Firmenlogo neben den Protestaktionen auftaucht: Keine BAYER-Fahne, kein Plakat und kein sonstiger Hinweis zeigte an, dass hier einer der großen Dax-Konzerne sein jährliches AktionärInnen-Treffen abhielt.
Trotzdem war klar, dass hier gegen die Geschäftspolitik von BAYER demonstriert wurde. Dafür sorgten schon die eindeutigen Transparente und Flugblätter. Und wie in den vergangenen Jahre herrschte vor dem Eingang zur Hauptversammlung ein buntes Treiben. ImkerInnen zeigten sich in voller Montur mit ihren Arbeitsgeräten und protestierten gegen BAYERs bienenschädigende Pestizide. Unterstützung erhielten sie dabei von BUND- und SumOfUs-VertreterInnen, die in Bienen-Kostüme gehüllt Flugblätter verteilten. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN war derweil in See gestochen und hatte auf dem Messe-Gelände ein Meer angelegt, in dem Spülmittel-Flaschen und andere Behältnisse schwammen, um den AktionärInnen das Plastikmüll-Problem plastisch vor Augen zu führen. Darüber hinaus machten junge Frauen mit T-Shirts, die mit Aufdrucken wie „Erfolgsbilanz ‚die Pille’: Valerie, 23, Schlaganfall“ Einblick in ihre Krankenakten gaben, auf ihr Schicksal als Verhütungsmittel-Geschädigte aufmerksam. Andere riefen mit Plakaten die Risiken und Nebenwirkungen der Medikamente des Pharma-Riesen ins Gedächtnis. Zu einem drastischeren Mittel griff das Ehepaar Zwartje: Es konfrontierte die AktionärInnen mit einem großen Foto, das ihre durch eine BAYER-Pille gestorbene Tochter Lena zeigt.
Drinnen offenbarte sich den HV-BesucherInnen dann ein Kontrastprogramm. „BAYER-Aktionäre treffen auf heile und kranke Welten“, so drückte es die Rheinische Post aus. Heil war die Welt des Profits, und zwar gerade weil sie ihre Ziele ohne Rücksicht auf Verluste für Mensch, Tier und Umwelt verfolgt: Um zwei Seiten einer Medaille handelt es sich bei den beiden auf den ersten Blick so disparaten Sphären. Und um den Aktien-HalterInnen den Übergang ein wenig zu erleichtern, zeigte BAYER-Chef Marijn Dekkers zu Anfang seiner Hauptversammlungsrede sogar Gefühle. Er erzählte davon, wie sehr ihn als gelernter Chemiker bei seinem Vorstellungsgespräch die Konzern-Maxime „Science For A Better Life“ beeindruckt habe. „Wissenschaft. Für ein besseres Leben. Das hat mich umgehauen“, schwärmte er und entschuldigte sich sogleich für seinen lockeren Umgangston, der vermutlich eher der von BAYERs Kommunikationschef Herbert Heitmann war.
Nach dieser Overtüre ging Dekkers allerdings rasch wieder zum „Business as usual“ über und widmete sich dem schnöden Zahlenwerk. Er sprach über den Rekord-Umsatz, die Kurs-Entwicklung, die Wachstumstreiber, die Profit-Aussichten im laufenden Geschäftsjahr und verkündete eine Dividenden-Erhöhung. Dafür bedankten sich die anschließend zu Wort kommenden zwei AktionärInnen-Vertreter dann auch artig und beendeten damit gleichzeitig das Kontrastprogramm. Von nun an folgten bis zum Abend nur noch Beiträge über „kranke Welten“. Dem Global Player blieb dabei nur übrig, „die schlechtesten aller Welten“, die emotional erschütternden Zeugnisse der Medikamenten-Geschädigten oder ihrer Angehörigen, ganz an den Schluss der Veranstaltung zu setzen, in der Hoffnung, die meisten AktionärInnen hätten sich da schon längst auf die Heimreise gemacht.
Als aber beispielsweise Karl Murphy zum RednerInnen-Pult schritt, war der Saal bei Weitem nicht leer. So konnten noch viele mitverfolgen, welche verheerenden Folgen der von seiner Mutter genutzte Schwangerschaftstest DUOGYNON bei ihm hatte. Der Engländer zeigte den HV-BesucherInnen die Auswirkungen des Pharmazeutikums, das der 2006 von BAYER geschluckte Konzern SCHERING bis in die 1970er Jahre hinein vermarktete, indem er seine beiden Hände mit den teilweise verstümmelten Fingern hochhielt. In seiner Rede, deren Übersetzung Anabel Schnura vortrug, trug er überzeugende Belege für das Gefährdungspotenzials des Präparates vor. „Ich bin im Besitz von 102 Studien, darunter auch Studien aus Deutschland, die über 3.500 Fälle von Missbildungen bei Babys aufzeigen, deren schwangere Mütter entweder hormonelle Schwangerschaftstests oder die Antibaby-Pille verordnet bekamen“, so Murphy. Und er warf dem Unternehmen vor, schon frühzeitig von den Risiken gewusst zu haben, ohne die ÄrztInnen darüber zu informieren.
Margret-Rose Pyka hatte wie Karl Murphys Mutter DUOGYNON nichtsahnend angewendet und wie sie ein Kind mit einer Behinderung zur Welt gebracht. „Sie müssen sich vorstellen, das sind zwei kleine Tabletten, die haben die Wirkung von zwei bis drei Packungen Antibaby-Pillen, und diese geballte Hormon-Bombe kommt auf ein paar Millimeter werdendes Leben. Und damit rechnet man als Frau nicht“, mit diesen Worten beschrieb sie die fatalen Effekte des Produktes. Pyka hatte sich später auch in einer Initiative engagiert, um andere Menschen das Schicksal ihrer Familie zu ersparen, stieß dabei allerdings rasch auf Grenzen: „Ich habe damals mit den Behörden gesprochen, und die Behörden haben mir gesagt: ‚Wir können das Produkt nicht vom Markt nehmen, weil die Markt-Macht von SCHERING zu groß ist“. Zum Schluss brachte sie das Thema „Entschädigungen“ zur Sprache. „Wir sind alle eine BAYER-Familie. Da gibt es auf der einen Seite die Mitarbeiter, die den Gewinn erwirtschaften, und dann gibt es in der Familie diejenigen, die von BAYER-Produkten negativ betroffen sind, und jetzt ist die Frage, wie geht so eine BAYER-Familie mit ihren Mitgliedern um, und zwar mit den Schwachen“, führte sie aus und schlug dem Vorstand vor, einen Runden Tisch zur Schadensregulierung einzuberufen.
Margret-Rose Pyka war offenbar der Meinung, unter vernünftigen Menschen müsste sich für solch ein Problem doch eine Lösung finden lassen. Aber die BAYER-ManagerInnen betrachten sich nicht als Personen, die frei über solche Angebote entscheiden können. Sie sehen sich an den Auftrag der Eigentümer des Konzerns, vor allem der GroßaktionärInnen und der InvestorInnen, gebunden, so viel Profit wie möglich zu erwirtschaften. Und ein Entgegenkommen in der Schadensersatz-Frage birgt in den Augen des Vorstandes das Risiko, weitere Ansprüche von Geschädigten nach sich zu ziehen und so den Gewinn zu schmälern. „Selbstverständlich stehen wir zu unseren Produkten, wir müssen aber bei der Regulierung von Ansprüchen auch juristische Aspekte mit berücksichtigen“, so drückte Marijn Dekkers diesen Sachverhalt aus und beschied Pyka: „Im von Ihnen angesprochenen Kontext sehen wir daher keine Grundlage für Entschädigungszahlungen.“
Was die verheerenden Wirkungen der Antibaby-Pillen aus der YASMIN-Produktfamilie betrifft, sahen allerdings US-amerikanische Gerichte „eine Grundlage für Entschädigungszahlungen“. 1,9 Milliarden Dollar musste der Konzern bisher dafür aufwenden. Das sei „den Besonderheiten des Rechtssystems in den USA“ geschuldet und beruhe auf den spezifischen Fakten des jeweiligen Einzelfalles, so Dekkers auf eine entsprechende Frage der YASMIN-geschädigten Kathrin Weigele. Er hob jedoch auch hier wieder den „juristischen Aspekt“ hervor, dies sei im Rahmen eines Vergleiches und ohne Anerkenntnis einer Haftung geschehen.
Für Weigele, ihre Leidensgenossin Felicitas Rohrer sowie für das Ehepaar Zwartje, das die beiden Frauen zum Rednerpult begleitet hatte, denen keine so verbraucherschutz-freundliche Gerichte wie in den Vereinigten Staaten zur Seite stehen, hatte BAYER nur formelhafte Beileidsbekundigungen übrig. Felicitas Rohrer hatte sich vorher solche Floskeln ausdrücklich verbeten, Marijn Dekkers ließ sich davon allerdings nicht abhalten. „Deshalb wiederhole ich mich zwar, wenn ich Ihnen sage, dass mich ihre persönliche Geschichte bewegte und weiter bewegt“, eröffnete der Vorstandsvorsitzende der jungen Frau, bevor er wieder zur Tagesordnung überging: „Das Sicherheitsprofil unserer oralen Kontrazeptiva entspricht dem vergleichbarer hormoneller Verhütungsmittel auf dem Markt.“
Unerbittlich zeigte sich der Leverkusener Multi auch wieder in der Sprach-Frage. Der Aufsichtsratsvorsitzende Werner Wenning als Versammlungsleiter untersagte es Valerie Williams, die wie Karl Murphy extra aus Großbritannien angereist war, um über ihre Erfahrungen mit dem Schwangerschaftstest DUOGYNON zu berichten, ihre Rede in der Muttersprache zu halten. Während Wenning als Aufsichtsratsmitglied der DEUTSCHEN BANK kein Problem damit hatte, dass sich der damalige Co-Vorsitzende Anshu Jain auf deren Hauptversammlung größtenteils des Englischen bediente, blieb der ehemalige BAYER-Chef Williams gegenüber hart: „Redebeiträge und Fragen sind auch in diesem Jahr nur in deutscher Sprache möglich“. CBG-Vorstandsmitglied Axel Köhler-Schnura kritisierte das scharf. „Wann wird dieser entwürdigende, skandalöse und arrogante großdeutsche Sprach-Zopf bei BAYER endlich abgeschnitten“, fragte er. Aber Wenning zeigte sich uneinsichtig. „Wieso Sie den Gebrauch der deutschen Sprache für arrogant halten und als skandalös empfinden, erschließt sich mir übrigens, Herr Köhler-Schnura, nicht“, so der Ober-Aufseher des Konzerns.
Das CBG-Urgestein setzte aber auch noch andere Themen auf die Agenda der Hauptversammlung. Er sprach über das, was Marijn Dekkers in seiner Eröffnungsrede als den „Wandel zu einem reinen Life-Science-Unternehmen“ und eine Konzentration „auf unsere innovationsstärksten Bereiche“ beschrieben hatte: die Trennung von der Kunststoff-Sektion BAYER MATERIAL SCIENCE. „Dieser schwerwiegende Eingriff in den Betriebsfrieden dient einzig und allein dazu, die bereits unverschämte Profit-Rate weiter zu steigern“, konstatierte Köhler-Schnura und prophezeite den dort Beschäftigten ein ähnliches Schicksal wie den KollegInnen der 2004 ausgegliederten, heute unter dem Namen LANXESS firmierenden Plaste- und Chemie-Sparte: „Lohndumping und Vernichtung von Arbeitsplätzen im großen Stil“. Darüber hinaus griff der Diplom-Kaufmann noch BAYERs windige Umtriebe im Netz auf. Der Konzern hatte eine Agentur beauftragt, um „Online-Reputationsmanagement“ zu betreiben und mittels gefaketer Postings auf Facebook und in Foren Produkte des Unternehmens anzupreisen, komplett mit kruden Rechtschreibfehlern als besonderem Authentizitätsausweis. „Ich wüsste schon gerne von Ihnen, Herr Dekkers, wie sich solche (...) Methoden ihres Konzerns mit den von Ihnen immer wieder beschworenen Verhaltensregeln vertragen, in denen so Sätze zu lesen sind wie: ‚BAYER bekennt sich ohne Einschränkung zum Wettbewerb mit fairen Mitteln?’“ Da blieb dem Niederländer kaum etwas anderes übrig, als den Vorgang zu bedauern. Als eine Unternehmensstraftat wertete er die Manipulationen allerdings nicht, für ihn handelte es dabei lediglich sich um Einzelfälle bzw. „Aktivitäten einzelner Mitarbeiter“, die dann auch als Bauernopfer herhalten und den Pharma-Riesen verlassen mussten.
CBG-Geschäftsführer Philipp Mimkes sprach ebenfalls ein ganzes Bündel von problematischen BAYER-Aktivitäten an. So kritisierte er die massenhafte Herstellung von biologisch nicht abbaubaren Kunststoffen, deren drastische Folgen für die Ozeane die Coordination vor den Messehallen mit dem vor Plastikmüll berstenden Miniatur-Meer illustriert hatte. Als den „Gipfel nicht-nachhaltiger Kunststoff-Produktion“ bezeichnete Mimkes dabei die Fertigung von Mikroplastik für die Kosmetik-Industrie, das Kläranlagen mühelos überwindet und ungefiltert in die Gewässer gelangt. Aber nicht nur die Chemie-Wende, auch die Energie-Wende hat der Leverkusener Multi dem CBGler zufolge verschlafen, und zwar so sehr, dass der Konzern sich im Gegensatz zu den vergangenen Jahren gar nicht mehr traut, den verschwindend geringen Prozentsatz, den der Anteil erneuerbarer Energien in seinem Strom-Mix einnimmt, im Geschäftsbericht aufzuführen. Weit entfernt davon, hier eine Umkehr einzuleiten, setzt der Global Player auch noch auf die mit vielen Umweltrisiken behaftete Fracking-Technologie. „Offenbar werden hier bei BAYER entscheidende Weichen falsch gestellt“, resümierte Mimkes. Nicht nur mit der Zukunft tut sich das Unternehmen jedoch schwer, sondern auch mit der Vergangenheit. Noch vor zwei Jahren hatte Dekkers auf der Hauptversammlung die „historischen Verdienste“ des ehemaligen BAYER-Generaldirektors Carl Duisberg gerühmt, der im Ersten Weltkrieg mitverantwortlich für die Entwicklung von Chemie-Waffen und die Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnen war und später einen maßgeblichen Anteil an der Gründung des Mörderkonzerns IG FARBEN hatte. Anlässlich des 100. Jahrestages des ersten Giftgas-Einsatzes im belgischen Ypern wies Mimkes noch einmal auf die fatale Rolle Duisbergs bei der Entwicklung dieser Massenvernichtungswaffe hin und nannte dies als einen der Gründe dafür, warum sich immer mehr Städte und Gemeinden entscheiden, ihre Carl-Duisberg-Straßen umzubenennen.
Der große Vorsitzende wollte es allerdings nicht zulassen, am Denkmal zu rütteln. „Die historische Forschung würdigt die Leistung Carl Duisbergs als herausragende Unternehmer-Persönlichkeit“, konstatierte er und hielt fest: „Die angesprochenen historischen Themen bedürfen einer differenzierten Beurteilung durch Fach-Historiker, sie sollten daher meines Erachtens nicht Gegenstand gesellschaftspolitischer Agitation sein.“ In diesem Sinne sprach er dann auch von der Umbenennungsinitiative als „einer gesteuerten Kampagne“. Und sein Blick in die Zukunft entsprach ebenfalls nicht dem von Philipp Mimkes. Für Marijn Dekkers war bei BAYER alles im grünen Bereich. Von einer Mikroplastik-Produktion in den heimischen Werken wusste er nichts, und die Erneuerbaren Energien seien leider „im größeren Stil nicht wirtschaftlich“, aber ungeachtet dessen sah er den Multi dank angeblich hocheffizienter Kraftwerke und hochinnovativer Verfahrenstechnologien in der Kunststoff-Fertigung voll auf Nachhaltigkeitskurs.
Auf unzählige weitere Fragen musste der Vorstandsvorsitzende an diesem Tag Antworten bzw. Schein-Antworten finden. Die Konzern-KritikerInnen setzten noch das Bienensterben sowie andere Risiken und Nebenwirkungen von Ackergiften, die Gentechnik, Tierversuche, die Kohlenmonoxid-Pipeline, BAYERs Steuervermeidungsstrategien, die Rolle des Großinvestors BLACKROCK, die Datensicherheit und die JADELLE-Kontrazeptiva auf die Tagesordnung. Damit bestimmten sie den ganzen Ablauf der Hauptversammlung. In den Abstimmungsergebnissen spiegelte sich das allerdings nicht wider, aber so geht es eben zu in der markt-konformen Demokratie. Am Ende votierten 98,5 Prozent für die Entlastung des Vorstands und 96,9 Prozent, was angesichts der Kapital-Verhältnisse schon ein Erfolg ist, für die Entlastung des Aufsichtsrates. Und bei der Abstimmung über die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft erreichte der Widerspruch sogar mehr als 10 Prozent. Ob das eine Folge der in der Hauptversammlung vorgetragenen massiven Kritik an dem Steuervermeidungskonzern PWC war, bleibt allerdings offen. Von Jan Pehrke
BAYER trotzt Kritik
„Wir stehen zu unseren Produkten“
Was sonst noch geschah: KritikerInnen brachten auf der Hauptversammlung zahlreiche weitere Themen zur Sprache. So setzten sie zusätzlich das Bienensterben, das Pestizid Glyphosat, die Gentechnik, die Medikamente XARELTO und JADELLE, die Tierversuche, die Datensicherheit, die Kohlenmonoxid-Pipeline, die Rolle des Großinvestors BLACKROCK und BAYERs Steuervermeidungsstrategien auf die Tagesordnung.
Auch auf der diesjährigen Hauptversammlung des Leverkusener Multis nahm das Thema „Bienensterben“ wieder breiten Raum ein. Gleich sechs KritikerInnen beschäftigten sich mit dieser Nebenwirkung der BAYER-Pestizide aus der Gruppe der Neonicotinoide wie GAUCHO und PONCHO. Die Imkerin Annette Seehaus-Arnold, Kreisvorsitzende der ImkerInnen der Region Rhön-Grabfeld, legte dem Global Player eine Schadensbilanz vor. „Meine Imker-Kollegen mussten in diesem Winter wieder sehr hohe Verluste an Bienenvölkern hinnehmen. Viele haben sogar alle Völker verloren“, klagte sie. Dabei hätten die BienenzüchterInnen alle Anweisungen zum Schutz der Bienen vor der Varroa-Milbe befolgt, in der BAYER die eigentliche Ursache für den Tod der Bienen sieht. Seehaus-Arnold hatte den Agro-Riesen hingegen in Verdacht, die Bedrohung durch die Varroa-Milbe künstlich aufzubauschen, um von den gefährlichen Effekten seiner Pestizide abzulenken. Und selbst wenn diese einen negativen Einfluss auf die Bienengesundheit haben sollten: „Es kommt nicht auf den Erreger an, sondern auf den Boden, auf den er fällt“, zitierte Seehaus-Arnold Louis Pasteur. Und diesen Boden haben der Imkerin zufolge GAUCHO & Co. besonders fruchtbar für den Erreger gemacht.
Flurschäden
Die Europäische Union schätzt die Mittel ebenfalls als sehr gefährlich ein. Nach Ansicht der EU-Kommission bergen sie „etliche Risiken für die Bienen“. Darum hat Brüssel einen zunächst zweijährigen Verkaufsstopp angeordnet. Der Leverkusener Multi aber geht in Tateinheit mit SYNGENTA gerichtlich gegen das Votum vor. „Warum akzeptieren Sie die Entscheidung nicht? Warum gefährden Sie wissentlich das Überleben der Honigbienen“, fragte Lea Horak von RETTET DEN REGENWALD den Vorstand deshalb. Wiebke Schröder von SumOfUs bezeichnete das als „aggressives Verhalten“ und überreichte den Konzern-ManagerInnen über eine Million Unterschriften, die ihre Organisation gegen die Klage gesammelt hatte. „Nehmen Sie die Neonicotinoid-Bedrohung ernst“, mahnte sie eindringlich angesichts der großen Bedeutung, die Bienen durch die Bestäubung von Nutz-Pflanzen für die Nahrungsmittelversorgung der Menschen haben.
Wie richtig die Entscheidung der EU war, drei Neonicotinoide von BAYER und SYNGENTA mit einem Moratorium zu belegen, bestätigte derweil der Imker Markus Bärmann mit seinen Erfahrungen aus der Praxis. „Dieses Frühjahr war bei den Bienen vieles anders. So viel anders, wie ich es seit zwanzig Jahren nicht mehr erlebt habe! Endlich wieder Insekten in der Luft und am Boden!“, schwärmte er. Auch über orientierungslos umherfliegende Bienen musste Bärmann nicht mehr klagen.
Corinna Hölzel vom BUND widmete sich derweil einem immer noch erhältlichen Neonicotinoid-Wirkstoff, der unter anderem in BAYERs CALYPSO und LIZETAN sein Unwesen treibt: Thiacloprid. „Thiacloprid ist ähnlich besorgniserregend wie die drei verbotenen Wirkstoffe, denn es gehört zur gleichen Gruppe“, stellte sie fest und führte zum Beleg eine Studie des Berliner Bienenforschers Randolf Menzel an, wonach Bienen nach dem Kontakt mit dieser Agrochemikalie nicht mehr in ihren Stock zurückfanden. Auch der Imker Christoph Koch vom DEUTSCHEN BERUFS- UND ERWERBSIMKERBUND berichtete vom Gefährdungspotenzial dieses Produkts. Er verwies dabei auf Zahlen, die das „Deutsche Bienen-Monitoring“ ermittelt hat. Rückstände von sage und schreibe 23 verschiedenen Pestiziden wiesen die WissenschaftlerInnen in den von den Bienen gesammelten Pollen nach. Darunter befanden sich „beängstigend viele Proben mit extrem hohen Thiacloprid-Werten“, so Koch. Der Agro-Riese bestreitet den Sachverhalt jedoch und bewirbt CALYPSO und LIZETAN als „nicht bienengefährlich“. Weil der BUND das als eine Irreführung der VerbraucherInnen bezeichnete, verklagte BAYER den Umweltverband, was Christoph Koch ebenso wie Corinna Hölzel scharf kritisierte – und das Düsseldorfer Landgericht ebenfalls als nicht berechtigt ansah: Es entschied im März 2015 zu Gunsten der Initiative.
„BAYER respektiert das Urteil, da in diesem Verfahren die juristische Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz des Eigentums im Mittelpunkt stand“, erklärte Marijn Dekkers. Und weder von dieser Niederlage noch von den vielen Unterschriften, die SumOfUs sammelte, lässt der Konzern sich davon abbringen, die Auseinandersetzung über die Gefährlichkeit seiner Pestizide vornehmlich auf juristischem Wege zu führen. Er verfolgt die Klage gegen die EU weiter. Dekkers zufolge ging die Kommission gegen die Ackergifte vor, ohne neue Erkenntnisse über unerwünschte Effekte der Mittel zu haben, was seiner Ansicht nach die Rechtssicherheit gefährdet. „Deshalb legen wir weiterhin Wert auf eine gerichtliche Klärung“, so der Ober-BAYER. Immer noch hat er nicht die Spur eines Zweifels an GAUCHO und PONCHO. „Wir stehen zu unseren Produkten. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass Neonicotinoide sicher sind, wenn sie verantwortungsvoll und vorschriftsmäßig eingesetzt werden“, hielt er fest und machte für das Bienensterben neben der Varrao-Milbe nur noch extreme Umwelt- und Klima-Einflüsse sowie eine Veränderung der landwirtschaftlichen Strukturen verantwortlich.
Julia Sievers-Langer von der AGRAR KOORDINATION widmete sich zwei anderen Pestizid-Wirkstoffen, die zwar nicht zur Gruppe der Neonicotinoide gehören, es aber trotzdem in sich haben: Glyphosat und Glufosinat. Glyphosat, das BAYER etwa unter den Namen GLYPHOS, USTINEX G oder KEEPER vermarktet, hat das Krebsforschungsinstitut der Weltgesundheitsorganisation jüngst als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft, berichtete Sievers-Langer. Und von Glufosinat, das der Leverkusener Multi vor allem in Kombination mit seinen Gen-Saaten vertreibt, gehe sogar nach Meinung der Europäischen Union ein hohes Gesundheitsrisiko aus. Die globale Glufosinat-Produktion verdoppeln zu wollen, obwohl die EU-Zulassung 2017 ausläuft, bezeichnete die Aktivistin deshalb als „Skandal“. Sie forderte eine Erklärung dafür ein. „Welche Argumente können schwerer wiegen als die Verpflichtung, die Entstehung von Missbildungen bei Embryos als Folge des Glufosinat-Einsatzes zu verhindern?“, fragte sie den Vorstand. Darauf antwortete Dekkers allerdings nicht. Stattdessen stellte er Glufosinat angesichts der immer mehr Pestiziden trotzenden Wildpflanzen als wichtige Alternative für die LandwirtInnen dar und betonte die herausragenden Produkt-Eigenschaften. Und was die Risiken und Nebenwirkungen angeht, da ist es für den Konzern damit getan, sich „für den sicheren, vorschriftsmäßigen Einsatz“ einzusetzen.
Dr. Christopher Faßbender von der Tierschutz-Organisation PETA thematisiert das Leid, das Versuchstiere ertragen müssen, die mit Pestizid-Wirkstoffen imprägnierte Halsbänder gegen Zecken-Befall testen. Bis zu 400 Tage dauern die Erprobungen, bei denen Hunde und Katzen wiederholt über mehrere Stunden Parasiten in engen Transportboxen ausgesetzt sind. Dekkers äußerte sich aber nicht zu dem konkreten Fall. Er erging sich stattdessen in Ausführungen über die Verantwortung für das Tier als Mitgeschöpf, die BAYER angeblich übernehme.
Christoph Then vom Verein TESTBIOTECH und Sibylle Arians konfrontierten die Hauptversammlung mit einem Schadensbericht zur „grünen“ Gentechnik. „Offensichtlich hat die Firma BAYER die Kontrolle über ihre gentechnisch veränderten Pflanzen längst verloren“, konstatieren die beiden und präsentierten eine lange Liste mit „Unfällen“. Sie begann mit dem Genreis-Skandal, bei dem sich Spuren von BAYERs LL601-Laborfrucht in normalem Haushaltsreis fanden, und reichte über kontamierten Mais bis zu Auskreuzungen von Gen-Raps und Gen-Baumwolle. Zu diesen Kontrollverlusten wollte sich der BAYER-Chef allerdings nicht äußern. Er beließ es bei Allgemeinplätzen über einen verantwortungsvollen Umgang mit der Risikotechnologie und stellte deren Beitrag zur Sicherung der Nahrungsmittel-Versorgung heraus, ungeachtete der Tatsache, dass die meisten Genpflanzen als Futter in den Ställen der MassentierhalterInnen landen.
Pillenschäden
Roland Holtz wandte sich der Pillen-Sparte zu und nahm sich mit dem Blutgerinnungshemmer XARELTO BAYERs Bestseller vor. Holtz, der lange Jahre in der pharmazeutischen Industrie gearbeitet hat und die Branche aus ethischen Gründen verließ, unterzog die Zulassungstests einer genaueren Betrachtung. Er enthüllte, mit welchen Tricks der Leverkusener Multi eine Nicht-Unterlegenheit des Mittels gegenüber den herkömmlichen Präparaten demonstrieren konnte. So hat der Konzern beispielsweise den ProbantInnen der Vergleichsgruppe ihr Medikament nicht in der richtigen Dosierung verabreicht. Darauf ging Marijn Dekkers jedoch nicht näher ein. Lieber verlas er Textbausteine aus den Werbe-Broschüren zu dem Pharmazeutikum, das es allein 2014 auf fast 2.000 Meldungen über unerwünschte Arznei-Effekte brachte und in Verdacht steht, für 161 Todesfälle verantwortlich zu sein.
Susanne Schultz vom GEN-ETHISCHEN NETZWERK problematisierte in ihrem Beitrag, wie BAYER mit seinem Langzeitverhütungsmittel JADELLE eine Entwicklungshilfe-Strategie stützt, die weniger gegen die Armut als vielmehr gegen die Armen gerichtet ist und deren Vermehrung eindämmen will. „JADELLE wurde vom bevölkerungspolitischen Think Tank ‚Population Council’ dafür entwickelt, Frauen in den Ländern des Globalen Südens möglichst langfristig unfruchtbar zu machen“, so Schultz – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Nebenwirkungen wie starke oder ausbleibende Monatsblutungen, Depressionen, Migräne und abrupte Gewichtszunahmen oder –abnahmen zählte die Wissenschaftlerin von der Frankfurter Goethe-Universität auf.
Während BAYER die Ärmsten der Armen mit einem fünf Jahre wirkenden Silikonstäbchen bestückt, das in den Oberarm eingenäht wird, versucht der Pharma-Riese die reicheren Afrikanerinnen für seine teuren Kontrazeptiva zu gewinnen, kritisierte Daniel Bendix von GLOKAL e. V. Und wenn BAYER offiziell verkündet, „Kundinnen, die für ihre reproduktiven Gesundheitsdienstleistungen mehr zahlen können, dazu zu bringen, auf diese Produkte umzusteigen“, dann firmiert das Ganze auch noch unter Entwicklungshilfe und speist sich zum Teil aus staatlichen Geldern, so Bendix. Konkret nannte der Sozialwissenschaftler von der Universität Kassel Zahlungen von der US-amerikanischen Entwicklungshilfe-Einrichtung USAID. Dekkers focht das nicht an: Er gab unverdrossen den Albert Schweitzer. Der Pharma-Riese kalkuliere nur mit einer geringen Marge, und die staatliche Unterstützung würde gerade einmal ermöglichen, kostendeckend zu arbeiten, behauptete er. Und auch mit JADELLE betätigt sich der Konzern nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden nur als Samariter, reduziere das selbstverständlich sichere und gut verträgliche Mittel doch die Säuglings- und Müttersterblichkeit bei Geburten in beträchtlichem Maße. „Ohne Schwangerschaften keine Schwangerschaftskomplikationen“ – so lautete seine bestechende Logik.
Dieter Donner befasste sich hingegen mit den Risiken und Nebenwirkungen, die von BAYERs Kunststoff-Abteilung ausgehen und beschäftigte sich mit einer Sache, die für den Multi schon zu einer Altlast mutierte, ehe sie überhaupt in Betrieb ist: mit der von Dormagen nach Krefeld verlaufenden Kohlenmonoxid-Pipeline. Auch 2014 war wieder ein schwarzes Jahr für das Projekt, wie der Presse-Koordinator der STOPP-BAYER-CO-PIPELINE-INITIATIVE resümierte. Erst legte die nordrhein-westfälische Landesregierung ein Gutachten vor, wonach es sicherere und sogar preisgünstigere Alternativen zu der Rohrleitung gibt, und dann beurteilte das Oberverwaltungsgericht Münster das Pipeline-Gesetz auch noch als verfassungswidrig. Zudem muss das Unternehmen sich weiter mit der Klage von Heinz-Josef Muhr auseinandersetzen, obwohl dieser jüngst verstarb. Donner, der zum Gedenken an Muhr einen Trauerflor trug, kündigte nämlich an, dass der Prozess trotzdem weitergeführt wird. Angesichts all dieser Unbill fragte Rainer Kalbe den Vorstand, ob er denn einen Plan B hätte. „Diese Frage stellt sich für uns nicht“, antwortete ihm Marijn Dekkers, denn die Giftgas-Leitung gewähre „ein Höchstmaß an Sicherheit“.
Sicherheitsproblemen virtueller Art nahm sich der IT-Berater Fabian Keil an. Er erbat vom Vorstand Informationen zum Datenschutz bei BAYER und erkundigte sich danach, welche Vorkehrungen der Konzern, der auch mit externen IT-Dienstleistern in den USA zusammenarbeitet, gegen Ausspäh-Versuche von NSA & Co. trifft. Eine konkrete Antwort darauf blieb der Vorstandsvorsitzende Keil schuldig, einmal mehr flüchtete Dekkers sich ins Allgemeine und versicherte dem kritischen Aktionär, beim Pharma-Riesen würden hohe Sicherheitsstandards im Computer-Bereich gelten.
Steuerschäden
Der Verfasser dieser Zeilen setzte die Steuermoral des Gen-Giganten auf die Agenda. „Aktuell ist das Unternehmen der wertvollste Konzern im Dax. Die Stadt Leverkusen aber, in der BAYER seinen Stammsitz hat, darbt“, hob er an und führte die ganz legalen Steuertricks auf, die so etwas ermöglichen. Zu den Mitteln der Wahl gehören für den Multi vor allem Niederlassungen in Holland und Belgien, die Anteile an BAYER-Gesellschaften halten und steuermindernde Zins- und Kredit-Transaktionen abwickeln. Zu den ständig sinkenden Gewerbesteuer-Zahlungen räumte der Vorstandsvorsitzende in bemerkenswerter Offenheit ein: „Die Strukturen des heutigen globalen Konzerns sind mit denen von BAYER aus den 80er und 90er Jahren nicht mehr vergleichbar.“ Er gab auch detaillierte Auskünfte zu den Struktur„reformen“. So haben holländische oder belgische Briefkasten-Firmen wie BAYER WOLRD INVESTMENTS Besitztitel an rund einem Fünftel aller 350 Gesellschaften des Konzerns. Und das Volumen ihrer Steuerspar-Geschäfte ist immens. So hat allein BAYER-Antwerpen anderen Töchtern des Global Players 2014 Kredite in einem Volumen von 13,4 Milliarden Euro gewährt.
Der Publizist Dr. Werner Rügemer stellte schließlich die für eine AktionärInnen-Versammlung zentrale Frage: Wem gehört BAYER eigentlich? Er legte die intransparenten Besitz-Verhältnisse dar, schilderte, wie die großen Finanzinvestoren beinahe täglich ihren Aktien-Anteil an dem Unternehmen verändern und forderte Aufklärung. Stellvertretend befasste Rügemer sich näher mit den Praktiken der Gesellschaft BLACKROCK, die 6,2 Prozent der BAYER-Papiere hält und wegen Verstößen gegen das Wertpapierhandelsgesetz im März 2015 eine Strafe in Höhe von 3,25 Millionen Euro zahlen musste. Unter anderem wollte Werner Rügemer von der Management-Riege wissen, wie sich die Beziehungen des Finanzinvestors zum Agro-Mogul konkret gestalten und ob BLACKROCK Einfluss auf die Einscheidung hatte, sich von der Kunststoff-Sparte zu trennen. Es gebe „einen regelmäßigen Gedankenaustausch“, antwortete Dekkers, im Geschäftsjahr 2014 hätten zwei Einzelgespräche auf Vorstandsebene in New York und Boston stattgefunden. Druck hat der Global Player dort laut Marijn Dekkers nicht bekommen: „Wir haben die Portfolio-Manager von BLACKROCK als konstruktive, interessierte und die Unternehmensstrategie unterstützende Aktionäre kennengelernt.“
Solche hat die Aktien-Gesellschaft am 27. Mai auf der Hauptversammlung hingegen kaum kennengelernt. Mit 26 kritischen AktionärInnen musste sie sich in den Kölner Messehallen auseinandersetzen. Und als reiche all dies noch nicht, wirkte das auch noch ansteckend, so dass sich auch andere zu Interventionen ermuntert fühlten. Uta Behrens vom „Deutschen Juristinnen-Bund“ mahnte mehr Frauen-Förderung an, die französische Journalistin Elise Lucet thematisierte weitere Pestizid-Probleme und Margret Seitz brachte aus gegebenem Anlass Fehler bei vergangenen Unternehmensabspaltungen auf Tapet. So musste der Leverkusener Multi seine Rekorde-Ergebnisse alleine feiern, die Hauptversammlung ist dafür seit Langem schon kein Ort mehr.
Schamlose Profite
Eine Aktie des Leverkusener Multis hat einen Wert von 2,56 Euro. Auf diesen Wert zahlte der Konzern eine Dividende von 2,25 Euro. Das entspricht einer Rendite von sage und schreibe 88 Prozent. Um der Öffentlichkeit diese Schamlosigkeit zu verschleiern, wählt der Global Player als Berechnungsgrundlage jedoch den aktuellen Kurswert des BAYER-Papiers, der gegenwärtig etwa 134 Euro beträgt. Und damit – Hokuspokus – macht der Dividenden-Ertrag nur noch 1,7 Prozent aus.
Abstimmungsergebnisse
Die Abstimmungen auf den AktionärInnen-Hauptversammlungen der Konzerne dominieren wenige GroßaktionärInnen (Ultrareiche, Investmentfonds, Banken etc.) Sie sorgen für sichere Mehrheiten von 90 Prozent + x. Die vielen hunderttausend KleinaktionärInnen besitzen zusammen lediglich fünf bis zehn Prozent der Aktien. Entsprechend sind die Zahlen der Nein-Stimmen auf den Hauptversammlungen des Leverkusener Multis durchaus als Erfolg der Kritischen AktionärInnen bei BAYER zu werten. (Da das Unternehmen die Anzahl der Enthaltungen nicht nennt, ergeben sich im Verhältnis der absoluten Zahlen zu den Prozent-Angaben Schwankungen.)
Gewinn-Verwendung
Nein-Stimmen: 899.013 (0,3 Prozent)
Entlastung Vorstand
Nein-Stimmen: 505.329 (1,5 Prozent)
Entlastung Aufsichtsrat
Nein-Stimmen: 9.984.692 (3,1 Prozent)
Abschlussprüfung durch PWC (PricewaterhouseCoopers)
Nein-Stimmen: 44.346.258 (13,2 Prozent)
Glyphosat & Co. – unterschätzte Gefahren
Pestizid auf dem Prüfstand
Glyphosat, das meistverkaufte Pestizid weltweit, steht zurzeit auf dem Prüfstand. Da die Zulassung auf dem EU-Markt Ende 2015 ausläuft, entscheiden die EU-Mitgliedsstaaten im Laufe dieses Jahres darüber, ob die Zulassung um weitere zehn Jahre verlängert wird. Das wirtschaftliche Interesse an einem positiven Votum ist enorm, auch bei der BAYER AG – schließlich vertreibt der Konzern in Konkurrenz zu MONSANTO, SYNGENTA & Co ebenfalls einige glyphosat-haltige Pestizide (1) und glyphosat-resistente Pflanzen (2).
Zum Verkaufsschlager stiegen glyphosat-haltige Pestizide weltweit vor allem durch die Entwicklung und Verbreitung gentechnisch veränderter – glyphosatresistenter – Pflanzen auf, welche die Hersteller extra darauf ausrichteten, den Kontakt mit dem sogenannten Totalherbizid zu überleben. Aber auch in der konventionellen Landwirtschaft kommt Glyphosat immer häufiger zum Einsatz – das Anwendungsspektrum ist sehr breit. Weltweit brachten die LandwirtInnen im Jahr 2012 etwa 718 000 Tonnen glyphosat-haltige Pestizide aus.
Deutschland trägt im aktuellen Zulassungsverfahren eine große Verantwortung. Vier deutsche Behörden unter Federführung des „Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit“ (BVL) haben im Auftrag der EU die Risiken des Wirkstoffs neu überprüft. Dabei haben sie sich wieder dem Urteil der Glyphosat-Produzenten angeschlossen – Glyphosat sei nicht humantoxisch. Dementsprechend empfehlen sie, die Zulassung zu verlängern. Der Bewertungsbericht bildet eine wichtige Grundlage für die Entscheidung über die weitere Zulassung, an der sich alle EU-Mitgliedsstaaten in einem Ausschuss beteiligen.
Gefährlichkeit belegt
Zahlreiche Studien Industrie-unabhängiger WissenschaftlerInnen haben jedoch in den vergangenen Jahren immer mehr Zweifel an der Unbedenklichkeit von glyphosat-haltigen Pestiziden aufkommen lassen. Neben den schädlichen Auswirkungen auf Biodiversität, Gewässer, Böden und einige Tierarten geraten vor allem die gesundheitlichen Gefahren des Wirkstoffs in den Blick. Glyphosat steht unter anderem in Verdacht, Krebs auszulösen, die Fruchtbarkeit zu beeinträchtigen sowie Schädigungen des Erbguts und der Embryonal-Entwicklung zu verursachen.
Es stellt sich die Frage, wie es angehen kann, dass all diese Studien offenbar keinen Einfluss auf das behördliche Urteil hatten. Analysen des deutschen Bewertungsberichtes offenbaren erhebliche Defizite bei der Einschätzung des Gefährdungspotenzials. Offenbar basiert das Urteil der Behörden fast ausschließlich auf Studien, die von Glyphosat-Produzenten durchgeführt oder in Auftrag gegeben wurden. Demgegenüber haben die staatlichen Stellen viele in wissenschaftlichen Journalen publizierte, peer-reviewte Studien zu Glyphosat zunächst überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, wie eine Analyse von PAN Europe zeigt3. Demnach nahmen die Behörden nur 52 Prozent der relevanten toxikologischen Studien wahr und diskutierten nur 31 Prozent von ihnen im Bewertungsbericht. Sie haben damit eine Vorgabe der EU-Verordnung 1107/2009 missachtet, nach der bei Zulassungsverfahren für Pestizide alle vorhandenen wissenschaftlichen Studien zu dem betreffenden Pestizid Berücksichtigung finden müssen.
Sehr problematisch ist zudem, dass die Behörden die unabhängigen wissenschaftlichen Studien, welche sie registrierten, größtenteils als nicht oder nur eingeschränkt zuverlässig eingestuften, da sie nicht den sogenannten GLP-Richtlinien (GLP = Good Laboratory Practice) entsprachen.
Diese Richtlinien hat die US-amerikanische Food and Drug Administration erstmalig 1978 als Reaktion auf schwerwiegende Betrugsprobleme bei Industriestudien zu Pestiziden aufgestellt, die auch toxikologische Tests bei glyphosat-haltigen Pestiziden wie MONSANTOs ROUNDUP betrafen. GLP-Richtlinien dienen seither als Qualitätskontrolle für von der Industrie eingereichte Studien im Rahmen der Risikobewertung und Zulassung von Chemikalien. Sie legen sehr detailliert den organisatorischen Ablauf und die Dokumentationspflichten von Untersuchungen zugrundeliegenden Versuchsabläufen fest. Doch die GLP-Bedingungen sind für universitäre Einrichtungen kaum erfüllbar. So ist eine GLP-Zertifizierung mit einem hohen Zeitaufwand und hohen Kosten verbunden, welche die Kapazitäten wissenschaftlich-universitärer Einrichtungen häufig übersteigen. Auch die Anforderungen an die Methoden-Beschreibung und Ergebnis-Dokumentation sind im Rahmen der Publikation in wissenschaftlichen Zeitschriften gar nicht einzuhalten. WissenschaftlerInnen kritisieren daher nachvollziehbar, dass wissenschaftliche Studien im Rahmen der behördlichen Risikobewertung von Pestiziden mangels GLP-Konformität automatisch als nicht oder nur eingeschränkt zuverlässig bewertet werden.
Im Hinblick auf Objektivitätskriterien ist zudem zu kritisieren, dass die behördliche Risikobewertung größtenteils auf Studien basiert, die Mitglieder der „Glyphosat Task Force“ (ein Zusammenschluss Glyphosat-produzierender Unternehmen) in Auftrag gaben oder selbst durchführten. Auch lässt die Transparenz zu wünschen übrig. Die von den Glyphosat-Herstellern im Rahmen des Zulassungsverfahrens eingereichten Studien sind nämlich der Öffentlichkeit und damit der Überprüfung durch unabhängige WissenschaftlerInnen nicht zugänglich. Der Verdacht liegt nahe, dass von wirtschaftlichen Interessen geleitete Unternehmen Studiendesigns, statistische Methoden und die Interpretation der Ergebnisse dahingehend beeinflussen können, dass negative Effekte maskiert werden.
Tatsächlich legten WissenschaftlerInnen bereits 2011 plausibel dar, dass selbst einige von den Behörden (im vorigen Glyphosat-Zulassungsverfahren) geprüfte Industrie-Studien zeigen, dass Glyphosat Missbildungen bei den Versuchstieren verursacht. Mit Hilfe von wissenschaftlich zweifelhaften Argumenten hätten die ForscherInnen jedoch abgestritten, dass Glyphosat die Ursache für die Missbildungen ist4. Dieselbe Kritik äußern andere WissenschaftlerInnen am aktuellen Bewertungsbericht der deutschen Behörden5. Dabei spielt unter anderem die Relativierung von statistisch signifikanten Unterschieden zwischen der Versuchsgruppe und der eigentlichen Kontrollgruppe durch den Verweis auf historische Kontrolldaten eine wichtige Rolle6. Auch die wiederholten Hinweise auf (angeblich) fehlende Dosis/Wirkung-Beziehungen beanstanden die ExpertInnen. Problematisch ist, dass die Behörden die Angaben und Argumente der antragstellenden Unternehmen größtenteils kritiklos übernehmen und dabei auch eindeutige Mängel übersehen oder ignorieren7.
Es deutet vieles darauf hin, dass die Objektivität der Risikobewertung durch Interessenskonflikte beeinträchtigt wird. Auch die Mitgliedschaft von BAYER- und BASF-MitarbeiterInnen8 in einer Pflanzenschutzmittel-Kommission des für die humantoxische Risikobewertung zuständigen Bundesamtes für Riskikobewertung (BfR) erhärtet diesen Verdacht, auch wenn das BfR angibt, dass diese Kommission nicht direkt in amtliche Entscheidungen hinsichtlich der Risikobewertung eingebunden ist. Sie sei ein externes Beratungsgremium, keine Organisationseinheit des BfR. Andererseits erwartet das BfR laut einem Sitzungsprotokoll von der Kommission „fachliche Beratung, konzeptionelle Unterstützung und kritische Begleitung bei der Bewertung von Pflanzenschutzmitteln und ihren Rückständen hinsichtlich Toxikologie, Rückstandsverhalten und Exposition“9. Eine indirekte Einflussnahme von Pestizid-Herstellern auf die Risikobewertung ist also beim BfR offenbar systematisch verankert.
Zweifelhafte Zulassungen
Die Defizite bei der Risikobewertung im Fall von Glyphosat verdeutlichen, dass das System der Pestizid-Zulassung einer grundlegenden Reformierung bedarf7. Die gesundheitlichen Risiken von Pestiziden (und anderen Produkten) sollten nicht von den Konzernen, die diese Produkte herstellen, überprüft werden, sondern von unabhängigen wissenschaftlichen Instituten. Das „Bundesinstitut für Risiko-Bewertung“ (BfR) rechtfertigt das bestehende System zwar in einer Stellungnahme folgendermaßen: „Zulassungsverfahren in aller Welt beruhen auf dem Prinzip, dass derjenige, der ein Produkt auf den Markt bringen möchte, sämtliche erforderlichen toxikologischen Studien bezahlt, damit dem Steuerzahler dadurch keine Kosten entstehen.“ Doch es gibt sinnvolle Reformvorschläge, welche die SteuerzahlerInnen nicht belasten. So könnten industrie-unabhängige Forschungsinstitute aus einem unabhängig verwalteten Fonds für die Durchführung toxikologischer Studien bezahlt werden. Unternehmen, die das jeweilige Pestizid vermarkten möchten, sollten weiterhin die Kosten tragen, indem sie im Rahmen des Zulassungsantrags zur Zahlung von Gebühren verpflichtet werden.
Im Falle des aktuellen Glyphosat-Zulassungsverfahrens kommen derartige Reformvorschläge zu spät. Hier machen allerdings aktuelle Entwicklungen Hoffnung auf einen Bann des Ackergifts. Denn der öffentliche Druck auf die Behörden in Sachen „Glyphosat“ wächst zurzeit enorm. Ein wichtiger Beitrag dazu war im März 2015 die Meldung, dass die IARC – die Krebsforschungsinstitution der WHO – Glyphosat nach eingehender Prüfung vorhandener Studien als „wahrscheinlich krebserregend“ einstuft. Hilfreich dürfte auch sein, dass CAMPACT Anfang Mai innerhalb weniger Tage mehr als 200.000 Unterschriften für ein Glyphosat-Verbot gesammelt hat. Es bleibt spannend zu verfolgen, wie Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt auf diese neuen Entwicklungen reagiert. Wird ihn der öffentliche Druck oder die wissenschaftliche Autorität der WHO-ExpertInnen zu einem Kurswechsel veranlassen?
Die Entscheidung über die Zulassung von Glyphosat in der EU ist wegen des großen Stellenwerts, den Glyphosat in der konventionellen Landwirtschaft und beim Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen einnimmt, von hoher Bedeutung. Von der Entscheidung wird sicherlich auch eine Signalwirkung auf andere Regionen ausgehen. Allein Glyphosat vom Markt zu nehmen, ist natürlich nicht die Lösung des Pestizid-Problems. Weitere gefährliche Pestizide sind weltweit und auch in Europa im Einsatz – dazu gehört auch das von Bayer vermarktete Glufosinat, das sogar die Behörden als reproduktionstoxisch einstufen und das dennoch weiterhin bis September 2017 in der EU zugelassen bleibt. Die Tatsache, dass es immer wieder Agro-Chemikalien gibt, bei denen sich nach jahrelangem Einsatz herausstellt, dass sie doch nicht so ungefährlich sind wie zunächst propagiert, sie vielmehr schwerwiegende ökologische und gesundheitliche Auswirkungen haben, sollte Anlass für ein grundsätzliches Umdenken sein. Das ganze System der Pestizid-Zulassung und des Pestizid-Einsatzes muss in Frage gestellt werden – zugunsten der Vorsorge für die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt.
Fußnoten
1 BAYER vertreibt folgende glyphosathaltige Pestizide: GLYFOS, PERMACLEAN, USTINEX G, KEEPER und SUPER STRENGTH GLYPHOSATE
2 BAYER vertreibt folgende gentechnisch veränderte, glyphosat-resistente Pflanzen: die Soja-Arten CREDENZ und FG 72, die Baumwollarten GHB 614, GHB 119, GLYTOL und T304-40 sowie den Raps IH 50 RR
3 Tweedale, Lysimachou, Muilermann (Pan Europe, 2014): Missed & Dismissed – Pesticide regulators ignore the legal obligation to use independent science for deriving safe exposure levels
4 Antoniou et al., 2011: Roundup and birth defects – is the public being kept in the dark?; siehe auch: Antoniou et al., 2012: Teratogenic Effects of Glyphosate-Based Herbicides: Divergence of Regulatory Decisions from Scientific Evidence
5 Swanson (2014): Glyphosate re-assessment in Europe is corrupt: toxicology
6 Earth Open Source (2012): Why Monsanto´s attempt to disappear tumors by using historical control data is unvalid
7 Siehe dazu auch die Publikation „Roundup & Co – Unterschätzte Gefahren“
8 Der Bayer-Mitarbeiter Dr. Frank Pierre Laporte und die BASF-Mitarbeiterinnen Dr. Ivana Fegert und Dr. Monika Bross sind aktuelle Mitglieder der BfR-Kommission für Pflanzenschutzmittel und ihre Rückstände.
9 Zitat aus Protokoll der 6. Kommissionssitzung vom 6.5.2011
10 Weitere Erläuterungen zur Kritik am System der Pestizidzulassung (am Beispiel Glyphosat): AGRAR KOORDINATION, PAN Germany (2014): Roundup & Co. – Unterschätzte Gefahren.
Julia Sievers-Langer ist verantwortlich für die Kampagne „Roundup & Co. – Unterschätzte Gefahren“ der AGRAR KOORDINATION. Mit der Kampagne setzt sich die AGRAR KOORDINATION für ein Glyphosat-Verbot, eine grundlegende Reform des Systems der Pestizid-Zulassung und für eine verstärkte Förderung der ökologischen Landwirtschaft ein.
Mehr Infos unter: http://www.agrarkoordination.de/projekte/roundup-co/
BAYERs Ultra-Gifte
Eine lange Geschichte
1995 kündigte der Leverkusener Multi an, bis zur Jahrtausendwende alle besonders gefährlichen Pestizide vom Markt zu nehmen. Doch 20 Jahre später bietet BAYER in bestimmten Ländern weiterhin Agro-Chemikalien der Gefahrenklasse I für landwirtschaftliche Anwendungen an. Und in Haushaltsinsektiziden und anderen Produkten finden sich viele der Ultragifte ebenfalls noch.
Von Jan Pehrke
„Mit einem Drei-Punkte-Programm haben wir uns hinsichtlich Forschung, Entwicklung und Vertrieb der Pflanzenschutz-Produkte klare Ziele für die kommenden fünf Jahre gesetzt. So werden wir die eingesetzte Produktmenge je Anwendung weiter reduzieren und Produkte der WHO-Toxizitätsklasse I schrittweise durch Präparate mit geringerer Giftigkeit ersetzen“, kündigte der Leverkusener Multi 1995 in seinem Geschäftsbericht an. Doch zahlreiche extrem gefährliche Agrochemikalien überstanden die Jahrtausendwende unbeschadet. Andere konnten zumindest in Ländern der „Dritten Welt“ überwintern. Dort trugen die Pestizide dann mit dazu bei, dass die in diesen Staaten sowieso schon überproportional hohe Vergiftungsrate nicht absank.
Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) kritisierte das Brechen der Zusage auf den Hauptversammlungen des Konzerns immer wieder. Der Vorstand jedoch lavierte herum: Es sei eben „ein langwieriger Prozess“, da gebe es „keine Schwarz/Weiß-Lösungen“. Und einer der Nachhaltigkeitsberichte des Unternehmens verwies als Entschuldigung auf „Einsatzbereiche, in denen noch keine geeigneten Alternativen verfügbar sind“.
In Indien gab es für Substanzen wie Triazophos (Produktname: HOSTATHION), Methamidophos (TAMARON) und Parathion Methyl (FOLIDOL), die wegen ihrer akuten Toxizität zur Gefahrenklasse I gehören, noch 2006 solche „Einsatzbereiche“. Auch die BASF und SYNGENTA hatten dort noch Pestizide dieser Kategorie im Programm. Erst als das CENTRE FOR SUSTAINABLE AGRICULTURE, das PESTICIDE ACTION NETWORK ASIA AND THE PACIFIC, der WWF und die CBG diese gesundheitsgefährdende Geschäftspolitik der Agro-Mogule in einem Protestbrief skandalisierten, reagierte der Leverkusener Multi – zumindest virtuell. Er nahm die Produktliste vom Netz; die Seite befand sich nun „under construction“. Real sollte es jedoch viel länger dauern, bis etwas geschah.
Ähnlich verhielt es sich in Chile. Aus freien Stücken tat BAYER gar nichts. Es musste erst Druck erfolgen, und der erfolgte von 2005 an. In diesem Jahr waren 19 ChilenInnen an einer Überdosis Agrochemikalien gestorben. Insgesamt registrierten die Behörden 785 Vergiftungen, mit 97 Fällen gingen dabei die meisten auf BAYERs TAMARON zurück. Das bewog eine Gruppe von Abgeordneten 2007 dazu, einen Antrag ins Parlament einzubringen, alle Klasse-I-Pestizide zu verbieten. Das „Boletín Nº 4877-01“ erhielt zwar schlussendlich keine Mehrheit, aber der Global Player sah dann doch Handlungsbedarf und rangierte in der Folge einige Chemikalien aus.
Verkäufe von Ultragiften wie Fenamiphos (NEMACUR) und Ethophos (MOCAP) an die Konkurrenz, EU-Verbote sowie weitere Initiativen des Pestizid Aktions-Netzwerks (PAN), der Coordination und anderer Gruppen taten ein Übriges, um den Giftschrank zu lichten. Im Nachhaltigkeitsbericht von 2011 annoncierte die Aktien-Gesellschaft, ab Ende 2012 zumindest bei den Insektiziden für die landwirtschaftliche Nutzung und den Saatgut-Behandlungsmitteln ohne die ultraharten chemischen Keulen auskommen zu wollen. Und im Sommer 2013 verkündete sie dann, im Agrar-Segment keine Pestizide der höchsten Gefahrenklasse mehr zu führen.
Abermals jedoch hielt diese Aussage einer Überprüfung nicht stand. In Brasilien bietet der Global Player bis heute HOSTATHION an, obwohl er bei den Behörden angeblich schon 2013 ein Löschen der Registrierung beantragt hat. Bis zum April 2015 vertrieb der Konzern dieses Mittel auch in Indien noch. Zudem verkauft das Unternehmen in zahlreichen Ländern noch Insektizide, die Beta-Cyfluthrin enthalten wie z. B. BULLDOCK. Dabei verweist es jedoch auf eine veränderte, den Wirkstoff in geringerer Konzentration enthaltende Formulierung. Dies mindert zwar tatsächlich die akute Giftigkeit, ändert jedoch weder an den Langzeit-Effekten etwas noch schützt es die Gesundheit von Landwirtinnen besser, die dem Mittel permanent ausgesetzt sind.
Darüber hinaus offeriert BAYER in Brasilien immer noch das Antipilz-Pestizid BAYSISTON, das neben Triadimenol auch den Klasse-I-Wirkstoff Disulfuton enthält, obwohl es spätestens seit 1999 keinen Zweifel an dessem Gefährdungspotenzial mehr geben kann. In diesem Jahr vergiftete das Mittel 30 Kaffeebauern und -bäuerinnen, 12 davon tödlich. Marly Avidel Vilete beschrieb damals, wie qualvoll ihr Mann Joao Jose verendete: „Ich fand ihn liegend auf dem Feld. Er hatte keine Kraft zu gehen und glühte, er hatte Kopfschmerzen und er erbrach sich viel, er hatte Schmerzen in der Brust, keine Stimme und hielt sich den Bauch mit geschlossenen Augen, und am Ende verlor er gänzlich das Gleichgewicht. Er starb am selben Tag an Atemlähmung.“ Die Todesfälle führten sogar zu staatsanwaltlichen Ermittlungen, aber politischer Druck ließ diese im Sande verlaufen.
Die dem BAYSISTON-Inhaltsstoff Disulfuton in seiner Giftigkeit kaum nachstehende Substanz Methiocarb darf EU-weit in Antischneckenmitteln noch bis Sommer diesen Jahres wirken; gegen seine Verwendung in Haushaltsinsektiziden wie LIZETAN oder dem SPINNMILBEN-SPRAY PLUS hat Brüssel hingegen nichts unternommen. Und außerhalb der Europäischen Union unterliegt der Wirkstoff, den BAYER in der vorliegenden Dosierung als nur „moderat gefährlich“ bezeichnet, keiner Beschränkung. Methomyl, das unter anderem als Mittel gegen Fliegen zum Einsatz kommt, kann der Konzern außerhalb der EU-Grenzen ebenfalls weiter vermarkten, in den USA allerdings nur mit Einschränkungen. Auch der Veterinär-Bereich steht den Supergiften weiterhin offen – in den Ställen der MassentierhalterInnen halten sich als Substanzen gegen Fliegen und andere Insekten Dichlorvos, Beta-Cyfluthrin und Coumaphos bereit.
Der Leverkusener Multi besitzt sogar die Kühnheit, ImkerInnen dieses Klasse-I-Pestizid als Mittel gegen das Bienensterben anzubieten, an dem nach Meinung der Fachwelt gerade Agrochemikalien einen gehörigen Anteil haben. BAYER aber hat die Varroa-Milbe als Hauptschuldigen ausgemacht; und so vertreibt der zum Gärtner gemachte Bock Coumaphos-haltige Streifen, welche die Bienen an den Eingangslöchern des Bienenstocks mit dem Wirkstoff gegen die Milbe imprägnieren.
20 Jahre nach dem Versprechen, bis 2000 alle Pestizide der Gefahrenklasse I vom Markt zu nehmen, fällt die Bilanz also negativ aus. Immer noch bietet der Konzern solche chemische Keulen an, vereinzelt für den Großeinsatz auf den Äckern und ziemlich häufig für Anwendungen im Heim-, Garten- oder Veterinär-Bereich.
Der Leverkusener Multi rechtfertigt dies auf zweierlei Weise.
Zum einen will er seine einstige Zusage nur auf Produkte, nicht aber auf Wirkstoffe gemünzt verstanden wissen. In einem „Ausstiegsgespräch“, das VertreterInnen von PESTIZID-AKTIONS-NETZWERK (PAN) und von anderen Initiativen 2013 mit Abgesandten von BAYER, BASF und SYNGENTA führten, mochten die Unternehmensemissäre eine „auf der Substanz-Klassierung basierende Einstufung von Pestiziden“ als hochgefährlich nicht akzeptieren. Zur Begründung verwiesen sie dabei auf die Bandbreite von unterschiedlich gesundheitsgefährdenden Mixturen. Auch sahen sie mit der Substanz-Klassierung das Risiko verbunden, für Generika auf Basis der jeweiligen Chemikalie in Haftung genommen zu werden. Und überhaupt sei ein Sicherheitsmanagement vor Ort mit gezielten Beratungen sinnvoller als ein genereller Wirkstoff-Bann, meinten die Manager. Zum anderen macht es für sie einen großen Unterschied, ob ein bestimmter Inhaltsstoff in einem Pestizid auf Äckern und Plantagen oder „bloß“ als Biozid im Haus-, Garten- oder Veterinär-Bereich sein Unwesen treibt. Für solche Mittel gelten nämlich in der EU – aber auch nur dort – andere gesetzliche Bestimmungen, und deshalb spricht aus ihrer Sicht nichts gegen einen Verbleib im Sortiment.
Damit nicht genug, haben es die Bestände BAYERs auch jenseits der Klasse-I-Pestizide in sich. PAN führte 2012 eine Inventur beim Agro-Riesen durch und machte 64 hochgefährliche Pestizide aus. Diese Produkte können Mensch, Tier und Umwelt massiv schädigen. So sind sie imstande, Krebs auszulösen, das Hormonsystem zu beeinträchtigen, die Arbeit der Nieren zu stören und Fehlgeburten oder Geburtsschäden zu verursachen. Besonders perfide: Der Leverkusener Multi vermarktet viele dieser besonders aggressiven Substanzen wie z. B. Fipronil nur in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Aber die Kritik, mit dem Verkauf dieser in Deutschland oftmals gar nicht mehr zugelassenen Mittel eine Politik der doppelten Standards zu betreiben, lässt der Global Player an sich abprallen. „Den Vorwurf, BAYER CROPSCIENCE verfahre bei der Produktion und Vermarktung von Produkten nach unterschiedlichen Standards, weist das Unternehmen zurück. Aufgrund der unterschiedlichen Klimazonen, Vegetation und Bodenverhältnisse wird für Produkte, die beispielsweise speziell für den Einsatz im asiatischen Raum entwickelt wurden, nicht die Zulassung in Europa beantragt“, antwortete eine Konzern-Sprecherin im Februar 2015 einer französischen Journalistin. Außerdem gebe es in tropischen Ländern eine Vielzahl von Krankheiten und Schädlingen, die nur dort vorkämen, so die Öffentlichkeitsarbeiterin.
So können die Pestizide dann weiterhin ihre verheerende Wirkung entfalten. Nach Schätzungen der Weltbank sterben jährlich rund 350.000 Menschen an Pestizid-Vergiftungen – vor allem in den Armutsregionen. Die absolute Zahl der Vergiftungsfälle liegt der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge bei zwei Millionen per anno. Dies hat nicht nur immenses Leid zur Folge, sondern belastet auch die Gesundheitssysteme. Das UN-Umweltprogramm UNEP rechnet allein für Afrika im Zeitraum von 2015 bis 2020 mit Behandlungskosten von 90 Milliarden Dollar. Die Kampagnen für einen Verkaufsstopp der Ultragifte müssen also weitergehen!
Bundesregierung zu XARELTO:
„Kein neuer Handlungsbedarf“
Im April 2015 musste sich auch die Bundesregierung mit BAYERs Gerinnungshemmer XARELTO beschäftigen. Die Partei „Die Linke“ wollte in einer Kleinen Anfrage wissen, welche Konsequenzen sie aus den zahlreichen Berichten über die Risiken und Nebenwirkungen der Arznei zu ziehen gedenkt. Die Antwort fiel ernüchternd aus. Es bestehe „kein neuer Handlungsbedarf“, verlautete aus den Reihen von Merkel & Co.
Von Jan Pehrke
Die Schadensbilanz von BAYERs Gerinnungshemmer XARELTO wächst und wächst. Im Jahr 2014 erhielt das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ (BfArM) 1.996 Meldungen über unerwünschte Arznei-Effekte wie Blutungen und Leber-Störungen, darunter 161 Todesfälle. Ein alarmierender Befund, auch wenn dem BfArM zufolge ein Kausalzusammenhang nicht in jedem Fall belegt ist.
Die Bundesregierung sieht das jedoch anders. „Aus den dem BfArM vorliegenden Zahlen ergibt sich aktuell kein neuer Handlungsbedarf“, konstatiert sie in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Partei „Die Linke“. Bei neuen Medikamenten häuften sich die Berichte über Nebenwirkungen immer, wiegeln Merkel & Co. ab und sprechen weiterhin „von einer derzeit positiven Nutzen/Risiko-Relation“.
Die US-amerikanische „Food and Drug Administration“ (FDA) tut dies nicht so einfach. Sie verweigerte dem Pharmazeutikum, das die MedizinerInnen unter anderem bei Thrombosen, Embolien und Vorhofflimmern verschreiben dürfen, eine Zulassung zur Behandlung der Herz-Krankheit „Akutes Koronar-Syndrom (ACS)“. erteilen. Die Behörde monierte unter anderem die Unterschlagung von drei Todesfällen bei den Klinischen Prüfungen, den Ausschluss unerwünschter ProbandInnen sowie fehlende Informationen über den Gesundheitszustand der TeilnehmerInnen nach Ende der Tests. Die Regierungskoalition ficht das jedoch nicht an. Sie steht zur Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Behörde EMA, die „nach langen Beratungen zu einer positiven Zulassungsempfehlung gekommen“ ist.
Auch Unregelmäßigkeiten bei anderen XARELTO-Tests stört das mit der Beantwortung der Anfrage betraute Gesundheitsministerium nicht weiter. Die US-Initiative PUBLIC CITIZEN hatte Mängel gerade bei solchen festgestellt, die in Entwicklungsländern wie Indien stattfanden, wo ein unerschöpfliches Reservoir an ProbandInnen, unschlagbare Preise, schnelle Verfahren und eine mangelhafte Aufsicht locken. Die EMA hätte die dort erhobenen Daten ohne Einfluss auf das Gesamtergebnis herausrechnen können, versucht die Bundesregierung zu beschwichtigen. Und das europäische FDA-Pendant darf auch in Zukunft weiterrechnen: Gesetze, welche dem Test-Tourismus Einhalt gebieten, planen CDU und SPD nämlich nicht. Immerhin bequemen sie sich dazu, mehr Inspektionen in diesen Staaten durchführen zu lassen – im letzten Jahr hatte sich das BfArM gerade einmal fünf Studien näher angeschaut, darunter drei in Indien.
An der Tatsache, dass es zu dem BAYER-Präparat im Gegensatz zur Standard-Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten wie MARCUMAR kein Gegenmittel gibt, um Blutungen zu stoppen, nimmt die Große Koalition ebenfalls keinen Anstoß. Sie hält ein solches Antidot nicht für nötig, weil sich XARELTO im Organismus relativ schnell abbaue. Den ärztlichen Erfahrungen mit dem Mittel entspricht das nicht. So berichtet die Medizinerin Dr. Sigrid Süßmeyer von vielen Problemen mit Blutungen. Bei neun ihrer 14 XARETO-PatientInnen traten diese auf. Überdies handelte es sich oft um schwere Fälle, die eine sofortige Versorgung im Krankenhaus nötig machten. Und bei einem von ihnen kam jede Hilfe zu spät: Er verstarb. Mit anderen Gerinnungshemmern gab es diese Probleme der Internistin zufolge hingegen nicht. „Seit über 20 Jahren behandele ich mit MARCUMAR ohne diese Flut von Komplikationen. Bei ca. 90 MARCUMAR-Patienten traten in vier Jahren nur vier Komplikationen auf“, so Süßmeyer.
In ihrer Kritik weiß sie sich mit vielen ihrer KollegInnen einig. Sogar die „Arzneimittel-Kommission der deutschen Ärzteschaft“ (AkdÄ) warnt vor dem massenhaften Verschreiben von „Neuen Oralen Anti-Koagulantien“ (NOAKs) wie XARELTO: „Ihr Einsatz sollte sich auf Patienten beschränken, für die Vitamin-K-Antagonisten keine Therapie-Option sind.“ Aber selbst dieses Votum gibt der Bundesregierung nicht zu denken. Es handele sich dabei lediglich um eine Empfehlung, stellt sie fest und verweist auf die Therapie-Freiheit der MedizinerInnen: „Eine Stellungnahme oder Schlussfolgerung der Bundesregierung ist daher nicht angezeigt.“ Zu der Ansicht des AkdÄ-Vorsitzenden Wolf-Dieter Ludwig, die hohen Verschreibungszahlen für XARELTO & Co. verdankten sich allein einem aggressiven Marketing, mochten sich die Kanzlerin und ihre Regierungsmannschaft ebenfalls nicht äußern. „Der Bundesregierung liegen zu der Einschätzung von Prof. Wolf-Dieter Ludwig keine belastbaren Informationen vor; insofern enthält sich die Bundesregierung einer Bewertung oder Meinungsäußerung zu dieser Einschätzung“, heißt es in der Drucksache 18/4701. Der Leverkusener Multi ist da weit meinungsfreudiger. Er hält Ludwig schlicht für einen Bekämpfer von Innovationen.
Nicht einmal die hohen Kosten von 100,50 Euro im Monat gegenüber 4,80 Euro bei MARCUMAR & Co. bringen Merkel & Co. auf Distanz zu dem BAYER-Mittel, obwohl die Preise für XARELTO und die anderen NOAKs die Etats der Krankenkassen über Gebühr belasten und deren Ausgaben für Gerinnungshemmer im Jahr 2014 auf 675 Millionen Euro haben steigen lassen. „Die NOAKs haben in den meisten Fällen keine Vorteile für die Patienten, trotzdem wurden 2014 fast doppelt so viele Tagesdosen verschrieben wie im Vorjahr“, muss etwa die „Techniker Krankenkasse“ konstatieren. Statt den PatientInnen zunächst die etablierten Wirkstoffe zu verschreiben, würden sie gleich auf die neuen Pharmazeutika eingestellt, moniert Tim Steimle vom TK-Fachbereich „Arzneimittel“.
Eine Kosten/Nutzen-Bewertung, wie sie das 2011 eingeführte Arzneimittel-Neuverordnungsgesetz (AMNOG) für bereits zugelassene Medikamente vorsah, hätte die Risiken und Nebenwirkungen von XARELTO für die PatientInnen und die Kassen abschätzen und Schaden abwenden können. Ein solches Verfahren hatte am 1.12.2013 tatsächlich auch begonnen, doch es kam nie zu einem Abschluss. In der Zwischenzeit hatte nämlich die Regierung gewechselt, und die Große Koalition beeilte sich, dem Druck der Pharma-Lobby nachzugeben: Sie nahm bereits auf dem Markt befindliche Arzneien von der Überprüfung aus. Und das war es dann. „Einen zu hohen methodischen und administrativen Aufwand“ nennt die CDU/SPD-Regierung als Grund für die „Reform“ und beeilt sich festzuhalten: „Die Bundesregierung sieht die Einstellung der betreffenden Verfahren nicht als für die Patientinnen und Patienten problematisch an.“
Nur eine einzige Änderung im Umgang mit dem Pharmazeutikum führt die Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken an: Die Beipackzettel enthalten nun den Warnhinweis, es lägen keine Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit von XARELTO bei Krebs-PatientInnen vor.
Das ist nicht eben viel. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN kritisierte die Haltung der Bundesregierung deshalb scharf. „Für die meisten Patientinnen und Patienten besitzen die neuen Gerinnungshemmer keinen Zusatznutzen gegenüber bewährten Präparaten. Wer trotz des Gefährdungspotenzials und der hohen Kosten zu Medikamenten wie XARELTO hält, der kapituliert vor der Macht der Pharma-Industrie“, resümiert die Presseerklärung der Coordination.
Die Folgen dieses gesundheitspolitischen Offenbarungseids der Großen Koalition sind absehbar. „Ich könnte heulen und toben und würde den Artikel am liebsten allen Ärzten, die meine Mutter in ihren letzten Lebenswochen betreut haben, um die Ohren hauen“, solche Klagen wie diese in einem Leserbrief an den Spiegel nach einem kritischen Artikel des Magazins über den Gerinnungshemmer werden weiter zunehmen. Auch die Meldungen über unerwünschte Arznei-Effekte an das BfArM werden 2015 erneut ansteigen. Die Zahl der Schadensersatzklagen in den USA – 200 waren es bis zum 31. Januar 2015 – wird ebenfalls anwachsen. Und BAYER wird weiterhin Milliarden in Werbe-Maßnahmen investieren, um all das vergessen zu machen.
BAYER & und die Gesundheitskarte
Gläserne PatientInnen
Die Gesundheitskarte bietet die Möglichkeit, alle Daten zum Gesundheitszustand der gesetzlich Krankenversicherten zu erfassen. Was für die IT-Industrie ein großes Geschäft ist und BAYER & Co. wichtige Informationen über ihre Kundschaft verschaffen kann, birgt für die PatientInnen große Gefahren.
Von Wilfried Lubin
Ausgangspunkt für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) war der 8. August 2001. Da musste der Arzneimittel-Hersteller BAYER seinen Cholesterin-Senker LIPOBAY vom Markt nehmen, weil Wechselwirkungen mit anderen Arzneien aufgetreten waren, die über 100 Menschen den Tod brachten. Bei der Aufarbeitung des Skandals wurde festgestellt, dass die Medikamenten-Gaben kaum dokumentiert waren. Die Unternehmensberatung ROLAND BERGER schlug daraufhin in einem Gutachten eine Chipkarte vor, die alle verordneten Pharmazeutika erfasst, mögliche Wechselwirkungen anzeigt und im Bedarfsfall das medizinische Personal informiert.
Gleich nach der Veröffentlichung meldeten sich ÄrztInnen und ApothekerInnen, die Krankenkassen und PatientInnen-Verbände sowie die Gesundheitsindustrie und auch DatenschützerInnen zu Wort. Alle hatten Wünsche und Anliegen. So entwickelte sich aus einer „einfachen Verschreibungsliste“ ein „höchst komplexes System“, das Deutschland die „Telematik-Infrastruktur“ (TI) bescherte1. Im Jahr 2004 schließlich leitete die damalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die Entwicklung der eGK ein. Anfang 2006 erfolgten in einigen Bundesländern erste Tests mit der eGK, die äußerst pannenreich verliefen2.
Zur Entwicklung und Installation der TI gründete sich dann die „Gesellschaft für Telematik“ (GEMATIK). Gesellschafter dieser GmbH sind ÄrztInnen, ApothekerInnen, Krankenhäuser, Krankenkassen und Unternehmen aus der Informationstechnologie wie z. B. die zu BERTELSMANN gehörende Firma ARVATO-SYSTEMS. In den folgenden Jahren wurde dann peu à peu die neue eGK mit Foto eingeführt. Die Politik zwang dabei die Krankenkassen, bestimmte Prozentzahlen ihrer Versicherten mit der neuen Karte auszustatten. Wer diese Prozentzahl nicht erreichte, sollte weniger Verwaltungsmittel erhalten. Die Krankenkassen gaben diesen Druck an ihre Versicherten weiter. So ist es nicht verwunderlich, dass zum Jahresende 2014 nur noch ca. drei Prozent der gesetzlich Krankenversicherten keine Gesundheitskarte mit Foto haben3.
„Bis heute ist die vollständige Umsetzung des milliarden-schweren eGK-Projekts immer wieder an technischen und datenschutzrechtlichen Problemen und am Widerstand von Patientinnen, Ärzten und Juristinnen gescheitert. Die privaten Krankenkassen sind aus dem Projekt seit 2010 ausgestiegen, was nicht heißt, dass privat Versicherte nicht auch bald die eGK vorgeschrieben bekommen“, resümiert der Blog digitalcourage4 Man könnte sich hier fragen: warum? Da vermutlich sehr viele Personen des öffentlichen Lebens (z. B. PolitikerInnen, UnternehmerInnen) privat versichert sind, könnten deren gesundheitliche Daten bei einer zentralen Erfassung leichter an die Öffentlichkeit gelangen und somit deren Privatleben stören. Oder aber warten die privaten Krankenversicherungen so lange ab, bis alle Probleme beseitigt sind und die Kosten durch die gesetzlich Versicherten bezahlt wurden?
Bis jetzt sollen über 1,2 Milliarden Euro an die Unternehmen geflossen sein5. Diese Summe ist jedoch nur die Spitze des Ausgaben-Eisberges für die eGK. Wie der Festredner padeluun bei der diesjährigen Verleihung des Schmähpreises „Big Brother Award“ ans Bundesgesundheitsministerium (BGM) konstatierte, könnten bis zu 15 Milliarden Euro an Kosten anfallen6. Die Studie der Firma BOOZ ALLEN HAMILTON kommt padeluun zufolge auf ähnliche Ergebnisse. Dieses Geld der gesetzlich Krankenversicherten wäre sinnvoller in Diagnostik und Heilbehandlung sowie in bessere Personalausstattung der Kliniken investiert.
Zentrale Daten-Erfassung
Die seit 2012 ausgegebene eGK mit Foto hat einen Mikrochip, auf dem zur Zeit die Versicherten-Stammdaten gespeichert sind. Diese Daten beinhalten Name, Geburtsdatum, Anschrift, Angaben zur Krankenversicherung, neue Krankenversicherten-Nummer sowie den Versichertenstatus (Mitglied, Familienversicherter oder Rentner). Neu ist die Angabe zum Geschlecht, die im Verbund mit dem Foto den Missbrauch erschweren soll.
Um dies alles zu erfassen, installiert die GEMATIK das Versichertenstammdaten-Management (VSDM). Es ist vorgesehen, diese Daten bei jedem MedizinerInnen-Besuch zu aktualisieren. Doch die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Krankenkassen die eingereichten Fotos keiner Identitätsprüfung unterzogen haben. Die Krankenkassen sind dazu laut BGM auch nicht verpflichtet. Es heißt lapidar: „Die Krankenkassen müssen hierfür geeignete Maßnahmen vorsehen (...) und angemessene Verfahren durch(zu)führen.“ 7 Den Versuch der Krankenkassen und des BGM, diese Aufgabe den ÄrztInnen zu übertragen, lehnen diese ab.
Nach den Vorstellungen der Befürworter, z. B. des BGMs, soll die jetzige eGK mit ihren Versichertenstammdaten inklusive Online-Abgleich und -Aktualisierung in Rechenzentren zentral erfasst werden. Das BGM will dazu eine Datenautobahn aufbauen. Die Erprobung wird im Herbst 2015 mit 1.000 ÄrztInnen und zehn Krankenhäusern in den Bundesländern Sachsen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein anlaufen. „Versicherte, die eine dieser Praxen oder Krankenhäuser aufsuchen, nehmen automatisch am Test teil“, heißt es dazu aus dem Ministerium8. Zudem plant es, nach und nach die elektronische Patientenakte, den elektronischen ÄrztInnen-Brief und das elektronische Rezept einzuführen. Vielleicht soll auch, wie es in Großbritannien angestrebt wird, eine Zusammenführung der „Krankenakten aus Arztpraxen künftig automatisch und (...) ohne (...) Einwilligung von PatientInnen in eine zentrale Datenbank“ erfolgen und dann den „Unternehmen für Forschungsprojekte zur Verfügung gestellt werden“9. Das Unterfangen nennt sich care data. Hier sollen erfasste genetische Daten der britischen Bevölkerung mit den Daten aus Krankenakten abgeglichen werden. Die Pharma-Industrie will nämlich, wie sie schon 1999 bekundete, die erfassten Daten analysieren, um so Krankheiten „vorherzusehen und zu vermeiden.“ Häufig auftretende Erkrankungen wie z. B. Krebs könnten dann mit Medikamenten behandelt werden, bevor der Mensch daran erkrankt, versprechen die Hersteller, die hier enorme Extra-Profite wittern.
In Deutschland hat sich der Verband BIO Deutschland e. V., zu dessen Fördermitgliedern BAYER zählt, ebenfalls für mehr Einbindung bei der Erstellung der TI und eGK ausgesprochen. Dazu gehöre auch, dass Biotech-Firmen auf die Gesundheitskarte zugreifen dürfen, so die Organisation. Und im Referentenentwurf zum „E-Health-Gesetz“ soll der Privatwirtschaft ebenfalls das Abgreifen von PatientInnen-Daten ermöglicht werden. Sollte dieser das Parlament unverändert passieren, so hätten die LobbyistInnen der IT-Industrie ihr zentrales Ziel erreicht. Es könnten dann nämlich private Firmen wie APPLE mit seinen Produkten „iHealth“ oder „Apple Watch“ auf das System zugreifen. Der Entwurf sieht laut junge welt auch vor, „Teile der TI (zu) nutzen, konkrete Anwendungen aber nur außerhalb der Infrastruktur“10, weshalb die Zeitung warnt: „Es ist möglich, dass Firmen Patienten-Daten dann über die TI entschlüsseln und anschließend auf ihre eigenen Computersysteme übertragen.“ Gleichzeitig würde das Zwei-Schlüssel-Prinzip abgeschafft, das eine Erhebung von Daten nur in Anwesenheit des PatientInnen und mit seiner eGK erlaubt. Der Leverkusener Multi ist dabei in einer besonders guten Position, hat er doch über die PRONOVA BKK, dem Zusammenschluss der Betriebskrankenkassen von BAYER, BASF, FORD und anderen großen Konzernen, einen barriere-freieren Zugang zum Krankenkassen-Bereich.
Wie daten-hungrig der Leverkusener Multi ist, zeigt ein Fall aus England. Bei der dortigen Gesundheitsbehörde NHS erwarb er PatientInnen-Unterlagen, „um die Größe des britischen Marktes für Gebärmutter-Wucherungen zu erkunden“ und mit diesem Wissen „den Marketingstrategie-Prozess zu füttern“. Auch andere Firmen beteiligten sich am Großeinkauf, was auf der Insel einen großen Skandal auslöste.
Ein weiteres Betätigungsfeld für den Pharma-Riesen und andere Unternehmen tut sich durch die Einrichtung des „elektronischen Rezeptes“ (eRezept) auf. Bisher konnte weder Ärzteschaft noch Apotheken oder Pharmafirmen feststellen, ob ein ausgestelltes Rezept auch eingelöst wurde. Mit der Einführung des elektronischen Rezeptes (eRezept) ist ihnen das jedoch möglich, was den Druck auf die PatientInnen erhöht, sich die Tabletten wirklich zu beschaffen – und den Konzerne so zu Mehreinnahmen verhilft.
Für Rezepte interessiert sich der Leverkusener Multi schon länger. Er hat die Firma PHARMAFACT damit beauftragt, für ihn die Rezeptdaten der Krankenkassen auszuwerten. Auf diese Weise weiß der Konzern ganz genau, wie das Geschäft mit seinen Arzneien so läuft und wie er seine Pharma-DrückerInnen präparieren muss. Eine Zeitlang wusste er dies sogar genauer, als die Polizei erlaubt. PHARMAFACT gab nämlich widerrechtlich nicht nur anonymisierte Unterlagen heraus, sondern auch solche mit Namen von MedizinerInnen, so dass BAYER & Co. ganz genaue Informationen über die Verschreibungsgepflogenheiten einzelner ÄrztInnen hatten. Doch im Jahr 2012 flog das Ganze auf. „Die Unterlagen, die uns in Auszügen zugespielt wurden, scheinen valide zu sein. Sie könnten einen der größten Daten-Skandale der Bundesrepublik im Medizinbereich aufdecken“, konstatierte der Leiter des „Unabhängigen Datenschutzzentrums Schleswig-Holstein“, Thilo Weichert, damals.
Doch nach Ansicht des Bundesgesundheitsministeriums dient die Medizin 2.0 nur dem Wohlergehen der Versicherten. So soll die eGK im Verbund mit der Telematik-Infrastruktur eine bessere Versorgung der Versicherten durch schnelle und sichere Kommunikation zwischen den LeistungserbringerInnen (z. B. ÄrztInnen / Kliniken) bewerkstelligen, den Missbrauch erschweren, eine Kostenersparnis bringen, die Qualität bei der medizinischen Behandlung erhöhen und zu mehr Transparenz für die PatientInnen führen. Zudem verspricht das Ministerium eine sichere Datenautobahn, auf der nur autorisierte Personen (z. B. Patientin/ Patient, Ärztin/Arzt) an die medizinischen Daten kommen können. Darüber hinaus bestimmten die Versicherten selbst, was auf ihrer eGK gespeichert wird: „Der Versicherte ist dabei Herr über seine persönlichen Gesundheitsdaten“11 Dieses Recht kann allerdings jederzeit widerrufen werden. Außerdem ist fraglich, wie der Versicherte von diesem Recht in der Praxis Gebrauch machen soll.
Kritik von allen Seiten
Verfolgt man das Für und Wider zur eGK und zu TI in der öffentlichen Diskussion, zeichnet sich jedoch kein so eindeutig positives Bild ab. Es hagelt von verschiedensten Seiten Kritik, nicht nur gegen die eGK und die TI, sondern auch gegen den im Januar 2015 veröffentlichen Referenten-Entwurf zum E-Health-Gesetz. Das Bündnis „Stoppt die e-Card“, ein Zusammenschluss von 54 Bürgerrechtsorganisationen, DatenschützerInnen sowie PatientInnen- und ÄrztInnen-Verbänden, steht mit seinen Vorbehalten keineswegs alleine da. So forderte Kathrin Vogler von der Partei „Die Linke“ in ihrer Bundestagsrede am 16.01.2015 den Stopp der eGK; sie sprach sich stattdessen für die Entwicklung von Alternativen aus, die sich mehr am Wohl der PatientInnen orientieren12. Auch haben die Krankenkassen die Haushaltsmittel für 2015 an die GEMATIK vorerst gesperrt. Grund: zu geringe Fortschritte beim Aufbau der TI. Zudem wurden die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages aus den letzten Jahren am 27.02.2015 von der VertreterInnen-Versammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (dem „Parlament“ der KBV) erneut bestätigt. Mit großer Mehrheit lehnte das Gremium den „Anschluss an die zentrale E-Card-Infrastruktur“ ab. Überdies forderte es den hauptamtlichen KBV-Vorstand auf, sich im Gesetzgebungsverfahren zum E-Health-Gesetz konkret für eine Streichung der strategisch wichtigen Funktion „Online-Versichertenstammdatenmanagement“ (VSDM) einzusetzen. Dieses VSDM würde alle ÄrztInnen-Praxen an das von der BERTELSMANN-Tochter ARVATO aufgebaute zentrale Großnetz anschließen, und Weigerungen will Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) im neuen Gesetz sogar unter Strafe stellen.
Die KritikerInnen in der Ärzteschaft plädieren hingegen für Dezentralität und betrachten die Daten, die in einer riesigen TI gespeichert, bearbeitet und eventuell zweckentfremdet weiterverwendet werden, als eine Belastung des vertraulichen Arzt-Patienten-Verhältnisses. Nicht zuletzt steht damit nämlich die ärztliche Schweigepflicht auf dem Prüfstand, die es bisher weitestgehend verhindert hat, dass beispielsweise Daten über Krebs, Diabetes, Nervenzusammenbruch oder AIDS unbefugt an andere gelangen konnten. Laut Ärzteschaft gibt es zudem schon einen Austausch zwischen niedergelassenen ÄrztInnen und Kliniken durch Verschlüsselungssoftware per E-mail, der auch kostengünstiger sei. Darüber hinaus hat eine Kölner ÄrztInnen-Initiative im Dezember 2014 eine Unterschriften-Liste gegen die Anweisung gestartet, PatientInnen ohne neue Gesundheitskarte nicht mehr zu behandeln.
Wie es um die Datensicherheit in der elektronischen Informationsübermittlung steht, zeigen die Veröffentlichungen des Whistleblowers Edward Snowden. Seit 2010 sind die Dienste in der Lage, unbemerkt den Datenverkehr auszuspähen. So ist es den Geheimdiensten der USA und Großbritanniens problemlos gelungen, beim weltweit führenden Kartenhersteller GEMALTO das Sicherheitskonzept zu knacken – just das Unternehmen, das 2009 den Auftrag erhielt, 25 Millionen elektronische Gesundheitskarten für Versicherte der AOK zu personalisieren und zu verschicken. „Wenn bis heute dieses Datenleck den Betreibern der Firma nicht aufgefallen ist, bedeutet das, dass interne Kontrollen völlig versagt haben müssen. Es gibt also keine Sicherheit mit den jetzt ausgegebenen elektronischen Karten“, konstatierte der Sicherheitsexperte Rolf Lenkewitz13.
Zu ähnlichen Aussagen kommt Professor Dr. Harmut Pohl in seinem Kommentar „Chipkarten-Hack und die Folgen – Kommentare der Experten 2,0“ Er hält fest: „Die organisierte Kriminalität übernimmt die technischen Fähigkeiten der Nachrichtendienste in sehr kurzer Zeit (...) Die organisierte Kriminalität ist daher z. B. besser und aktueller über den Gesundheitszustand eines jeden von uns informiert als wir selbst – und unser Hausarzt!“14 Das dies keine unbedeutenden Warnungen sind, zeigt auch ein Bericht der WAZ aus dem Bereich des Online-Banking. „Wieder Konten mit TAN-System leergeräumt“, lautete die Überschrift15.
Druck auf Verweigerer
Wer keine neue Gesundheitskarte besitzt, muss trotzdem nicht auf ÄrztInnen-Besuche verzichten. Das ließ sich Kathrin Vogeler von der Bundesregierung bestätigen. „Wer der elektronischen Gesundheitskarte skeptisch gegenübersteht, kann sich auch im nächsten Jahr ärztlich behandeln lassen, ohne gleich eine Privatrechnung zu riskieren. Anstelle einer e-Card reicht nämlich ein Nachweis über den Leistungsanspruch von der Krankenkasse, auf Papier, per Brief oder Fax an die Arztpraxis“, erklärte die Politikerin16. Die Aussage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV): „Ab 1. Januar gilt ausschließlich die elektronische Gesundheitskarte (eGK)“ ist also durch die Bundesregierung widerlegt. Der Versicherungsschutz hängt nicht von der eGK ab, sondern von gezahlten Versicherungsbeiträgen und von den notwendigen Angaben nach § 15 SGB V17. Das widersprüchliche und unfaire Verhalten von einigen Krankenkassen, ÄrztInnen, BGM etc. gegenüber denjenigen gesetzlich Versicherten, die nach wie vor die eGK verweigern, ist deshalb aufs Schärfste zu verurteilen.
Seit Beginn dieses Jahres verhalten sich Krankenkassen und MedizinerInnen den eGK-VerweigerInnen gegenüber unterschiedlich. Obwohl die Versicherten Beiträge zur Krankenversicherung zahlen und dadurch berechtigt sind, medizinische Leistungen zu erhalten, werden sie von einigen Krankenkassen und auch ÄrztInnen schikaniert. Die INITIATIVE PATIENTENDATEN fasst die Erfahrungen so zusammen: „Die Techniker Krankenkasse beispielsweise stellt Ersatzbescheinigungen nur für jeweils einen Tag aus, so dass man sich für jeden Arztbesuch eine neue Bescheinigung holen muss (...) Einzelne Krankenkassen weigern sich, die Ersatzbescheinigungen vor einem Arztbesuch zur Verfügung zu stellen, oder wollen diese nicht per Post zuschicken, sondern nur in die Arzt-Praxis faxen. Einzelne Ärzte wiederum weigern sich, ihre Fax-Nummer bekanntzugeben, andere können angeblich keine Überweisung mehr ausstellen, wenn die Ersatzbescheinigung nur einen Tag gültig ist. Manche weisen sogar Patienten mit einer Ersatzbescheinigung ab und verweigern die Behandlung, auch wenn sie aufgrund ihrer Kassen-Zulassung verpflichtet sind, Kassen-Patienten zu behandeln.“18 Selbst bei chronisch Kranken wird mit Schikanen vorgegangen, um sie zum Einlenken zu bewegen19.
Versicherte, die wollen, dass ihre intimsten Gesundheitsdaten nur im engsten Kreis überschaubar verwendet werden und nicht in zentralen Rechenzentren (TI), haben ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung so gut wie verloren. Es entfällt nämlich das Recht auf Information darüber, wer zu den eigenen Daten Zugang hat,
sowie das Recht, ihre Verarbeitung einzuschränken, abzulehnen oder ihre Löschung zu verlangen.
Durch die zentrale Speicherung in Rechenzentren bleiben nicht wie bisher alle Krankheitsdaten dezentral bei den behandelnden MedizinerInnen. Zukünftig sind Praxen, Apotheken, PsychotherapeutInnen, Krankenhäuser, Krankenkassen und viele weitere Berufsgruppen des Gesundheitswesens durch die eGK und TI in einem riesigen Computernetzwerk miteinander verbunden. Und es steht zu befürchten, dass auch andere Interessenten wie z. B. die Pharma-Industrie legal oder illegal Zugang bekommen. Laut namhaften IT- und DatenschutzexpertInnen gibt es keinen hundertprozentigen Schutz vor Missbrauch des Systems. So hat das, was nach dem LIPOBAY-Skandal begann und bloß das eigentlich sinnvolle Projekt verfolgte, den verschiedenen AkteurInnen des Gesundheitswesens den Arzneimittel-Gebrauch von PatientInnen transparenter zu machen, zu einer Entwicklung geführt, an deren Ende gläserne PatientInnen stehen könnten.
Fußnoten
1 vgl. www.heise.de; 04.08.2011: Elektronische Gesundheitskarte: Es begann vor zehn Jahren
Anmerkung zur TI: alle elektronischen Verarbeitungssysteme (z. B. Kartenlesegeräte, eGK, Rechenzentren), die medizinische Daten speichern und übermitteln und vernetzt sind, ergeben die TI.
2 vgl. WAZ vom 27.06.2012: Fehlerhafte Gesundheitskarte
3 vgl. junge Welt, Nr. 3 vom 05.01.2015, S. 12: Big Data – Big Business
4 www.digitalcourage.de: Wie geht es weiter mit der elektronischen Gesundheitskarte?
5 www.kathrin-vogler.de; Bundestagsrede vom 16.01.2015
6 www.bigbrotheraward.de
7 vgl. www. bmg.bund.de; Elektronische Gesundheitskarte und E-Health /Fragen und Antworten
8 vgl. www. bmg.bund.de; Elektronische Gesundheitskarte und E-Health
9 vgl. Gen-ethischer Informationsdienst, GID, Nr. 229, April 2015, S.16f. Zusatzinfo: 2002 begann Großbritannien mit dem Aufbau einer zentralen Datenbank im staatlichen Gesundheitssystem, dem National Health Service (NHS). Ein Gutachten stellte jedoch fest, dass „weder die Kommunikation zwischen ÄrztInnen und Kliniken“ vereinfacht, „noch sonst in irgendeiner Form die Gesundheitsversorgung“ verbessert wurde. Darum stand das Urteil über das Vorhaben, das bis heute 12 Milliarden Pfund verschlang, bald fest: Das „bisher gewaltigste Scheitern“ eines IT-Projektes.
10 vgl. junge Welt, Nr. 19 vom 23.01.2015, S. 5: „Ziel: Gläserner Patient“
11 vgl. www.bmg.bund.de; Elektronische Gesundheitskarte und E-Health, Allgemeine Informationen/Fragen und Antworten
12 www.kathrin-vogler.de; Bundestagsrede vom 16.01.2015
13 vgl. www.presseportal.de: Elektronische Gesundheitskarte: Super-GAU durch Sicherheitsangriffe auf Chipkarten
14 vgl. www.stoppt-die-e-card.de: Chipkarten-Hack und die Folgen – Kommentare der Experten 2,0
15 vgl. WAZ vom 19.08.2014: Wieder Konten mit TAN-System leergeräumt
16 vgl. www.kathrin-vogler.de: Auch 2015 sind Arztbesuche ohne eCard möglich
17 vgl. www.digitalcourage.de: Wie geht es weiter mit der elektronischen Gesundheitskarte?
18 vgl. www.initiative-patientendaten.de: Streit um elektronische Gesundheitskarte eskaliert
19 vgl. www.ddrm.de: Ein Skandal: Die Erpressung chronisch Kranker ohne eGK wird weiter verschärft
AKTION & KRITIK
PAN für Pestizid-Abgabe
Die Ackergifte von BAYER & Co. bürden der Gesellschaft große Lasten auf. Darum fordert das PESTIZID AKTIONS-NETZWERK (PAN) eine Pestizid-Abgabe. „Die Umwelt-, Kontroll- und Gesundheitskosten, die durch Pestizide verursacht werden, sind weder im Preis der Pestizid-Produkte noch im Preis der Lebensmittel enthalten (...) Mit einer Abgabe könnte man diese Kosten auf die Pestizid-Produkte aufschlagen“, so die PAN-Aktivistin Susan Haffmans. Sie verweist dabei auch auf das Beispiel Dänemark, wo eine solche Regelung den Agrochemie-Verbrauch deutlich reduzieren konnte.
Weniger Kinderarbeit
Jahrelang hatte die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN die Kinderarbeit bei Zulieferern von BAYERs indischer Saatgut-Tochter PROAGRO angeprangert. Zunächst leugnete der Konzern seine Verantwortung, erst nach öffentlichkeitswirksamen Protesten kam Bewegung in die Sache. Das Unternehmen bekannte sich zu dem Problem, senkte den Anteil arbeitender Kinder unter 14 Jahren drastisch und installierte das „Child Care Program“, das neben Kontrollen auch noch ein Engagement auf dem Bildungssektor umfasst. Inzwischen hat der Global Player dieses Programm ausgeweitet. Er praktiziert es mittlerweile auch im indischen Gemüse-Anbau sowie auf den Reisfelder in Bangladesh und auf den Philippinen. Ein schöner Erfolg der CBG und ihrer MitstreiterInnen!
Kaum Frauen in Führungspositionen
Im BAYER-Vorstand sitzen keine Frauen. In der ersten Führungsebene unterhalb des Vorstands beträgt ihr Anteil fünf Prozent, in der zweiten neun Prozent. Und im Aufsichtsrat liegt die Quote bei 20 Prozent.
BETAFERON-Stellungnahme
Das „Multiple Sklerose“-Präparat BETAFERON gehört zu den umsatzträchtigsten BAYER-Medikamenten, obwohl Studien dem Mittel größere Nebenwirkungen als Wirkungen bescheinigen. Während es bei nur 16 Prozent der frisch Erkrankten imstande ist, einen zweiten Schub zu verhindern, und bei einer schon chronifizierten, aber immer noch schubförmig verlaufenden MS bloß in vierzehn Prozent der Fälle anschlägt, produziert es unzählige unerwünschte Arznei-Effekte. Dazu gehören unter anderem Nierenleiden, Muskelschmerzen und Depressionen. Dies alles schadet dem Absatz jedoch nicht, weil der Leverkusener Multi beste Beziehungen zu Fachkreisen und Selbsthilfegruppen unterhält. Darum forderten die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN und die INITIATIVE SELBSTHILFE MULTIPLE SKLEROSE KRANKER den Pharma-Riesen auf, all diese Kontakte offenzulegen und auch etwaige finanzielle Zuwendungen zu dokumentieren.
BfArM für kleinere ASPIRIN-Packungen
Das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-Produkte“ (BfArM) warnt davor, die Risiken von ASPIRIN und anderen Schmerzmitteln zu unterschätzen. Der Gebrauch der Medikamente könne „zu Magenbluten mit unter Umständen tödlichem Ausgang, Leber- und Nierenschäden sowie allergenen Reaktionen führen“, so BfArM-Präsident Walter Schwerdtfeger. Bei dem ASPIRIN-Wirkstoff Acetylsalicylsäure bestehe das Risiko „selbst bei den niedrigen Dosierungen, die zur Prävention von Schlaganfall und Herzinfarkt dienen sollen“, konstatiert Schwerdtfeger. Darum verlangt das Bundesinstitut seit langem eine Reduzierung der Mengen, die noch ohne Rezept erhältlich sind. Im Jahr 2012 hatte der „Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht“ eine solche Forderung nach einer Beschränkung der Packungsgrößen abgelehnt, und auch heuer stehen die Chancen für ein neues Regelwerk nicht besser. Gegenüber NOVARTIS wollte das BfArM im Frühjahr 2015 kleinere VOLTAREN-Schachteln gerichtlich durchsetzen, das Verwaltungsgericht Köln wies die Klage allerdings ab.
DBU warnt vor BAYTRIL & Co.
Der massenhafte Einsatz von Antibiotika wie BAYERs BAYTRIL in der Massentierhaltung führt zur massenhaften Entwicklung resistenter Krankheitserreger. Gelangen diese in den menschlichen Organismus, so können MedizinerInnen oftmals nichts mehr gegen die Keime ausrichten, was eine massive Gesundheitsgefahr darstellt. Die DEUTSCHE BUNDESSTIFTUNG UMWELT fordert deshalb politische Schritte zur Einschränkung der Medikamenten-Gaben. Ansonsten bestehe die Gefahr, „dass es zu unkontrollierten Ausbreitungen von resistenten Keimen auch in der Bevölkerung kommt“, so DBU-Generalsekretär Heinrich Bottermann gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung.
Grüne gegen BAYTRIL-Rabatt
An der massenhaften Verbreitung von BAYTRIL und anderen Antibiotika in den Ställen haben die VeterinärInnen keinen geringen Anteil. Sie sind nämlich Arzt und Apotheker in Personalunion und verdienen an den von ihnen ausgegebenen Medikamenten. Zudem haben sich unter den Tier-MedizinerInnen oligopol-artige Strukturen herausgebildet. So bedienen die zehn größten Praxen die Geflügel- und Kälbermastbetriebe fast im Alleingang: Ihr Marktanteil beträgt 90 Prozent. Und sie können BAYTRIL & Co. zu Konditionen veräußern, zu denen es manche TierärztInnen nicht einmal im Einkauf bekommen, weil die Pharma-Riesen ihnen Mengen-Rabatte gewähren (siehe auch Ticker 2/15). Darum haben die Grünen in den „Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft“ den Antrag eingebracht, das Einräumen solcher Sonderkonditionen zu verbieten und einheitliche Abgabe-Preise einzuführen. Das lehnten CDU und SPD jedoch ab (siehe auch TIERE & ARZNEIEN).
Arznei-Studien: ein bisschen Transparenz
Im letzten Jahr hat die EU BAYER & Co. auferlegt, ihre Arznei-Studien zu veröffentlichen. Allerdings brauchen sie nicht die Original-Untersuchungen zu präsentieren, sondern können die Daten aufbereiten. Den Persilschein für diese „Transparenz light“ liefert der Verweis auf Geschäftsgeheimnisse, mit dem der Leverkusener Multi auch die Einsichtnahme in seinen mit der Universität Köln geschlossenen Kooperationsvertrag verweigert (Ticker berichtete mehrfach). Das Europäische Parlament hatte bei seiner Entscheidung zwar deutlich gemacht, dass Unterlagen aus Klinischen Prüfungen an sich nicht unter dieses Rubrum fallen, aber die sehr industrie-freundliche Arznei-Behörde EMA respektiert bei der konkreten Ausgestaltung der Studien-Datenbank den Wunsch der Pharma-Riesen nach Diskretion. Das stößt auf scharfe Kritik. „Weder die Ergebnisse noch die Methoden klinischer Studien sind Geschäftsgeheimnisse. Partikular-Interessen müssen sich dem öffentlichen Interesse an einer zügigen und vollständigen Veröffentlichung solcher Daten und Dokumente unterordnen“, hält etwa das „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ (IQWIG) fest. Aber ob die öffentliche Empörung die Auskunftsfreudigkeit von Big Pharma zu steigern vermag, bleibt zweifelhaft, zumal die Unternehmen zusätzlich noch auf die gerade in Planung befindliche EU-Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen hoffen dürfen, die auch Regelungen zu Studien mit Medikamenten, Chemikalien und Pestiziden umfasst.
KAPITAL & ARBEIT
Tarifrunde 2014: nur 2,8 Prozent mehr
Die diesjährigen Tarif-Verhandlungen in der Chemie-Branche verliefen in einer weit weniger sozialpartnerschaftlichen Atmosphäre als frühere. „Selten war eine Tarifrunde in der chemischen Industrie derart aufgeheizt wie in diesem Jahr“, resümierte die Rheinische Post. Grund war das niedrige Angebot des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC) von 1,6 Prozent mehr Entgelt bei einer Vertragslaufzeit von 15 Monaten. Wegen des herausfordernden wirtschaftlichen und geopolitischen Umfelds im Allgemeinen und der Lage der ertragsschwächeren kleineren Betriebe im Besonderen könne er leider nicht mehr bieten, führte der BAVC zur Begründung an. Der Vorschlag erboste die IG BERGBAU, CHEMIE, ENERGIE (IG BCE). „Als ich das gehört habe, ist mir die Kinnlade heruntergerutscht“, berichtete der Tarif-Vorstand der IG BCE, Peter Hausmann. Dementsprechend schwierig gestalteten sich die Gespräche, in deren Verlauf es auch zu Warnstreiks und anderen Aktionen kam. So protestierten BAYER-Beschäftigte in Berlin und Weimar vor der Konzern-Niederlassung für eine gerechtere Bezahlung. Die IG BCE zögerte am Schluss nicht einmal, offen mit einem Arbeitskampf zu drohen. Das hatte sie zuletzt vor zehn Jahren getan, und der letzte Streik liegt sogar schon 34 Jahre zurück. Letztendlich scheute die Gewerkschaft die Konfrontration dann aber doch und gab klein bei. Während die Chemie-WerkerInnen in der letzten Tarifrunde noch 3,7 Prozent mehr Entgelt erhalten hatten, akzeptierte die IG BCE dieses Mal eine Erhöhung von nur 2,8 Prozent – und das auch noch bei einer Laufzeit von 17 Monaten.
Immer weniger Beschäftigte
Im Jahr 1996 hatte BAYER 142.200 Beschäftigte. 2014 waren es gerade mal noch 119.000. Und in nächster Zeit wird diese Zahl durch den Verkauf der Kunststoff-Sparte noch einmal beträchtlich sinken. Dabei könnte sie den absoluten Tiefpunkt von 2004 erreichen, wo bloß 91.700 Menschen beim Leverkusener Multi arbeiteten.
BAYER macht depressiv
Nach einer Untersuchung der „Techniker Krankenkasse“ treten Depressionen in Leverkusen leicht häufiger auf als im NRW-Landesdurchschnitt. Während die Kasse die hohe Arbeitslosen-Quote und die große Anzahl von BerufspendlerInnen in der Stadt als mögliche Gründe anführt, lenkt der Psychologe Martin Gadatsch den Blick auf BAYER. „Es kann auch ein strukturelles Problem hinter der Häufung von depressiven Erkrankungen in Leverkusen stecken. In Leverkusen arbeiten besonders viele Leute bei BAYER. Früher war BAYER für diese Menschen eine große Familie. Mit steigendem Wirtschaftsdruck wächst der Stress aber auch für die Mitarbeiter“, so Gadatsch. Er dürfte dabei aus Erfahrung sprechen, denn er arbeitet in der nahe Leverkusen gelegenen Klinik Roderbirken, die unter anderem auf Psycho-Kardiologie spezialisiert ist, sich also den Auswirkungen seelischer Belastungen auf das Herz widmet.
Immer weniger Tarifverträge
Weltweit hat der Leverkusener Multi nur mit knapp der Hälfte seiner Beschäftigten Tarifverträge abgeschlossen, und 2014 haben sich die Zahlen noch einmal verschlechtert. Der Anteil der Belegschaften, mit denen der Konzern eine entsprechende Vereinbarung abgeschlossen hat, sank von 54 auf 52 Prozent. In Europa bestehen solche Regelungen mit 87 Prozent der BAYER-WerkerInnen, in Lateinamerika beträgt die Quote 45 Prozent und Schlusslicht bleiben die Vereinigten Staaten mit bloß fünf Prozent.
Ein bisschen Mitsprache
Eine formelle Mitbestimmung mit einem Aufsichtsrat, in dem Beschäftigten-VertreterInnen Stimmen haben, existiert nur in der Bundesrepublik. Im restlichen Europa gibt es in den BAYER-Werken immerhin noch Betriebsräte. Dies ist im Rest der Welt dann auch nicht mehr der Fall. Das höchste der Gefühle stellen da laut BAYER-Geschäftsbericht „gewählte Mitarbeiter-Vertreter“ dar, die „bei bestimmten personal-bezogenen Unternehmensentscheidungen ein Mitsprache-Recht“ haben.
Kein Kunststoff mehr aus Belford Roxo
Wenn BAYER ankündigt, sich von Teilgesellschaften zu trennen, entfalten diese in der Regel mannigfaltige Rationalisierungsaktivitäten, um sich so attraktiver für mögliche Investoren zu machen. Ganz nach diesem Muster handelt auch BAYER MATERIALSCIENCE. Die vom Leverkusener Multi zur Disposition gestellte „Plaste & Elaste“-Sparte hat im Juli 2015 die Kunststoff-Produktion im brasilianischen Belford Roxo gestoppt, wo sie bisher jährlich 55.000 Tonnen Diphenylmethan-Diisocyanat (MDI), 15.000 Tonnen Polyether-Polyolen sowie Lack-Vorprodukte fertigte. 320 Arbeitsplätze vernichtete BMS dadurch, und längst nicht alle Beschäftigten können zu den anderen BAYER-Gesellschaften am Platze wechseln.
Selbstbedienung im Ideen-Pool
Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit betont der Leverkusener Multi die Unverzichtbarkeit des Schutzes des geistigen Eigentums. An den Ideen seiner Belegschaftsangehörigen vergreift der Konzern sich jedoch ganz unverblümt. So erklärt der Pharma-Riese frank und frei, dank der 2014 eingereichten Verbesserungsvorschläge der Beschäftigten bereits im ersten Jahr der Umsetzung über fünf Millionen Euro eingespart zu haben. An Prämien zahlte er indessen nur rund eine Million Euro aus.
E.ON-Vorbild BAYER
Was BAYERs Aufsichtsratschef Werner Wenning in Leverkusen gelernt hat, das praktiziert er auch an anderer Stelle, zum Beispiel bei E.ON, wo er ebenfalls dem obersten Kontrollgremium vorsitzt. KommentatorInnen schreiben ihm eine maßgebliche Rolle bei der Entscheidung des Energie-Multis zu, das Alt-Geschäft mit den Kohle-, Gas- und Atomkraftwerken von dem Unternehmensteil abzuspalten, der sich dem Vertrieb, den Stromnetzen und der Erneuerbaren Energie widmet. So konstatiert das manager-magazin: „Die Lösung eines Spin-offs trägt die Handschrift des E.ON-Aufsichtsratsvorsitzenden Werner Wenning. Der frühere BAYER-Chef hat Erfahrung mit derlei Konzepten seit der Abspaltung von LANXESS (die ehemalige Chemie-Sparte des Leverkusener Multis, Anm. SWB).“
KONZERN & VERGANGENHEIT
Der PCB-Produktionsstopp von 1971
Polychlorierte Biphenyle (PCB) gehören zu den giftigsten Hervorbringungen der Chlorchemie (SWB 1/14). Sie können das menschliche Hormonsystem, das Nervensystem und das Immunsystem schädigen, die Schilddrüse, Leber und Nieren angreifen und zu Unfruchtbarkeit führen. 1971 entschlossen sich MONSANTO und BAYER dazu, die Produktion der Chemikalie zu stoppen, die bis dahin vor allem in Elektrogeräten, Fugendichtungsmassen, Farben, Lacken und Bodenbelägen zum Einsatz kam. Die treibende Kraft dabei war der US-Konzern. Er drängte auf den PCB-Ausstieg, „um nicht von einer Welle politischer Emotionen über Bord gespült zu werden“, wie es der damalige Europa-Chef Norbert Dahlström ausdrückte. Zu der Zeit waren die Wogen nämlich schon ziemlich hochgegangen. Meldungen über fünf Japaner, die nach der Zubereitung von Reis in PCB-verunreinigtem Öl gestorben waren, über Totgeborene mit deutlichen Symptomen einer PCB-Vergiftung, 146.000 durch PCB verendete Hühner und Nachrichten über hohe PCB-Rückstände im menschlichen Körper hatten die Öffentlichkeit alarmiert. Trotzdem zögerte der Leverkusener Multi lange, auf den MONSANTO-Vorschlag einzugehen. Fünf Monate lang musste Dahlström nach eigenen Worten „auf BAYER einwirken“, ehe der Pharma-Riese zustimmte. Anfang Oktober 1971 besprachen die beiden Unternehmen dann in Bad Godesberg gemeinsam mit EmissärInnen des Bundesgesundheitsamtes die Details. Dabei forderte die bundesdeutsche Aktien-Gesellschaft dann auch noch Gegenleistungen ein. Sie wollte als Belohnung für ihren Schritt laut Spiegel eine Zusicherung der amtlichen Stellen haben, dass von „eingehenderen Untersuchungen“ der Risiken und Nebenwirkungen von PCB „abgesehen werden“ soll. Zudem produzierte BAYER den Stoff zur Verwendung in vermeintlich sichereren, weil geschlossenen Systemen wie Hydraulik-Ölen und Transformatoren weiter und stellte die Fertigung erst 1983 ganz ein. Schäden richtet der chemisch nur schwer abbaubare Stoff jedoch noch immer an. Darum finden quer durch die Republik aufwendige Sanierungen von Universitäten und Schulen statt – und eine Beteiligung an den Kosten lehnt der Global Player strikt ab.
POLITIK & EINFLUSS
Dekkers will Geld für Antibiotika-Forschung
Die gängigen Antibiotika verlieren immer mehr an Wirkung und können gegen viele Krankheitskeime nichts mehr ausrichten. Die massenhafte Verwendung von Mitteln wie BAYERs BAYTRIL in der Massentierhaltung hat daran einen nicht unerheblichen Anteil (siehe TIERE und ARZNEIEN), denn sie fördert die Herausbildung von antibiotika-resistenten Erregern, die auch in den menschlichen Organismus gelangen können. Der Leverkusener Multi tut jedoch nichts, um sich dem Problem zu stellen. Er forscht auch nicht nach neuen Präparaten. Antibiotika stellen für die Pillen-Riesen nämlich keine große Einnahme-Quelle dar, weil die MedizinerInnen sie nur über einen kurzen Zeitraum hinweg verordnen. „Wir müssen Geld verdienen mit unseren Produkten. Das führt dazu, dass nicht alle Medikamente entwickelt werden, die wir brauchen“, erläuterte Konzern-Chef Marijn Dekkers im Spiegel den Sachverhalt. Daraus zieht er die Konsequenz, staatliche Subventionen einzufordern: „Die Regierungen sollten die Pharma-Industrie wie in der Militär-Industrie Auftragsforschung machen lassen.“
Klimaschutz: Dekkers mauert
Im Herbst 2014 hat die EU ihre Klimaschutz-Ziele festgelegt und eine Senkung der Kohlendioxid-Emissionen von 40 Prozent bis zum Jahr 2030 beschlossen. Der Leverkusener Multi, der im letzten Jahr 8,72 Millionen Tonnen des Gases ausgestoßen hat, hält das für unerreichbar. „Wir akzeptieren diese politische Vorgabe. Und wir wollen unseren Beitrag dazu leisten. Gleichwohl sehen wir derzeit aber weder eine technische noch eine wirtschaftliche Lösung, wie die deutsche chemische Industrie dieses hochgesteckte Ziel erreichen könnte“, sagte der Vorstandsvorsitzende Marijn Dekkers in seiner Funktion als Präsident des „Verbandes der Chemischen Industrie“ (VCI). Er plädierte deshalb dafür, die Bereiche „Verkehr“ und „Wohnen“ zur Entlastung von BAYER & Co. mehr in die CO2-Reduktionspläne einzubeziehen. Ansonsten müsste die Chemie-Industrie leider die Produktion drosseln, um den Anforderungen gerecht zu werden, drohte der Holländer. Einen zweiten Lösungsansatz sah er in einem internationalen Klima-Abkommen, wohl wissend, dass die Chancen für eine derartige Übereinkunft zurzeit gen Null tendieren: „Nur wenn es gelingt, auch international alle wichtigen Emittenten einzubeziehen, laufen die Belastungen nicht gegen die Wettbewerbsfähigkeit Europas.“
Kaum weniger EEG-Rabatte
BAYER & Co. klagen routinemäßig über die hohen Strom-Kosten, die ihnen das „Erneuerbare-Energien-Gesetzes“ (EEG) durch die Förderung von Windkraft & Co. angeblich beschert. Dabei gewährt das Paragraphen-Werk energie-intensiven Betrieben großzügige Rabatte, für welche dann die Privathaushalte aufzukommen haben. Für diese stieg die Strom-Rechnung seit 2008 um 38 Prozent, während diejenige der Konzerne in der Zeit sogar um ein Prozent niedriger ausfiel. Die ungleiche Lasten-Verteilung brachte das ganze EEG in Verruf, weshalb schon Schwarz-Gelb eine „Reform“ begonnen hatte, welche die Große Koalition unter der Ägide von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) dann abschloss. Der Vize-Kanzler drosselte den Ausbau der Erneuerbaren Energien. Gleichzeitig schaffte er es durch zähe Überzeugungsarbeit in Brüssel, den Konzernen die von der EU eigentlich als unerlaubte Subventionen angesehenen Industrie-Privilegien weiterhin zu sichern. Er erklärte sich lediglich zu etwas mehr Enthaltsamkeit bereit und kündigte an, die Preis-Abschläge um eine Milliarde Euro zu reduzieren. BAYER & Co. wehrten sich jedoch vehement und hatten damit Erfolg. Es gelang ihnen, den Gabriel-Plan zu Fall zu bringen, auf den von den Kraftwerken der Unternehmen selber erzeugten Strom eine Öko-Abgabe zu erheben. Unter anderem deshalb musste sich der Wirtschaftsminister von seinem Milliarden-Ziel verabschieden: 2015 sanken die Subventionen für die Industrie um gerade einmal 300 Millionen Euro auf 4,8 Milliarden Euro. Trotzdem geben sich die Multis nicht zufrieden. So forderte BAYER-Chef Marijn Dekkers in seiner Funktion als Präsident des „Verbandes der Chemischen Industrie“, die Ökostrom-Förderung aus Steuer-Mitteln zu bestreiten: „Mit einer alternativen Finanzierung der Energiewende – zum Beispiel über den Bundeshaushalt – könnten die Förderzusagen des EEG eingehalten werden, ohne den Strompreis in die Höhe zu treiben.“
Klimaschutz-Programm schont BAYER & Co.
Im Jahr 2007 hat die damalige Bundesregierung das Klimaschutz-Ziel ausgegeben, die Kohlendioxid-Emissionen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent zu senken, mit 1990 als Bezugsgröße. Die parallel dazu eingeleiteten Maßnahmen genügten jedoch nicht, um die Reduktion zu erreichen. Darum hat die Große Koalition Ende 2014 nachgelegt und ein „Aktionsprogramm Klimaschutz“ sowie einen „Aktionsplan Energie-Effizienz“ auf den Weg gebracht, womit sie bis zu 78 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich einsparen will. Der Leverkusener Multi braucht dazu aber kaum einen Beitrag zu leisten, obwohl sein Energie-Verbrauch ebenso wie sein CO2-Ausstoß steigt (siehe WASSER, BODEN & LUFT). „Der Fokus der beschlossenen Maßnahmen liegt auf den Bereichen ‚Gebäude’ und ‚Verkehr’“, atmet der „Verband der Chemischen Energie“ auf, also genau dort, wo er nach Meinung seines derzeitigen Präsidenten, des BAYER-Chefs Marijn Dekkers, auch liegen sollte (s. o.). Dem VCI gefällt zudem, dass die Regierungskoalition seine Signale erhört hat und Sektoren, die bereits dem Emissionshandel unterliegen, keine weiteren Auflagen gemacht hat. Auch das alleinige Setzen auf freiwillige Maßnahmen im Industrie-Bereich begrüßt die Lobby-Organisation. Darüber hinaus ließ Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel zur Freude von BAYER & Co. den Plan fallen, eine Sonderabgabe auf ältere Kohlekraftwerke zu erheben – das hätte nämlich ihre Strom-Rechnung erhöhen können. Stattdessen ging der Sozialdemokrat den umgekehrten, von dem Chemiegewerkschaftsboss Michael Vassiliadis ersonnenen und von der rot-grünen NRW-Landesregierung tatkräftig unterstützten Weg: Er zahlt den Energie-Riesen Abwrack-Prämien für das Stilllegen ihrer Dreckschleudern und holt sich das Geld dafür bei den Strom-KundInnen wieder.
Agrar-Subventionen für Bauer BAYER
Die EU bedenkt den Leverkusener Multi seit geraumer Zeit mit Agrar-Subventionen. Brüssel sieht die Pestizid-Versuche, die der Konzern auf seinen Ackerflächen in Monheim und Burscheid unternimmt, nämlich als landwirtschaftliche Aktivitäten an. Allerdings nehmen die Zahlungen ab. Strich der Konzern 2013 noch fast 180.000 Euro ein, so gab es 2014 „nur“ 49.000 Euro.
VFA schreibt Merkel wg. Griechenland
BAYER und die anderen Pharma-Multis haben vor der Krise heftig von der griechischen Misswirtschaft im Gesundheitswesen profitiert, wie der Schriftsteller Petros Markaris 2011 in einem Zeit-Artikel festhielt. „In welchem Ausmaß dabei Geld verschwendet wurde, haben die Griechen erst jetzt begriffen. Der Einkauf von Arzneimitteln und medizinischem Gerät wurde bislang von den Krankenhäusern selbst vorgenommen. Jetzt hat das Gesundheitsministerium den Kauf von Arzneimitteln zentral über das Internet organisiert und gemäß den bisherigen Ausgaben dafür 9.937.480 Euro zur Verfügung gestellt. Nun stellte sich heraus: Die Medikamente kosteten nur 616.505 Euro, also bloß 6,2 Prozent der früheren Summe!“, schrieb er. Jetzt können die Pillen-Riesen in dem Staat nicht mehr so viel Geld einstreichen. Und das hat zu allem Überfluss auch noch Einfluss auf die Einnahmen hierzulande. Für neue Medikamente legen die Krankenkassen und die Hersteller die Preise nämlich fest, indem sie sich daran orientieren, was Pharmazeutika in anderen Staaten so kosten. Und in diesem sogenannten Länderkorb macht Griechenland zur Zeit alles etwas billiger. Darum forderte der von BAYER gegründete „Verband der Forschenden Arzneimittel-Hersteller“: „Die Preis-Referenzierung auf Griechenland in Deutschland muss ausgesetzt werden. Die dortige Sondersituation darf keine europa-weite Preisspirale nach unten lostreten.“ Der Verband setzte in der Sache sogar einen Brandbrief an Bundeskanzlerin Angela Merkel auf.
Duin bei „Steam Reformer“-Einweihung
Ursprünglich hatte BAYER den Bau der Kohlenmonoxid-Leitung zwischen Dormagen und Krefeld mit dem CO-Überschuss in Dormagen begründet. Davon kann allerdings schon lange nicht mehr die Rede sein. Der Bau einer neuen TDI-Anlage am Standort machte sogar die Errichtung eines Steam Reformers zur Deckung des Mehrbedarfs notwendig. Am 17. April 2015 nahm ihn der Leverkusener Multi feierlich in Betrieb. „Als „elementar für die Chemie in unserem Land“ pries der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) die Investition bei dem Festakt. Er nutzte die Gelegenheit jedoch nicht, um zu fragen, warum BAYER einen solchen Reformer als Alternative zum gefährlichen Transport des Stoffes quer durchs Land nicht auch in Krefeld plant, obwohl der Konzern damit einem von der Landesregierung in Auftrag gegebenen Gutachten zufolge auch noch Geld sparen würde.
PROPAGANDA & MEDIEN
Pestizid-Propaganda
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Pestizide stehen immer stärker in der Kritik. Kaum ein Tag vergeht ohne Meldungen über ihre Risiken und Nebenwirkungen für Mensch, Tier und Umwelt. Der Leverkusener Multi geht deshalb in die Offensive und startet einen „Agrar-Dialog zum Pflanzenschutz“. Seine AußendienstlerInnen verteilen ein Kompendium, das auf Fragen wie „Warum brauchen wir überhaupt Pflanzenschutzmittel?“ oder „Wie sieht es mit den Rückständen in Lebensmitteln aus?“ einfache Antworten gibt. Als AdressatInnen hat der Konzern dabei neben LandwirtInnen „und/oder landwirtschaftlichen Öffentlichkeitsarbeitern“ auch VerbraucherInnen im Sinn. Und das Propaganda-Material steht nicht nur „als gedruckte Ausgabe in Form eines Fächers, eines Heftchens und eines Kartenspiels“ zur Verfügung, sondern auch als App.
Pestizid-Propaganda
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Die zunehmende Kritik an Pestiziden (s. o.) hat auch schon zu Konsequenzen wie der vorläufigen Aussetzung der Genehmigung für die BAYER-Ackergifte GAUCHO und PONCHO wegen ihrer Bienengefährlichkeit geführt. Das bereitet dem Leverkusener Multi Sorge. Darum unternimmt er große Anstrengungen, um der Politik und der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass die Entscheidung der EU zu einer Rückkehr der Plagen führt. So befragte der Konzern 8.000 LandwirtInnen, die einhellig zu Protokoll gaben, welche Probleme ihnen das Fehlen von GAUCHO und PONCHO bereitet. 98 Prozent klagten über zunehmende Schäden durch den Raps-Erdfloh und 74 Prozent über solche durch die Kleine Kohlfliege verursachten.
Pestizid-Propaganda
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Um das schlechte Image von Pestiziden zu verbessern, haben BAYER & Co. die Aktion „Schau ins Feld“ gestartet. Im Rahmen dieser Initiative verschonen die teilnehmenden LandwirtInnen auf einem an öffentliche Wege grenzenden Feld einen Teil ihrer Ackerfrüchte mit den Agro-Chemikalien. „So wird sich bis zur Ernte dem Betrachter ein Bild bieten, das den Fachmann nicht überrascht, wohl aber manchen Spaziergänger oder Radfahrer: Unkräuter überwuchern die Kulturen, Pilzkrankheiten und Schädlinge verursachen sichtbare Schäden und gefährden die Erde“, hofft die Branchen-Organisation „Industrieverband Agrar“.
Pestizid-Propaganda
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Die Risiken und Nebenwirkungen von Pestiziden haben teilweise zu einer strengeren Zulassungspraxis geführt – und in den Augen BAYERs zu einer so strengen, dass sie Zulassungen überhaupt verhindert. So sieht der Leverkusener Multi das Inverkehrbringen neuer Insektizide durch rigidere Auflagen der „Europäischen Behörde für Lebensmittel-Sicherheit“ (EFSA) gefährdet. Diese schreibt den Konzernen unter anderem vor, die Bienengefährlichkeit ihrer Produkte auf einem Versuchsareal mit ausreichenden Abmessungen zu untersuchen. Der Konzern hat hierfür jedoch einen Flächenbedarf von 448 km2 errechnet und sieht sich außerstande, solch ein großes Gebiet aufzutreiben.
Pestizid-Propaganda
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Wegen seiner bienengefährlichen Pestizide PONCHO und GAUCHO steht der Leverkusener Multi bereits seit Langem in der Kritik von BienenzüchterInnen. BAYER hat darauf reagiert und selber einen Imker angeheuert, um den aufgebrachten BienenhalterInnen die Konzern-Version vom Bienensterben möglichst glaubwürdig vermitteln zu können. „Freier Berater für Bienengesundheit“ nennt sich Fred Klockgether. Und er, der sich laut Faz nur „sehr ungern als Lobbyist bezeichnen ließe“, meint selbstverständlich, „dass der Rückgang von Wildbienen mehr durch den Wegfall von Habitaten begründet ist als durch den Pflanzenschutzmittel-Einsatz“ und dass die Varroa-Milbe die Reduzierung der Honigbienen-Populationen verursacht habe. Klockgether zögert nicht einmal, den Agro-Riesen ob seiner Mittel gegen die Milbe als Bienenretter zu bezeichnen.
Elf Milliarden Marketing-Kosten
Seit Jahren wachsen BAYERs Marketing-Kosten. 2014 stiegen sie um rund 700 Millionen Euro auf 11 Milliarden Euro an. Damit machen sie mehr als ein Viertel des Umsatzes aus. Trotz dieses gewaltigen Volumens weigert sich der Konzern auf den Hauptversammlungen beharrlich, die Ausgaben genauer aufzuschlüsseln. Nur zu der Aussage, 40 Prozent des Etats verbrauche die Pharma-Sparte, ließ sich BAYER-Chef Marijn Dekkers 2013 hinreißen. Einen Großteil dieser 40 Prozent wiederum dürfte der Konzern aufwenden, um seinen gefährlichen Gerinnungshemmer XARELTO zu bewerben. Und diese Investition lohnt sich: Trotz vieler kritischer Stimmen aus dem Bereich des Gesundheitswesens setzte der Leverkusener Multi im letzten Jahr mit dem Mittel fast 1,7 Milliarden Euro um.
BAYERs rollendes SchülerInnen-Labor
In Kooperation mit der Berliner Humboldt-Universität betreibt der Leverkusener Multi ein rollendes Labor. Das „Humboldt-BAYER-Mobil“ fährt Schulen in der Bundesrepublik an und arbeitet mehr oder weniger spielerisch den naturwissenschaftlichen Lernplan des Konzerns ab, um bei den 11- bis 15-Jährigen „die Attraktivität des Fachgebietes zu erhöhen“.
TIERE & ARZNEIEN
Tiermast: hohe Antibiotika-Gaben in NRW
Die massenhafte Gabe von Antibiotika wie BAYERs BAYTRIL in der Massentierhaltung befördert die Entwicklung resistenter Krankheitserreger. Gelangen diese dann in den menschlichen Organismus, so können MedizinerInnen oftmals nichts mehr gegen die Keime ausrichten, was eine massive Gesundheitsgefahr darstellt. Deshalb steht diese Praxis bereits seit Jahren in der Kritik. Geändert hat sich bislang allerdings nur wenig. Das zeigt jetzt eine Studie des nordrhein-westfälischen Umweltministeriums über die Antibiotika-Applikation in der Puten-Aufzucht. 92,8 Prozent der Tiere mussten diese Medikamente während ihrer vier- bis sechsmonatigen Aufzucht schlucken. „Der massenhafte Einsatz von Antibiotika in der Intensiv-Haltung ist weiterhin Alltag“, resümierte NRW-Umweltminister Johannes Remmel bei der Vorstellung der Untersuchung. Am häufigsten wurde in den Ställen auf Benzylpenicillin zurückgegriffen, dann folgten Colistin, Amoxicillin und Enrofloxacin, der Wirkstoff von BAYTRIL. Enrofloxacin gehört zur Gruppe der Fluorchinolone, die auch in der Humanmedizin Verwendung finden – das entsprechende BAYER-Präparat heißt CIPROBAY – und dort sogar den Status von Reserve-Antibiotika haben, weil sie gegen viele Krankheiten wirken. Die Verabreichung von Enrofloxacin in den Ställen schätzt die Untersuchung deshalb als besonders problematisch ein, zumal ihre humanmedizinischen Pendants gegen die ESBL-Keime schon ihre Wirkkraft eingebüßt haben. Deshalb forderte der NRW-Umweltminister Johannes Remmel die Bundesregierung im Frühjahr auf, den Gebrauch von Reserve-Antibiotika, zu denen neben Enrofloxacin auch Colistin gehört, in der Massentierzucht zu verbieten. Und die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen stellte im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft den Antrag, den Einsatz von Fluorochinolen und vergleichbaren Mitteln nur noch in Ausnahmefällen zu gestatten. CDU und SPD lehnten das jedoch ebenso ab wie strengere Auflagen zur Abgabe von Antibiotika an VeterinärInnen (siehe auch AKTION & KRITIK).
Mehr BAYTRIL in den Tierställen
Der massenhafte Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung führt zur Entwicklung resistenter Krankheitserreger. Das stellt auch für die Humanmedizin eine Gefahr dar, denn die Keime, gegen die kein Kraut mehr gewachsen ist, können in den menschlichen Organismus gelangen. Erleichtert vermeldet das „Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit“ (BVL) darum für das Jahr 2014 einen Rückgang der Antibiotika-Gaben in den Ställen. Von 1.452 auf 1.238 Tonnen gingen die verabreichten Mengen zurück. Was das BVL da als Erfolgsmeldung verkauft, ist allerdings nur auf den ersten Blick eine. Da die Präparate nämlich immer effektiver wirken, sagen die nackten Zahlen nur wenig aus: Während eine Tonne des Alt-Antibiotikums Tetracyclin gerade einmal für 39.000 Mastschweine langt, vermögen die LandwirtInnen mit einer Tonne von BAYERs BAYTRIL 2,2 Millionen Tiere zu versorgen. Und das Leverkusener Produkt mit dem Wirkstoff Enrofloxacin, der zur Substanz-Klasse der Fluorchinolone gehört, erfreut sich zunehmender Beliebtheit. „Die Abgabe von Fluorchinolonen hat auf hohem Niveau weiter leicht zugenommen und zeigt gegenüber dem ersten Erfassungsjahr 2011 eine Steigerung von nunmehr 50 Prozent“, konstatiert das Bundesamt. Um 200 Kilogramm auf 12,3 Tonnen wuchs der Verbrauch. Das ist alarmierend, denn Fluorchinolone finden auch in der Humanmedizin Verwendung – das entsprechende BAYER-Präparat heißt CIPROBAY – und haben dort sogar den Status von Reserve-Antibiotika, weil sie gegen viele Krankheiten wirken. Darum erklärten die ÄRZTE GEGEN MASSENTIERHALTUNG: „Wir fordern das sofortige Verbot des Einsatzes dieser Antibiotika-Klassen in der Tierhaltung“. Zudem appellierten sie an die Politik, nach dem Vorbild der Niederlande das verbindliche Reduktionsziel „50 Prozent weniger Antibiotika in den Mast-Anlagen binnen dreier Jahre“ vorzugeben.
Erweitertes Anwende-Spektrum für BAYTRIL
BAYERs Veterinär-Antibiotikum BAYTRIL kann bald noch mehr Schaden anrichten (s. o.) In den USA erhielt der Leverkusener Multi für BAYTRIL 100 die Zulassung, das ein erweitertes Anwendungsspektrum hat und nun bei Schweinen auch zum Einsatz kommen kann, wenn die Tiere vom E.coli-Bakterium befallen sind. Zudem dürfen die TierärztInnen das Präparat jetzt auch intra-muskulär spritzen. Als eine gute Nachricht für Schweine-ProduzentInnen, VeterinärInnen und alle, denen eine Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln am Herzen liegt, feierte der Leverkusener Multi die Entscheidung der US-Gesundheitsbehörde FDA.
TIERE & VERSUCHE
144.471 Tierversuche
Im Geschäftsjahr 2014 hat BAYER 144.471 Tierversuche durchgeführt, 95,8 Prozent davon mit Ratten und Mäusen. Die Zahl ist nur bedingt mit derjenigen von 2013 vergleichbar, wo es 142.084 Experimente am „Tiermodell“ gab. Die EU hat nämlich die Dokumentationsvorschriften geändert; gemäß der Richtlinie 2010/63 müssen die Unternehmen jetzt nicht mehr die Tiere selber, sondern ihre Einsätze zählen. „Ob der Anstieg um 1,7 Prozent alleine durch die neue Zählweise oder von unseren Projekten im letzten Jahr abhängig war, kann nicht eindeutig identifiziert werden“, erklärt der Konzern deshalb.
DRUGS & PILLS
Immer mehr XARELTO
BAYERs Gerinnungshemmer XARELTO mit dem Wirkstoff Rivaroxaban hat gefährliche Nebenwirkungen. Das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ erhielt allein 2014 161 Benachrichtigungen über Todesfälle im Zusammenhang mit dem Mittel; insgesamt erfolgten rund 2.000 Meldungen wegen unerwünschter Pharma-Effekte. Trotzdem will der Leverkusener Multi das Anwendungsspektrum des bisher unter anderem zur Behandlung von Thrombosen, Embolien und von Vorhofflimmern zugelassenen Präparates weiter vergrößern. Für sieben neue Indikationen wie z. B. zur Therapie von PatientInnen mit chronischem Herz-Versagen testet der Konzern die Arznei derzeit.
Kein Handlungsbedarf bei XARELTO
Jetzt musste sich sogar die Bundesregierung mit BAYERs umstrittenem Gerinnungshemmer XARELTO beschäftigen. Die Partei „Die Linke“ wollte in einer Kleinen Anfrage wissen, welche Konsequenzen die Große Koalition aus den zahlreichen Berichten über die Risiken und Nebenwirkungen der Arznei zu ziehen gedenkt. Die Antwort fiel ernüchternd aus. Es bestehe „kein neuer Handlungsbedarf“, verlautete aus den Reihen der Großen Koalition. Merkel & Co sprachen von einer derzeit positiven Nutzen/Risiko-Relation“ und ließen sich von dieser Meinung noch nicht einmal durch die „Arzneimittel-Kommission der deutschen Ärzteschaft“ (AkdÄ) abbringen, die vor dem massenhaften Verschreiben von „Neuen Oralen Anti-Koagulantien“ (NOAKs) wie XARELTO gewarnt hatte. Und an der Tatsache, dass es zu dem BAYER-Präparat im Gegensatz zur Standard-Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten wie MARCUMAR kein Gegenmittel gibt, um Blutungen zu stoppen, nimmt die Merkel-Regierung ebenfalls keinen Anstoß. Sie hält ein solches Antidot nicht für nötig, weil sich XARELTO im Organismus angeblich relativ schnell abbaue.
NOCTAMID: hohes Sucht-Potenzial
BAYERs Schlafmittel NOCTAMID mit dem Wirkstoff Lormetazepam gehört zu den Benzodiazepinen. Eine Studie der Universität Bochum unter Federführung von Dr. Knut Hoffmann bescheinigt dieser Substanz-Klasse ein hohes Sucht-Potenzial. Von 128.000 bis 1,6 Millionen Abhängigen allein in der Bundesrepublik spricht die Untersuchung. Gemäß Zulassung sollte die Anwendung benzodiazepin-haltiger Mittel zwar auf zwei bis vier Wochen beschränkt bleiben, das entspricht jedoch nicht der Praxis. Viele Menschen bekommen die Präparate doch länger verordnet oder sie besorgen sich die Mittel auf eigene Kosten über ein Privat-Rezept. Hoffmann und seine MitarbeiterInnen zitieren eine Arbeit von Dr. Rüdiger Holzbach, wonach 2,8 Prozent der PatientInnen ein sehr problematisches Einnahme-Verhalten zeigen und 17,5 Prozent ein problematisches. Bei älteren Menschen liegt diese Quote sogar bei über 20 Prozent. Die Ergebnisse der Studie alarmieren deshalb besonders, weil hierzulande jährlich rund zwei Millionen Packungen von NOCTAMID & Co. über die Ladentheken der Apotheken gehen. Hoffmann und seinem Team bleibt da nur, einmal mehr zu warnen: „Trotz initial guter Wirksamkeit sollte die Indikation streng und zeitlich befristet sein. Wenn ein kurzer Therapie-Zeitraum nicht möglich ist, sollte der Patient frühzeitig zu einem Facharzt überwiesen und gegebenenfalls das Suchthilfe-System kontaktiert werden.“
Ökotest: SUPRADYN ungenügend
Multivitamin-Präparate wie BAYERs SUPRADYN ENERGY helfen nicht nur nicht, sie können der Gesundheit sogar schaden. So erhöhen SUPRADYN & Co. das Sterblichkeitsrisiko von älteren Frauen um 2,4 Prozent, wie eine im Fachmagazin Archives of Internal Medicine veröffentlichte Studie herausgefunden hat. „Bestenfalls nutzlos“ überschrieb das Magazin Ökotest deshalb seinen Prüfbericht. „Kein Produkt ist eine Empfehlung wert“, resümierte die Zeitschrift und vergab als Bestnote ein „befriedigend“. Das vom Leverkusener Multi hergestellte SUPRADYN bekam diese nicht, sondern nur ein „ungenügend“. Die Brausetabletten enthielten nämlich deutlich mehr Anteile von Vitamin A, Niacin, Zink und anderen Inhaltsstoffen, als das „Bundesinstitut für Risikobewertung“ (BfR) in seinen Höchstmengen-Empfehlungen für noch angemessen erachtet. „Den Vogel schießen die SUPRADYN ENERGY Brausetabletten mit Orangen-Geschmack mit zwölf Überschreitungen ab“, hält die Publikation fest. Damit nicht genug, tummeln sich in SUPRADYN auch noch Spurenelemente wie Eisen, Kupfer und Mangan, die nach Ansicht des BfR in Nahrungsergänzungsmitteln nichts zu suchen haben sollten.
Ökotest: BEPANTHOL ungenügend
Die Zeitschrift Ökotest stellte in ihrem Ratgeber „Kosmetik und Wellness“ Lippenpflege-Stifte mit UV-Schutz auf den Prüfstand. BAYERs BEPANTHOL LIPSTICK SPF 30 schnitt dabei schlecht ab und bekam die Note „ungenügend“. Er enthielt nämlich Lichtschutz-Filter, die hormon-ähnlich wirken und deshalb die Entwicklung des Gehirns, Stoffwechselprozesse und die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen sowie Diabetes und Herz/Kreislauf-Erkrankungen befördern können. Und zu allem Übel befanden sich mit Ethylhexyl Methooxycinnamate und Benzophenone-3 auch noch solche Stoffe in dem Produkt, die als besonders gesundheitsgefährdend gelten.
ASPIRIN: schneller und gefährlicher?
BAYERs „Tausendsassa“ ASPIRIN ist in Apotheken rezeptfrei erhältlich, aber dennoch alles andere als harmlos (siehe auch AKTION & KRITIK). Der Hamburger Mediziner Dr. Friedrich Hagenmüller von der Hamburger Asklepios-Klinik etwa schätzt die Zahl der Todesopfer durch die Nebenwirkung „Magenbluten“ allein in der Bundesrepublik auf jährlich 1.000 bis 5.000. Im letzten Jahr hat der Leverkusener Multi nun eine ASPIRIN-Formulierung auf den Markt gebracht, die schneller wirkt. „Mikronisierung“ lautet das Zauberwort: Der Pharma-Riese hat die Partikel-Größe des Wirkstoffes Acetylsalicylsäure um 90 Prozent verkleinert, weshalb ihn der Organismus flinker aufnehmen kann. Das birgt allerdings auch die Gefahr neuer Gesundheitsschädigungen. „Durch die Mikronisierung erzielt die neue ASPIRIN-Tablette eine dreimal so hohe Wirkstoff-Konzentration im Blut des Menschen als die bisherige. Die Wirkung dieses Effektes hätte man unbedingt in einer gesonderten Sicherheitsuntersuchung überprüfen müssen“, kritisiert Fritz Sörgel, der Leiter des Nürnberger „Institutes für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung“.
ASPIRIN: Weniger Infarkte, mehr Blutungen
Eine Langzeit-Untersuchung hat überprüft, ob niedrig dosiertes ASPIRIN vorbeugend gegen Herz-Infarkte und Krebs-Arten wirkt, die den Verdauungstrakt befallen. Die über 15 Jahre gehende Studie mit rund 28.000 Frauen hat zwar einen prophylaktischen Effekt festgestellt, aber bei den ProbandInnen als Begleiterscheinung auch häufig Blutungen registrieren müssen. Darum schätzten die WissenschaftlerInnen das Nutzen/Risiko-Verhältnis negativ ein und rieten von einer dauerhaften ASPIRIN-Einnahme ab.
Kontrazeptiva verursachen Hirntumore
Die Einnahme von Verhütungsmitteln steigert die Wahrscheinlichkeit, an einem Gehirntumor zu erkranken. Das ergab eine Studie der Universitätsklinik von Odense, welche David Gaist und seine MitarbeiterInnen durchgeführt haben. Das Risiko, eine solche Krankheit zu erleiden, liegt bei Frauen, welche Kontrazeptiva einnehmen, um das Anderthalb- bis Vierfache höher als bei denjenigen, welche auf die Mittel verzichten. Der Gefährdungsgrad hängt dabei davon ab, welche Hormone in den Pillen wirken und über welchen Zeitraum hinweg die Präparate genutzt wurden. Die größte Gefahr geht von Gestagenen aus, zu denen BAYERs umstrittener YASMIN-Wirkstoff Drospirenon gehört (Ticker berichtete mehrfach) und die allergrößte dabei von dem Gestagen Progesteron, das der Leverkusener Multi bei seiner Verhütungsspirale MIRENA einsetzt.
Neue Gesundheitsapps
Der Leverkusener Multi will in den lukrativen Markt mit Gesundheitsapps einsteigen. Auf seiner Internet-Plattform „Grants4Targets“ hat der Global Player deshalb Startup-Unternehmen angeworben, um für ihn spezielle Anwendungen zu programmieren. So hat PHARMAASSISTANT eine App entwickelt, die mit einer Pillen-Dose verbunden ist und die PatientInnen an die Medikamenten-Einnahme erinnert. QOMPIUM entwickelte eine Software, welche die Herz-Frequenz misst und bei Auffälligkeiten anschlägt, während CORTRIUM einen Sensor ersonnen hat, der Funktionen eines EKGs übernehmen kann. Außerdem noch im Angebot: Ein Gerät, das aus der Atemluft Daten über den Kalorien-Verbrauch gewinnt, und eine Apparatur, die für Apotheken gläserne PatientInnen schafft bzw. „die Apotheker mit Patienten-Informationen unterstützt“, wie die Berliner Morgenpost es ausdrückte.
PESTIZIDE & HAUSHALTSGIFTE
Chlorpyrifos auf dem Prüfstand
Die US-amerikanische Umweltbehörde EPA hat die von dem Pestizid-Wirkstoff Chlorpyrifos – enthalten unter anderem in den BAYER-Produkten BLATTANEX, PROFICID und RIDDER – ausgehenden Gesundheitsgefahren neu untersucht. Dabei stellte sie ein erhöhtes Gefährdungspotenzial für LandarbeiterInnen fest, die mit dem Stoff umgehen. Wenn LandwirtInnen das Ackergift in großen Mengen nutzen, besteht zudem das Risiko einer Wasser-Verunreinigung, warnen die ExpertInnen. Darum prüft die Behörde derzeit, ob die Auflagen für den Gebrauch der Agro-Chemikalie noch ausreichen. Die EPA hat in der Vergangenheit bereits mehrmals strengere Regularien erlassen. Bereits im Jahr 2000 verbot sie die Verwendung von Chlorpyrifos in Haus und Garten. Zwei Jahre später untersagte die Environmental Protection Agency das Ausbringen auf Tomaten-Kulturen und schränkte den Einsatz auf Apfel-, Zitrus- und Nussplantagen ein. Und im Jahr 2012 schließlich machte sie die Einrichtung von Pufferzonen rund um Flächen zur Pflicht, die mit Chlorpyrifos traktiert wurden, und erließ Regeln für einen sparsameren Umgang mit BLATTANEX & Co.
Genehmigung für DIFLEXX
Die US-Behörden haben BAYERs neuem Herbizid DIFLEXX eine Zulassung erteilt. Als Wirkstoff enthält das Mittel Dicamba. Nach einer Studie des US-amerikanischen „National Cancer Institutes“ kann es Lymph-Krebs auslösen. FarmerInnen, die der Substanz ausgesetzt waren, trugen der Untersuchung zufolge ein doppelt so hohes Risiko, an dem Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken wie ProbandInnen der Vergleichsgruppe. Zusätzlich kommt in DIFLEXX noch ein „CSI Safener“ zum Einsatz, eine Substanz, welche die negativen Effekte des Pestizids auf die damit bespritzten Pflanzen abmildern soll.
Baumärkte ohne Glyphosat
Der Pestizid-Wirkstoff Glyphosat, der hauptsächlich in Kombination mit MONSANTOs Gen-Pflanzen zum Einsatz kommt, aber auch in BAYER-Mitteln wie GLYFOS, PERMACLEAN, USTINEX G, KEEPER und SUPER STRENGTH GLYPHOSATE enthalten ist, gilt als gesundheitsgefährdend. So hat eine Krebsforschungseinrichtung der Weltgesundheitsorganisation die Substanz im März 2015 als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft. Zur Zeit berät die Europäische Union über eine Verlängerung der Zulassung für die Agro-Chemikalie. Einige Verkaufsstellen wie die TOOM-Baumärkte und die schweizer Supermarktketten COOP und MIGROS wollten die EU-Entscheidung indes nicht mehr abwarten: Sie entfernten glyphosat-haltige Mittel vorsorglich aus ihren Regalen.
Glyphosat in der Muttermilch
Eine von den Grünen in Auftrag gegebene Untersuchung der Toxikologin Irene Witte hat Spuren des umstrittenen Pestizids Glyphosat (s. o.) in der Muttermilch nachgewiesen. Die Rückstände lagen dabei über den zulässigen Grenzwerten für Trinkwasser. Angesichts des besorgniserregenden Studien-Ergebnisses forderte der Grünen-Obmann für Ernährung und Landwirtschaft, Harald Ebner: „Jetzt muss wirklich Schluss sein mit der Glyphosat-Verharmlosung.“ Die Partei drängte die Bundesregierung, das Mittel solange aus dem Verkehr zu ziehen, bis Klarheit über seine möglicherweise krebserregende Wirkung besteht. Die „Arbeitsgemeinschaft Glyphosat“, der BAYER nicht angehört, bezeichnete den Vergleich mit den Trinkwasser-Höchstgrenzen indes als irreführend und wiegelte ab: „Muttermilch ist ein sensibles und wichtiges Nahrungsmittel. Aber die darin festgestellten Mengen an Glyphosat sollten nicht zu falschen Schlüssen führen. Nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen geben sie keinen Anlass zur Sorge.“
Hormonell wirksame Haushaltsgifte
Viele Biozide, also für den Haus- und Gartenbereich bestimmte Pestizide, enthalten Wirkstoffe, die in ihrem chemischen Aufbau Hormonen ähneln. Vom menschlichen Körper aufgenommen, können diese Fehlsteuerungen im Organismus auslösen und zu Schädigungen des Nervensystems, Übergewicht, Unfruchtbarkeit, Diabetes sowie Herz- und Lebererkrankungen führen. Auch in BAYER-Produkten finden sich solche Substanzen. So tummelt sich in BAYER GARTEN UNGEZIEFER & AMEISEN SPEZIAL SPRAY Deltamethrin, in BAYER GARTEN FLIEGENSPRAY Tetramethrin und in BAYER GARTEN SCHÄDLINGSFREI das obendrein bienenschädliche Thiacloprid. Eigentlich verbietet es das EU-Recht, solche Stoffe in den Handel zu bringen, aber in Brüssel herrscht noch Uneinigkeit darüber, welche Chemikalien wirklich unter das Hormon-Verdikt fallen. „Während die EU-Kommission infolge des massiven Lobby-Drucks durch die Industrie die notwendige Festsetzung solcher Kriterien weiter verzögert, erhalten immer mehr Biozide, die im Verdacht stehen, hormonell wirksam zu sein, eine Genehmigung“, kritisiert deshalb das PESTIZID AKTIONS-NETZWERK (PAN). Und Schweden hat wegen der Hinhalte-Politik bereits eine Klage gegen die Europäische Kommission angestrengt.
PFLANZEN & SAATEN
Neue Zuckerrübe ab 2018
BAYER hat zusammen mit KWS eine Zuckerrüben-Art entwickelt, deren Erbgut eine natürliche und durch Züchtung verstärkte Enzym-Veränderung aufweist. Auf diese Weise übersteht die Labor-Frucht eine Behandlung mit solchen Anti-Unkrautmitteln, welche die Acetolactat-Synthese stören, unbeschadet. Allerdings überstehen auch immer mehr Wildpflanzen die Behandlung mit diesen so genannten ALS-Hemmern unbeschadet. Deshalb könnte die neue Rübe, wenn sie wie geplant 2018 gemeinsam mit dem auf die Pflanze abgestimmten Herbizid CONVISO auf den Markt kommt, schon bald ziemlich alt aussehen.
EPA: Brokkoli-Patent rechtens
Nicht nur auf gen-manipulierte Ackerfrüchte, sondern auch auf mittels konventioneller Verfahren gezüchtete Sorten erheben die Konzerne Patentansprüche. So hält der Leverkusener Multi unter anderem Schutzrechte auf eine herbizid-resistente Mais-Art, auf Pflanzen mit einer erhöhten Stress-Resistenz und auf ein Verfahren zur Erhöhung des Zucker-Gehaltes von Zuckerrohr. Ursprünglich hatte das Straßburger Patent-Übereinkommen von 1963 genauso wie das 1977 beschlossene Europäische Patent-Übereinkommen Eigentumsansprüche auf „im Wesentlichen biologische Verfahren“ ausgeschlossen. Aber die Agro-Lobby erreichte Aufweichungen, um die sich allerdings heftige Kontroversen entzündeten. Mediale Aufmerksamkeit erlangte dabei vor allem die Auseinandersetzung um das Brokkoli-Patent, welches das Europäische Patentamt (EPA) erteilte. Dieses fochten gleich zwei Firmen an. Im März 2015 verhandelte die Große Beschwerdekammer der EPA darüber – und wies den Einspruch ab. Schutzrechte auf im Wesentlichen biologische Verfahren gestatte das Europäische Patent-Übereinkommen zwar nicht, das schlösse jedoch die Gewährung von Patenten auf Pflanzen, die durch solche Techniken entständen, nicht aus, sagte EPA-Sprecher Rainer Osterwalder zur Begründung. „Das ist nirgendwo vorgesehen im Patentrecht“, so Osterwalder. Die Entscheidung löste große Empörung aus. „Die EPA hat den Weg für Konzerne wie MONSANTO und SYNGENTA geebnet, die Kontrolle über die Grundlagen unserer Ernährung zu übernehmen. Wir fordern die europäischen Regierungen auf, jetzt politisch Druck auf das Europäische Patentamt auszuüben, um diese Praxis sofort zu stoppen“, sagte etwa Christoph Then vom Bündnis KEINE PATENTE AUF SAATGUT!.
BAYER kauft SEEDWORKS
Den Pestizid-Markt haben die Agro-Multis BAYER, MONSANTO & Co. schon mehr oder weniger unter sich aufgeteilt. Wachsen können die „Big Six“ nur noch mittels milliarden-schwerer Übernahmen (siehe auch ÖKONOMIE & PROFIT). Auf dem Saatgut-Markt sieht es ähnlich aus. Dort bieten sich jedoch in Asien und Südamerika noch Kauf-Gelegenheiten, die BAYER auch emsig nutzt. So erwarb der Konzern Anfang Juni 2015 das indische Saatgut-Unternehmen SEEDWORKS, das hybride, also nicht zur Wiederaussaat bestimmte Tomaten-, Chili-, Kürbis- und Okra-Saaten im Angebot hat. In Südamerika hatte der Global Player zuvor bereits die Saatgut-Firmen GRANAR, WEHRTEC, SEMILLAS und SOYTECH übernommen und Pflanzenzucht-Technologie von AGROPASTORIL MELHORAMENTO und CVR erworben.
WASSER, BODEN & LUFT
Höherer Kohlendioxid-Ausstoß
Der Strom-Verbrauch BAYERs stieg 2014 gegenüber dem Vorjahr um 5,5 Prozent auf 85.317 Terajoule, was rund 23,7 Millionen Megawatt-Stunden entspricht. Der Konzern macht dafür ein höheres Produktionsvolumen im Allgemeinen und eine gesteigerte Aktivität am holländischen Kunststoff-Standort Maasvlakte im Besonderen verantwortlich. Bei der direkt vom Leverkusener Multi erzeugten Energie wuchs der Erdgas-Anteil von 29.796 auf 31.580 Terajoule, während der Kohle-Anteil von 15.094 auf 12.611 Terajoule sank. Der Beitrag von Quellen wie Abfall und Wasserdampf zur Strom-Versorgung reduzierte sich ebenfalls. Und das Kontingent, das regenerative Energien dazu beisteuerten, war so niedrig, dass der Leverkusener Multi es erstmals gar nicht mehr zu nennen wagte. Auf der Hauptversammlung von der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN darauf angesprochen, rückte BAYER-Chef Marijn Dekkers mit der Angabe „weniger als ein Prozent“ heraus. Den zugekauften Energie-Mix schlüsselt der Global Player nicht weiter auf; er führt in seinem Geschäftsbericht nur einen stärkeren Dampf-Anteil auf. Als Folge des expandierenden Bedarfes an Elektrizität schwoll der Kohlendioxid-Ausstoß des Unternehmens erneut an. Er betrug 8,72 Millionen Tonnen.
CO2 lässt Meere versauern
Der Leverkusener Multi schädigt die Meere nicht nur durch seine Plastik-Hinterlassenschaften, sondern auch durch das von ihm emittierte Kohlendioxid – 8,72 Millionen Tonnen betrug der Ausstoß im Jahr 2014. Die Ozeane nehmen nämlich rund ein Drittel des produzierten CO2 auf, was nicht ohne Auswirkungen bleibt. Der Säuregehalt des Wassers steigt, und infolgedessen verändern sich die Existenz-Bedingungen für die aquatischen Lebewesen. So bildet sich durch den höheren pH-Wert des Wassers weniger Kalziumkarbonat, auf das Miesmuscheln und Austern zum Aufbau ihrer Schalen, aber auch andere Meeresbewohner wie Flügelschnecken, Seesterne, Seeigel und Krebse angewiesen sind. Und wenn ihre Populationen zurückgehen, hat das wiederum Konsequenzen für Fische, Seevögel oder Wale, denen die Tiere als Nahrungsgrundlage dienen. „Die Ozean-Versauerung bedroht die Biodiversität der Meere“, warnt der Ozeanograf Ulf Riebesell von Geomar, dem Kieler Helmholtz-Zentrum für Ozean-Forschung, deshalb.
BAYER schädigt Ozonschicht
Der Leverkusener Multi stieß 2014 in einem Volumen von 14,8 Tonnen Substanzen aus, welche die Ozonschicht schädigen. 2013 beliefen sich die Emissionen auf 15,7 Tonnen. Seit Jahren schon macht BAYER für diese Emissionen hauptsächlich das Pestizid-Werk im indischen Vapi verantwortlich, und ebenfalls seit Jahren schon berichtet der Konzern von Fortschritten bei den Sanierungsmaßnahmen vor Ort.
2.120 Tonnen flüchtiger Substanzen
Der Ausstoß flüchtiger organischer Stoffe, der Volatile Organic Compounds (VOC), in die Atmosphäre reduzierte sich bei BAYER 2014 gegenüber dem Vorjahr leicht von 2.270 auf 2.120 Tonnen. Als Hauptquelle dieser Emissionen gibt der Leverkusener Multi wie auch bei den ozonschicht-schädigenden Substanzen das Pestizid-Werk in Vapi an.
Kaum weniger Stickstoff & Co.
Der Ausstoß von Kohlenmonoxid, Stickstoffoxiden und Schwefeloxiden hat sich bei BAYER 2014 gegenüber dem Vorjahr kaum verändert. Die Emissionen von Stickstoffoxiden gingen von 2.500 Kilogramm auf 2.400 Kilogramm zurück und die von Schwefeloxiden von 1.300 auf 1.200 Kilogramm. An Kohlenmonoxid gelangten wie 2013 900 Kilogramm in die Luft, und Staub wirbelte der Konzern auch genauso viel auf wie in den zwölf Monaten zuvor: 200 Kilogramm.
BAYERs großer Durst
Der Leverkusener Multi hat einen enormen Wasser-Durst. Auf 350 Millionen Kubikmeter bezifferte er seinen Verbrauch im Jahr 2014, in den zwölf Monaten zuvor waren es sogar 361 Millionen gewesen. Drei Viertel davon gehen als Kühlwasser drauf, ein Viertel verwendet der Konzern in der Produktion. Und erschwerend kommt hinzu, dass die Wiederaufbereitungsquote verschwindend gering ist, der Anteil von recyceltem Wasser an den 350 Millionen Kubikmetern betrug gerade einmal vier Prozent.
BAYER Abwasser-Frachten
Obwohl BAYERs Wasserverbrauch etwas zurückging (s. o.), kam hinten mehr heraus: Die Abwasser-Menge stieg um drei auf 66 Millionen Kubikmeter. Der Stickstoff-Eintrag erhöhte sich von 690 auf 760 Tonnen. Neben einer größeren Auslastung seiner Werke macht der Leverkusener Multi dafür eine Anlagen-Störung am Standort Baytown verantwortlich, die auch Reinigungsvorrichtungen in Mitleidenschaft gezogen hatte. Die Phosphor-Einleitungen gingen geringfügig von 110 auf 100 Tonnen zurück. Die von Schwermetallen – die der Konzern nicht mehr einzeln aufführt, um besonders gefährliche Stoffe wie Quecksilber nicht nennen zu müssen – reduzierten sich von 9,1 auf 6,3 Tonnen. Die Frachten von anorganischen Salzen in die Flüsse verringerten sich ebenfalls, sie sanken von 946.000 auf 845.000 Tonnen.
PFC beeinflusst Fruchtbarkeit
Wieviel Perfluorierte Kohlenwasserstoff-Verbindungen (PFC) der Leverkusener Multi in die Flüsse einleitet, weist der neueste Geschäftsbericht nicht aus. Nach Recherchen des BUND gelangt per annum rund eine Tonne PFC made by BAYER in den Rhein; lange Zeit belief sich die Zahl sogar auf sechs Tonnen. Dabei wäre eine genaue Dokumentation äußerst wichtig, denn bei den Stoffen handelt es sich um hochgiftige, schwer abbaubare Substanzen. So haben die Chemikalien nach einer kanadischen, in der Fachzeitschrift Human Reproduction veröffentlichten Studie Einfluss auf die Fruchtbarkeit. Bei Frauen mit einer hohen PFC-Konzentration im Blut trat die Schwangerschaft später ein und häufiger als bei ProbantInnen mit niedrigeren Werten blieb sie den WissenschaftlerInnen zufolge auch ganz aus.
Mehr gefährlicher Abfall
Der Leverkusener Multi hat im letzten Jahr 3.000 Tonnen weniger Abfall fabriziert als 2013: 896.000 Tonnen. Der Anteil gefährlichen Abfalls daran stieg jedoch. Er erhöhte sich von 467.000 auf 487.000 Tonnen. Als Grund gab der Konzern ein größeres Produktionsvolumen an den Standorten Dormagen, Frankfurt und Leverkusen an.
Bergkamen: Dauerbaustelle Klärwerk
Bereits seit Jahren klagen die AnwohnerInnen des Bergkamener BAYER-Werkes über Geruchsbelästigungen, die von der Kläranlage ausgehen. Die 2008 eingeleitete Sanierung hat bislang keine Abhilfe schaffen können. Aus immer neuen Quellen dringt Mief nach außen. Ende Juli 2011 sorgte eine defekte Pumpe für schlechte Luft. Wenige Tage später flossen unvorhergesehen saure und basische Abwässer zusammen, was übel aufstieß (Ticker 4/11). Einem erneuten Angriff auf die Riech-Organe begegnete der Konzern dann mit einer Entfernung des Klärschlamms und der Ablagerungen in den Auffangbecken. Ende Juli 2012 schließlich traten an einigen Leitungen Risse auf, durch die Abwässer sickerten und Duftmarken setzten. Deshalb entschloss sich der Global Player erneut zu Reparatur-Arbeiten. Aber auch diese brachten keine Abhilfe. Im Juni 2013 beschwerten sich die BergkamerInnen erneut und klagten über Übelkeit und Kopfschmerzen. Knapp anderthalb Jahre später fiel dann die letzte Stufe der Abwasser-Reinigung aus. Der Pharma-Riese musste das mit Mikroorganismen versetzte Wasser in einem offenen Becken zwischenspeichern, was einen erheblichen Gestank verursachte. Im Mai 2015 war die Zeit dann mal wieder reif für neue Bau-Maßnahmen. Der Puffer-Behälter erhielt eine Generalüberholung. Zudem tauschte das Unternehmen die Rohrleitungen aus, in denen sich so viele Ablagerungen gebildet hatten, dass die Pumpen nur noch mit einem Viertel ihrer Kraft arbeiten konnten.
Dauersanierungsfall Bitterfeld
Als Chemie-Standort hat Bitterfeld eine bis ins Jahr 1893 zurückreichende Geschichte, an welcher der Leverkusener Multi bis dato beteiligt ist. 1921 kaufte er sich in die AGFA-Fabriken ein, die dort eine Niederlassung hatten. Nach 1945 musste BAYER diesen Besitz abschreiben, aber die Wende brachte den Konzern wieder nach Bitterfeld, wo er heute ein Pharma-Werk betreibt. Und die lange Chemie-Geschichte hat an dem Ort seine Spuren hinterlassen, vor allem im Grundwasser. Es ist ein Dauersanierungsfall geworden. Eine besondere Gefahr droht zu den Zeiten, an denen die Elbe Hochwasser hat. Dann nämlich kommen auch die Schadstoff-Lasten nach oben. Darum unternimmt die Stadt viel, um die Gebäude vor den Chemie-Fluten zu schützen. Zudem hat sie ein komplexes Brunnen- und Drainage-System installiert, das monatlich bis zu 175.000 Kubikmeter Grundwasser reinigen kann. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Nach der Meinung von ExpertInnen müssen sie Arbeiten noch weit über 100 Jahre andauern.
CO & CO.
Erdbeben in Erkrath
Mitte Januar 2015 ereignete sich in Erkrath ein kleines Erdbeben. Das warf sofort die Frage nach der Sicherheit von BAYERs Kohlenmonoxid-Pipeline auf, die auf ihrem Weg von Dormagen nach Krefeld auch Erkrather Gebiet passiert. „BAYER hat ja immer gesagt, dass es im Kreis Mettmann keine Erdbeben gibt“, erinnert Wolfgang Cüppers von der Initiative BAU-STOPP DER BAYER-PIPELINE an die Verharmlosungsstrategie des Konzerns. Bereits im Mai 2011 hatte das Düsseldorfer Verwaltungsgericht die Genehmigung für das Röhrenwerk wegen mangelnder Erdbeben-Sicherheit aufgehoben und Nachbesserungen verlangt. Inzwischen will der Leverkusener Multi Bedenken zerstreut haben, die Leitung könnte bei Erd-Erschütterungen zerbersten, aber Cüppers überzeugen die Argumente nicht. Die Erdbeben-Sicherheit sei „letztlich nie bewiesen worden“, so der Aktivist.
Neue CO-Pipeline unter dem Rhein
Nicht nur die zwischen den BAYER-Werken Dormagen und Krefeld verlegte Kohlenmonoxid-Pipeline wirft Sicherheitsfragen auf. Auch die in den 1960er Jahren zwischen Dormagen und Leverkusen gebaute Verbindung, die BAYER seit 2001 für den Transport von CO nutzt, ohne von der Bezirksregierung dafür mit einem neuen Genehmigungsverfahren oder schärferen Auflagen behelligt worden zu sein, hat gravierende Mängel. Besonders an dem Rhein-Düker, mittels dessen die Pipeline den Fluss unterquert, zeigen sich Korrosionsschäden, also Abnutzungserscheinungen an den Bau-Bestandteilen. So treten dort nach einem Bericht des TÜV Rheinland „gravierende externe Materialverluste“ auf, weswegen die Konstruktion „nicht dem Stand der Technik“ entspreche. Der Leverkusener Multi bezeichnet diese zwar als sicher, projektiert aber dennoch eine neue. Den Genehmigungsantrag für den Rohrleitungstunnel reichte er Ende 2014 ein. Mit einer Inbetriebnahme rechnet der Konzern für den Herbst 2016.
UNFÄLLE & KATASTROPHEN
2014: Fünf tödliche Arbeitsunfälle
Im Geschäftsjahr 2014 ereigneten sich bei BAYER fünf tödliche Arbeitsunfälle. Am brasilianischen Standort Belford Roxo wurde ein Wachmann erschossen, ein Belegschaftsangehöriger kam bei Rangier-Arbeiten ums Leben, einer weiterer bei einem Brand und zwei Beschäftigte starben bei Verkehrsunfällen.
Elf anerkannte Berufskrankheiten
Für das Geschäftsjahr 2014 vermeldet der Leverkusener Multi bei seinen Beschäftigten elf arbeitsbedingte Erkrankungen. Dabei handelt es sich allerdings nur um solche Schädigungen, welche die Berufsgenossenschaften auch als Berufskrankheiten anerkannt haben – und das sind nicht viele. 80 Prozent der Anträge lehnen die Einrichtungen, in deren Beschluss-Gremien die Unternehmen über die Hälfte der Stimmen haben, ab. Zweifel ob dieser Zahl sind zudem angebracht, da die Gesundheitsstörungen, die Belegschaftsangehörige an ihrem Arbeitsplatz erlitten hatten, bei BAYER früher ganz andere Größenordnungen erreichten. Im Jahr 2000, als der Konzern noch ausführlicher über Berufskrankheiten berichtete, führte er noch 130 Fälle auf und vermerkte dazu: „Als Krankheitsauslöser waren bei uns vor allem Expositionen gegen Asbest und Lärm relevant“.
PLASTE & ELASTE
Lackhärter aus Biomasse
Mit Pentamethylen-Diisocyanat (PDI) hat BAYER einen Kunststoff entwickelt, der zum Teil aus Biomasse besteht. Als Ausgangsstoff diente Maisstärke (siehe auch Ticker 2/15). Das PDI kommt in dem Lackhärter DESMODUR ECO N 7300 zum Einsatz, den der Leverkusener Multi bald vermarkten will. Bedenken, die Nutzung der Äcker als Rohstoff-Reservoir für die Plaste-Fertigung könnte den Anbau von Pflanzen für die Lebensmittel-Herstellung beeinträchtigen, weist der Konzern zurück. Die Biomasse-Gewinnung erfolge „ohne direkte Konkurrenz zur Nahrungsmittel-Produktion“, beteuert die Teil-Gesellschaft. Seinen KundInnen empfiehlt das Unternehmen jetzt schon einmal, auf „bio“ als Werbe-Effekt zu setzen, obwohl in dem DESMODUR-Kohlenstoff noch zu 30 Prozent Petrochemie steckt: „Anwender und Markenartikler in verschiedenen Industriebranchen können sich mit dem höheren Bio-Anteil als Pioniere für nachhaltige Materialien positionieren.“ In Zukunft will der Global Player das Segment mit Biomasse-Kunststoffen noch ausbauen. So kündigte er die Herstellung von Produkten an, deren Basis Cellulose oder Bioabfälle bilden.
STANDORTE & PRODUKTION
Mehr Pestizide aus Dormagen
Der Leverkusener Multi reagiert auf die gestiegene Nachfrage nach Antipilzmitteln und erweitert am Standort Dormagen die Produktionskapazitäten für den Wirkstoff Prothioconazole. Zudem baut der Konzern die Flupyradifuron-Fertigung aus. Diese Substanz ist der Inhaltsstoff von BAYERs neuem Insektizid SIVANTO. Der Agro-Riese vermarktet es explizit als bienenfreundliche Alternative zu seinen umstrittenen und EU-weit einstweilen mit einem Verkaufsbann belegten Neonicotinoiden GAUCHO und PONCHO. Allerdings bestehen Zweifel daran, ob SIVANTO wirklich so „bienenfreundlich“ ist, wie der Leverkusener Multi behauptet. Flupyradifu