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[Duogynon Mord] STICHWORT BAYER 04/2016

CBG Redaktion

Recht & Unbillig

Hormon-Präparat mit tödlichen Nebenwirkungen

Anklage: Mord

Contagan, Teil 2 – so bezeichnen Betroffene den DUOGYNON-Skandal. Aber während der Pharma-GAU „Contagan“ zu trauriger Berühmtheit gelangte, erhielt der Fall „DUOGYNON“ nie eine vergleichbare Aufmerksamkeit. Dabei hat der hormonelle Schwangerschaftstest der heute zu BAYER gehörenden Firma SCHERING ab den 1950er Jahren zu tausenden Totgeburten geführt und unzählige Gesundheitsstörungen hervorgerufen. Die Verantwortlichen wurden dafür nie zur Rechenschaft gezogen, aber jetzt versucht es Gisela Clerc noch einmal: Sie hat eine Strafanzeige wegen Mordes erstattet.

Von Jan Pehrke

„Meine Tochter, die ich hier vertrete, ist zu schwach, um über ihr Schicksal zu reden. Sie bat mich, es an ihrer Stelle zu tun“, mit diesen Worten wandte sich Gisela Clerc 2012 in der BAYER-Hauptversammlung an die AktionärInnen. Anschließend berichtete sie, was ihr nach der Einnahme des Schwangerschaftstests DUOGYNON widerfuhr. „Kurze Zeit später bekam ich einen Blutsturz, der zwei Tage anhielt und starke Unterleibsschmerzen. Trotzdem war ich schwanger und bekam 1969 eine schwer missgebildete Tochter. Sie hatte am und im Herzen: ductus botalli, Aorten-Stenose an der Herzscheidewand und zwei defekte Herzklappen.“ Am Schluss ihrer Rede forderte die Rentnerin den Leverkusener Multi auf, die Konzern-Unterlagen zu dem Mittel freizugeben. Gisela Clerc wollte in Erfahrung bringen, wie viel die ManagerInnen damals selber über die Risiken und Nebenwirkungen des Präparates wussten. Aber der Pharma-Riese weigerte sich, Einsicht in die Dokumente des Unternehmens SCHERING zu gewähren, das er 2006 erworben hatte. Der DUOGYNON-Geschädigte Andre Sommer reichte deshalb eine Auskunftsklage ein. Diese scheiterte jedoch ebenso wie ein Prozess um Entschädigungen. Die Ansprüche seien verjährt, entschieden die RichterInnen jeweils.

Gisela Clerc ist gerichtlich auf diesem Wege allerdings nicht zu stoppen. Sie hat nach dem Tod ihrer Tochter, die Anfang des Jahres im Alter von nur 47 Jahren an den DUOGYNON-Spätfolgen starb, nämlich eine Strafanzeige wegen eines Deliktes erstattet, für das der Gesetzgeber keine Verjährung vorgesehen hat. Mit nichts geringerem als Mord „durch Unterlassen in Verdeckungsabsicht in einer unbekannten Zahl von Fällen“ hat sich die Berliner Staatsanwaltschaft im Fall von DUOGYNON nun zu beschäftigen.

Die 74-Jährige kann sich dabei auf neues Beweis-Material stützen, denn Andre Sommer fand beim Stöbern im Berliner Landesarchiv alte SCHERING-Akten aus einem früheren Verfahren. Und diese zeigen eindeutig, wie gut der Konzern über die Risiken und Nebenwirkungen seines Medizin-Produktes informiert war. „Ein Zusammenhang zwischen den gefundenen Anomalien und der Substanz-Applikation kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden“, hielt ein Wissenschaftler beispielsweise nach desaströsen Tierversuchen fest. Ein anderer Forscher stufte DUOGYNON als „hochgradig embryo-toxisch“ ein, und ein Kollege vermochte sogar genaue Angaben über den Grad zu machen. Er meldete der Berliner Zentrale, „dass bei denen, die einen hormonellen Test gehabt hätten, ein relatives Risiko von 5:1 bestehe, ein missgebildetes Kind zu bekommen.“

Nach Meinung der Anwälte von Gisela Clerc hätten diese Befunde SCHERING veranlassen müssen, das Pharmazeutikum sofort vom Markt zu nehmen und nicht erst Anfang der 1980er Jahre. „Dies unterließen sie jedoch und nahmen den Tod der Kinder zumindest billigend in Kauf“, urteilen Detlev Stoffels und Jörg Heynemann.

Statt umgehend zu reagieren, suchte der Konzern nach Mitteln und Wegen, an dem Präparat festhalten zu können. Dafür traf er sich mit ExpertInnen und arbeitete Strategien für Schadensersatz-Prozesse aus. So plante SCHERING unter anderem, vor Gericht bei der Kausalitätsfrage anzusetzen und systematisch Zweifel an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Medikament und den unerwünschten Arznei-Effekten zu säen. Das Unternehmen erwog sogar, mit dem Rechtsanwalt einen BeraterInnen-Vertrag zu schließen, der die Firma Grünenthal in Sachen „Contergan“ vor Entschädigungszahlungen bewahrt hatte. Und es gelang dem Pillen-Produzenten Ende der 1970er Jahre dann auch wirklich, die juristische Auseinandersetzung mit der INTERESSENSGEMEINSCHAFT DUOGYNON-GESCHÄDIGTER zu gewinnen.

Vom damaligen Bundesgesundheitsamt (BGA) hatte die Aktien-Gesellschaft ebenfalls nichts zu befürchten. Sie hatte dort nämlich jemanden sitzen, der sich selbst als „Advokat der Firma SCHERING“ bezeichnete. Der Herr Professor schmuggelte entlastende Unterlagen in die Behörde und hielt den Konzern immer über die Vorgänge im BGA auf dem Laufenden. Und das gewährte dem Mittel dann auch Bestandsschutz. In England, wo er den Schwangerschaftstest unter dem Namen PRIMODOS in Umlauf brachte, hatte der Konzern auch beste Beziehungen zu den EntscheidungsträgerInnen. So traf der Pharma-Riese sich mit einem Mitarbeiter der englischen Gesundheitsbehörde zu einem netten Plausch auf den Bermudas, wo der Mann dem Berliner Unternehmen zusicherte, eine DUOGYNON-kritische Untersuchung zu vernichten. Zur Sicherheit aber eruierte SCHERING zusätzlich noch die politische Stimmung im Unterhaus und ließ PolitikerInnen-Dossiers anfertigen. Über einen Mandatsträger hieß es darin beispielsweise: „Ein führender linker Flügelspieler, unnachgiebig, sehr klug, ein gewaltiger Gegner, vollkommen unbestechlich“.

Auf diese Weise hielt der Multi das Medizin-Produkt in England bis 1978 und in Deutschland sogar bis 1981 auf dem Markt. Und nach Ansicht von BAYER könnte es sogar heute noch in den Apotheken stehen. Wie der Global Player zur Strafanzeige von Gisela Clerc erkärte, schließt er „DUOGYNON nach wie vor als Ursache für embryonale Missbildungen aus“.

Der mutige Schritt der Rentnerin ist der vorerst letzte Akt einer Auseinandersetzung, welche die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) mit angestoßen hat. Vor acht Jahren wurde sie auf die Aktivitäten von britischen Betroffenen aufmerksam und lud zwei von ihnen zur BAYER-Hauptversammlung ein. In ihren Reden konfrontierten Karl Murphy und Valerie Williams den Vorstand zum ersten Mal direkt mit dem Schicksal der DUOGYNON-Geschädigten. Das verschaffte dem Thema in Deutschland eine breitere Öffentlichkeit und ließ auch die bundesdeutschen LeidensgenossInnen von Murphy und Williams aufhorchen. Motiviert von den beiden EngländerInnen, begannen jene sich alsbald zu vernetzen, suchten die AktionärInnen-Treffen auf und planten gemeinsam weitere Schritte. Dabei gelang es sogar, die Musikerin Nina Hagen als Fürsprecherin zu gewinnen. „Ich bin entsetzt über die Ignoranz und Dreistigkeit der verantwortlichen Konzerne gegenüber den leidgeprüften DUOGYNON-Opfern und ihren Eltern. Ich hoffe sehr, dass die deutsche Gerichtsbarkeit gerecht urteilen wird und dass die Opfer endlich eine Entschuldigung und gerechte Entschädigung bekommen“, sagte sie 2010.

Nina Hagens Hoffnungen haben sich bisher nicht erfüllt, und ob sich das im Fall der Strafanzeige von Gisela Clerc ändern wird, steht auch dahin. Aber BAYER droht noch von anderer Seite Ungemach. In England beschäftigt sich zurzeit nämlich ein parlamentarischer Gesundheitsausschuss mit dem Schwangerschaftstest. Und auf den Faktor „Zeit“ kann der Leverkusener Multi dabei nicht setzen. Auf der Insel gelten nämlich andere Verjährungsfristen.