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Die Katastrophe von Beirut kostete über 220 Menschen das Leben, weitere 6.000 trugen zum Teil schwere Verletzungen davon, Hunderttausende wurden obdachlos. Die Großexplosion offenbarte wieder einmal, welche Gefahren der industrielle Umgang mit chemischen Stoffen birgt. Aber die VertreterInnen von BAYER & Co. wiegelten ab. Dabei genügt schon ein kurzer Blick auf die Störfall-Liste des Leverkusener Multis, um sie eines Besseren zu belehren.
Von Jan Pehrke
„Wir saßen in unserem Wohnzimmer, und plötzlich fielen uns die Wand und Glas auf den Kopf“, so beschreibt ein Beiruter die Folgen der Explosion, welche die Stadt am 4. August 2020 erschütterte. Viele BewohnerInnen überlebten das nicht. Die Detonation von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der Metropole riss über 220 Menschen in den Tod, fügte 6.000 zum Teil schwere Verletzungen zu und machte 300.000 zu Obdachlosen.
Das Unglück rückte wieder einmal die Gefahren der Chemie-Produktion in den Fokus. Rund 80 kleinere und größere Störfälle allein in Nordrhein-Westfalen binnen der letzten zehn Jahre zählte der WDR. Trotzdem gab der „Verband der Chemischen Industrie“ (VCI) Entwarnung. Hierzulande werde alles sorgfältig kontrolliert, so Hans-Jürgen Mittelstaedt vom nordrhein-westfälischen Landesverband der Lobby-Organisation zu den ReporterInnen der Aktuellen Stunde. „Wenn eine Anlage in Betrieb gegangen ist, dann gibt es eine regelmäßige behördliche Überwachung durch die Bezirksregierung (...) Je höher das Risiko-Potenzial durch Stoffe ist, desto regelmäßiger und auch schneller wird eine solche Überwachung durchgeführt“, tat Mittelstaedt kund. Marius Stelzmann von der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) vertrat in der Sendung naturgemäß eine ganz andere Meinung, hatte die Coordination sich doch 1978 nach einer Reihe von Beinahe-Katastrophen im Wuppertaler BAYER-Werk gegründet und ihrer seither geführten Unfall-Liste jedes Jahr neue Einträge hinzufügen müssen. „Die Kontroll-Mechanismen, die wir haben, sind den großen Mengen der gefährlichen Substanzen und dieser Form der Produktion nicht angemessen. Man könnte sich zum Beispiel auch fragen: Ist es – und das ist auch die Kritik, die wir haben – ist es richtig, dass so große Mengen von so hoch gefährlichen Chemikalien in der Nähe von Wohngebieten eingelagert werden?“, gab der CBG-Geschäftsführer zu bedenken.
Die CBG hatte sich jahrzehntelang bemüht, von BAYER genauere Angaben über das Ausmaß der an den Standorten vorgehaltenen risikoreichen Stoffe zu erhalten. Der Konzern verwies jedoch auf das Betriebsgeheimnis und hüllte sich in Schweigen. 2011 und 2012 stellte die Coordination dann offizielle Anfragen nach dem Umweltinformationsgesetz und bekam so die gewünschten Auskünfte. Und was sie da in Erfahrung bringen konnte, gab Grund zur Beunruhigung. So lagerte am Stammsitz Leverkusen allein die inzwischen abgestoßene Kunststoff-Sparte 1.600 Tonnen sehr giftiger, 9.200 Tonnen giftiger Stoffe und 3.400 Tonnen leicht entzündlicher Flüssigkeiten ein. Unter anderem befanden sich damals 42 Tonnen des Giftgases Phosgen in den Beständen.
Zum letzten großen Knall bei BAYER kam es im Jahr 2008. Am US-amerikanischen Standort Institute ging ein Rückstandsbehälter in die Luft und schlug in eine Anlage zur Herstellung des Pestizids Methomyl ein. Von „Schockwellen wie bei einem Erdbeben“ berichteten AugenzeugInnen damals. Zwei Beschäftigte starben durch die Detonation. Dabei hätte alles noch schlimmer kommen können, wenn nämlich der Kessel den Tank mit dem Ackergift Methylisocyanat (MIC) getroffen hätte. „Die Explosion in dem BAYER-Werk war besonders beunruhigend, weil ein mehrere Tonnen wiegender Rückstandsbehälter 15 Meter durch das Werk flog und praktisch alles auf seinem Weg zerstörte. Hätte dieses Geschoss den MIC-Tank getroffen, hätten die Konsequenzen das Desaster in Bhopal 1984 in den Schatten stellen können“, hieß es in dem Untersuchungsbericht des US-Kongresses zum Unglück. Weil die US-Aufsichtsbehörde CSB in Institute „schwerwiegende Sicherheitsmängel“ ausmachte, musste der Leverkusener Multi eine Strafe in Höhe von einer Million Dollar zahlen und zusagen, 4,6 Millionen in Vorsorge-Maßnahmen zu investieren.
Aber der Konzern hat auch so seine eigenen Erfahrungen mit dem in Beirut detonierten Ammoniumnitrat. Diese auch „Ammoniak-Salpeter“ oder „brennbarer Salpeter“ genannte Substanz gehört zu den „Dual Use“-Gütern. Sie kann sowohl als Basis zur Produktion von Düngemitteln als auch von Sprengstoff dienen. Und Anfang des 20. Jahrhunderts interessierten hierzulande vor allem die explosiven Eigenschaften. Die erste Marokko-Krise hatte damals die Gefahr einer See-Blockade durch England heraufbeschworen, was das Deutsche Reich von Salpeter-Zufuhren aus Chile abgeschnitten hätte. Darum fingen die Chemie-Firmen an, mit der synthetischen Herstellung des Stoffes zu experimentieren. BAYER begann 1906 mit entsprechenden Versuchen, stellte diese aber wieder ein, als die außenpolitische Lage sich wieder zu entspannen schien. Durchsetzen konnte sich schließlich das von dem Wissenschaftler Fritz Haber gemeinsam mit Carl Bosch von BASF entwickelte Verfahren, auf chemischem Weg Ammoniak herzustellen. Diesem brauchte dann nur noch Salpetersäure beigegeben werden, um Ammoniumnitrat zu erhalten. 1910 erhielten die beiden Männer dafür das Patent. Schon vier Jahre später sollte es eine große Bedeutung erlangen. Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte Großbritannien nämlich die Nordsee dichtgemacht und Deutschland damit den Weg zum sogenannten Chile-Salpeter verbaut. Da trat jedoch die heimische Chemie-Industrie auf den Plan. Haber und Bosch schlossen sich mit dem damaligen BAYER-Generaldirektor Carl Duisberg kurz und gaben der Obersten Heeresleitung gemeinsam das sogenannte Salpeter-Versprechen. Das Trio sicherte den Generälen zu, ausreichend Sprengstoff für die Pläne der Militärs zu liefern. Duisberg & Co. hatten damit nach eigenem Bekunden „den Krieg gerettet“ – und dem Staat so ganz nebenbei auch noch Abnahme-Garantien zu Festpreisen und Finanzspritzen zum Ausbau der Produktionskapazitäten abgerungen.
Die BASF machte sich sogleich daran, die Fabrik am Standort Oppau umzurüsten und in Leuna ein neues Werk zur Ammoniak-Synthese hochzuziehen, wofür das Unternehmen staatliche Subventionen in Höhe von 400 Millionen Reichsmark erhielt. BAYERs nach dem Haber/Bosch-Verfahren arbeitende Anlage nahm indessen im März 1915 ihren Betrieb auf. Das fertige Ammoniumnitrat kam dann unter anderem bei der Produktion von TNT zum Einsatz. Für die Produktion solcher Sprengstoffe baute das Unternehmen in Köln-Flittard eine eigene Fertigungsstätte auf, die einen beträchtlichen Ausstoß hatte. Allein an TNT braute sie pro Monat 250 Tonnen zusammen. Daneben spezialisierte sich der Konzern während des Krieges vor allem auf chemische Kampfstoffe.
Bei den mit Ammoniumnitrat in Zusammenhang stehenden chemischen Prozessen ereigneten sich immer wieder schwere Unfälle. 1897 brach in einem Salpetersäure-Lager am BAYER-Standort Wuppertal ein Feuer aus, woraufhin sich giftige Untersalpetersäure-Dämpfe bildeten. 1917 gingen in Köln-Flittard 60.000 Kilogramm TNT hoch und rissen acht Arbeiter in den Tod. Hunderte Beschäftigte trugen Verletzungen davon. Die Spur der Verwüstung zog sich von der Flittarder Anlage bis hin zu den Leverkusener Werken. Die schlimmste Katastrophe aber geschah 1921 bei der BASF in Oppau. 559 Menschenleben kostete die Explosion von 400 Tonnen Ammoniumsulfatnitrat. Und dass die Gefahr bis heute nicht gebannt ist, zeigt nicht allein Beirut. Im Jahr 2001 entzündeten sich im französischen Toulouse mehrere hundert Tonnen Ammoniumnitrat, das in der Giftmüll-Deponie eines Düngemittel-Unternehmens lagerte. Die Bilanz: 31 Tote und über 2.500 Verletzte.
Auch die Sprengstoffe, welche die Chemie-Firmen im Ersten und Zweiten Weltkrieg auf der Basis von Ammoniumnitrat oder anderen Substanzen entwickelten, bergen immer noch ein Gefährdungspotenzial. Die Reste davon wurden nämlich zusammen mit chemischen Kampfstoffen, Minen, Bomben und Granaten einfach in der Ost- und Nordsee entsorgt. Rund 1,6 Millionen Tonnen davon lagern in den Gewässern. Und sie schlummern nicht einfach friedlich auf dem Meeresgrund. Immer wieder kommt es zu Unfällen, etwa wenn FischerInnen Sprengstoffe ins Netz gehen oder die Behältnisse durchrosten und die Stoffe austreten und an die Strände gelangen.
Der Biologe Dr. Stefan Nehring zählte bis Ende 2015 418 Todesfälle und 720 Verletzte. Auf der letzten BAYER-Hauptversammlung im April 2020 forderte die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN den Global Player auf, sich an den Bergungsarbeiten zu beteiligen. Aber davon wollte der Vorstand nichts wissen. Und auch nach Beirut dürfte er seine Meinung nicht geändert haben.
Der neue Konzern-Lobbyist Matthias Berninger
Um BAYERs Image war es schon vor dem MONSANTO-Deal nicht zum Besten bestellt. Die Übernahme des US-Konzerns, dem der Makel „schlimmstes Unternehmen der Welt“ anhängt, ruinierte den Ruf noch zusätzlich. Da mussten Image-Korrekturen her. Und wer könnte diese besser vornehmen als ein Mann mit einer Vergangenheit als Grünen-Politiker, dachte sich der Leverkusener Multi und verpflichtete Matthias Berninger.
Von Jan Pehrke
MONSANTO bereitet BAYER nicht bloß wegen der vielen Klagen in Sachen „Glyphosat“ Sorgen. Das schlechte Image, das dem US-Konzern anhaftet, tut ein Übriges. Mit dem Ruf des Leverkusener Multis war es zwar auch nie zum Besten bestellt, aber was jetzt noch erschwerend hinzukam, war selbst einigen AnlegerInnen zu viel. „BAYER hat unterschätzt, dass viele Investoren mittlerweile auch darauf achten, ihr Geld nachhaltig anzulegen“, sagt der Fonds-Manager Ingo Speich vom Vermögensverwalter UNION INVESTMENT. Und seine Kollegin Janne Werning sekundiert: „Reputation ist eine reale Wirtschaftsgröße.“ Das merkte der Global Player konkret, als er im September 2018 aus dem „DOW JONES Nachhaltigkeitsindex“ flog und seine Aktie danach aus vielen Depots verschwand.
Der Tatort-Reiniger
Es gab also Greenwashing-Bedarf. Und wer könnte so einen Job besser erledigen als ein ehemaliger Grünen-Politiker, dachte sich das Unternehmen und engagierte Matthias Berninger, obwohl dieser nicht mehr so ganz farbecht war. Nach seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter, parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium unter Renate Künast und wirtschaftspolitischer Sprecher hat er nämlich bereits beim Schokoriegel-Fabrikanten MARS Lobby-Dienste für Konzerne verrichtet. Beim Agro-Riesen leitet Berninger nun den Bereich „Public Affairs, Science & Sustainability“, den die Aktiengesellschaft extra für ihn geschaffen hat. Zu der Personalie hieß es beim Leverkusener Multi nur knapp: „Der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“
Daneben engagierte das Unternehmen mit Ertharin Cousin, die ehemalige Direktorin des Welternährungsprogrammes der Vereinten Nationen, als Aufsichtsrätin. Bluewashing pur. „Mit ihrer außergewöhnlichen Erfahrung im Ernährungsbereich sowie in der US-Regierung und bei den Vereinten Nationen rundet sie das Kompetenz-Profil des Aufsichtsrats in idealer Weise ab“, so der damalige Aufsichtsratsvorsitzende Werner Wenning.
„Die Botschaft: BAYER wird ökologisch und sozial“, meinte Zeit online zum PR-Coup des Konzerns mit Matthias Berninger und Ertharin Cousin. Die Wirtschaftswoche wartete in ihrem Berninger-Porträt gleich mit einer Arbeitsplatz-Beschreibung auf: „Der Tatort-Reiniger von BAYER“. Die gesamte Branche hat es indessen laut Handelsblatt als „geschickte(n) Schachzug der BAYER-Führung gewertet, einen aus den Reihen der Öko-Bewegung als neuen Chef-Lobbyisten zu verpflichten“. Und Berninger selber ließ es sich nicht nehmen klarzustellen, er sei nicht trotz seiner grünen Überzeugung zum Agro-Riesen gegangen, sondern gerade deshalb. Und auch nicht trotz, „sondern wegen der Übernahme von MONSANTO“. „Ich tat es, weil es meine feste Überzeugung ist, dass das Unternehmen wie kaum ein anderes in der Welt dazu beitragen kann, die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen“, meinte er trotzig in einem Spiegel-Interview.
Bei seinem ersten größeren Arbeitseinsatz im Mai 2019 musste der Mann sich aber erst einmal profaneren Dingen widmen. Da waren nämlich tatsächlich sofort seine Qualitäten als „Tatort-Reiniger“ gefragt, bescherten die sogenannten MONSANTO-Listen BAYER doch einen PR-Gau, der für Negativ-Schlagzeilen satt sorgte. Tausende Personen hatte MONSANTO von 2014 bis 2018 nach Recherchen französischer Medien durch die Firma FLEISHMANHILLARD ausspionieren lassen. Bis ins Private hinein schnüffelte das Unternehmen. So standen unter anderem auch „Freizeit und andere Interessen (Golf, Tennis, Jagd, etc.)“ im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit all diesem Wissen legte der Nachrichtendienstleister dann Dossiers an und teilte die PolitikerInnen, JournalistInnen, MinisteriumsmitarbeiterInnen und Akti-vi-stInnen dabei in Kategorien wie „Verbündete“, „mögliche Verbündete“, „zu erziehen“ oder „im Auge behalten“ ein, um seinem Auftraggeber eine zielgenaue Pflege der politische Landschaft zu ermöglichen.
Berninger distanzierte sich zunächst von den Praktiken. Es gebe eine Reihe von Beispielen, „wo, um in der Fußball-Sprache zu sprechen, man nicht den Ball gespielt hat, sondern eher auf den Mann gegangen ist oder auf die Frau“, so der Reputationsmanager. Aber nur um dann gleich zu verharmlosen: „Aggressive Lobby-Arbeit ist bei US-Firmen weit verbreitet.“ Der Leverkusener Multi kennt so etwas nach seinem Dafürhalten hingegen nicht (mehr): „BAYER steht (...) seit vielen Jahren für einen anderen Weg.“ Und überhaupt: Es gebe keine Hinweise auf ein illegales Verhalten, es könne sich auch um einen „Sturm im Wasserglas“ handeln. Immerhin versprach Matthias Berninger „maximale Transparenz“. Aber weder er selbst noch der Konzern sorgten für diese. Lieber als über das Gestern wollte der Chef-Lobbyist über das Morgen reden: „Man kann jetzt krampfhaft an der Vergangenheit festhalten oder sich den großen Herausforderungen der Zukunft zuwenden. Wir halten Letzteres für deutlich wichtiger.“ Also delegierte das Unternehmen das, was es für eine Aufarbeitung der Affäre hielt, an einen externen Dienstleister. Er beauftragte die Anwaltskanzlei SIDLEY AUSTIN mit einem Untersuchungsbericht und hielt ein paar Monate später den bestellten Persilschein in den Händen. „Keine Hinweise auf illegales Verhalten“, vermeldete der Leverkusener Multi postwendend. Damit war dann für ihn das Kapitel beendet.
Das Gesellenstück
Sein Gesellenstück durfte Matthias Berninger erst Mitte Juni 2019 vorlegen. Da veröffentlichte BAYER in großen bundesdeutschen und US-amerikanischen Tageszeitungen eine ganzseitige Anzeige. Sie trug die Überschrift: „Wir haben zugehört. Und verstanden.“ Der Konzern verfolgte damit ein einziges Ziel: die Bedenken zu zerstreuen, mit denen er sich wegen der MONSANTO-Übernahme konfrontiert sah. „Darum beginnen wir mit dem heutigen Tag, höhere Maßstäbe für unser Handeln zu setzen: für Transparenz, Nachhaltigkeit und unseren Umgang mit allen Interessensgruppen“, verlautbarte der Global Player in der Annonce. Er versprach, beim Verkauf seiner Pestizide in Entwicklungsländern mehr Vorsicht walten zu lassen und die Ackergifte dort nur noch anzubieten, „wenn diese auch den Sicherheitsstandards einer Mehrheit der führenden Zulassungsbehörden entsprechen“. Zudem kündigte das Unternehmen an, die Umweltbilanz seiner Agro-Chemikalien verbessern zu wollen und bis 2019 fünf Milliarden Euro in die Suche nach Alternativen zu seinem umstrittenen Produkt Glyphosat zu investieren. Aber vorerst sollte alles beim Alten bleiben: „Glyphosat wird (...) weiterhin eine wichtige Rolle in der Landwirtschaft und in unserer Produkt-Palette spielen“.
Zu den Risiken und Nebenwirkungen zählt der Konzern sowieso bloß „Unkraut-Resistenzen“. Alles andere schreibt er „unbeabsichtigten Fehlanwendungen“ zu. Mit der angekündigten Kraftanstrengung bei der Suche nach einem Glyphosat-Ersatz ist es auch nicht allzu weit her. Bei den in Aussicht gestellten fünf Milliarden handelt es sich nicht um Extra-Geld, die Summe ist, wie ein Unternehmenssprecher gegenüber der Nachrichten-Agentur Bloomberg einräumte, vielmehr Teil des existierenden Etats für Forschung & Entwicklung. Und die Vergiftungsraten in den Ländern des Südens dürften sich auch durch den Schritt hin zu einer einheitlicheren Vermarktungspraxis nicht merklich reduzieren, denn mit den doppelten Standards möchte der Leverkusener Multi nicht grundsätzlich Schluss machen. Dafür hätte er versichern müssen, in diesen Ländern künftig nur noch Pestizide mit einer EU-Genehmigung zu vertreiben, was er wohlweislich nicht tat.
Der zweite Aufschlag
Der zweite Aufschlag Berningers erfolgte am 10. Dezember 2019. An diesem Tag stellte der Global Player seine große Nachhaltigkeitsstrategie vor. „BAYER wird seine Nachhaltigkeitsziele mit dem gleichen Nachdruck verfolgen und darüber berichten wie seine Finanzziele“, verlautete aus der Konzern-Zentrale. So gelobte der Multi, bis zum Jahr 2030 ein klima-neutrales Unternehmen zu werden. Zu diesem Behufe gedenkt die Aktiengesellschaft, bei der Stromversorgung komplett auf Erneuerbare Energien umzusteigen und Ressourcen effizienter zu nutzen. Die verbleibenden Emissionen trachtet er zu kompensieren und zwar so, „dass CO2 im Boden gespeichert und Biodiversität gefördert wird“. Zudem will der Leverkusener Multi bis 2030 100 Millionen Kleinbauern und -bäuerinnen „in Ländern mit geringen und mittleren Einkommen“ unterstützen und dortselbst auch für 100 Millionen Menschen die Gesundheitsversorgung verbessern und 100 Millionen Frauen den „Zugang zu einer verantwortungsvollen Familienplanung ermöglichen“.
Wie eine runde Sache hört sich das indes nur wegen der glatten Zahlen an. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Paket um einen Flickenteppich aus vagen Ankündigungen, als Entwicklungshilfe getarnten Absatz-Strategien, Business as usual und teilweise hoch problematischen Elementen. Zudem erweist sich der Konzern als vergesslich: Die noch im Frühjahr unter dem „Wir haben zugehört. Und verstanden.“-Signum vorgestellten Maßnahmen, beispielsweise zum Umgang mit Pestiziden, fehlen in dem Sammelsurium.
In puncto „Klimawandel“ belässt es das Unternehmen bei Absichtserklärungen. Bei den Erneuerbaren etwa müsste der Leverkusener Multi binnen zehn Jahren von Null auf 100 kommen, ist bei ihm momentan doch nur ein „niedriger einstelliger Prozentsatz“ des Stroms made by Wind & Co. Auch die Rede vom „kompensieren“ macht skeptisch, denn da kommt Glyphosat ins Spiel. Der Global Player versucht das Mittel ungeachtet seines übergroßen CO2-Fußabdrucks bei der Herstellung als Klimaretter zu verkaufen, weil es den LandwirtInnen angeblich das Kohlendioxid freisetzende Pflügen erspare. Allerdings streiten die Agrar-ForscherInnen noch darüber, ob eine solche landwirtschaftliche Praxis wirklich das im Boden gebundene Kohlendioxid wieder entfesselt, und BAYERs Gewährsmann in dieser Frage, Professor P. Michael Schmitz, musste gerade seinen wissenschaftlichen Offenbarungseid leisten. Schmitz hat sich die Arbeit an solchen Sätzen wie „Mit einer angepassten Glyphosat-Strategie in der Fruchtfolge können ohne Ertragsreduzierung die Maschinen- und Arbeitskosten sowie der CO2-Ausstoß gesenkt werden“, nämlich von MONSANTO bezahlen lassen (siehe SWB 1/20). Dessen ungeachtet lancierte der Konzern im Juli 2020 die „Carbon Initiative“, in deren Rahmen er zunächst 1.200 LandwirtInnen aus Brasilien und den USA nach dem Motto „Von Pflugscharen zum CO2-Sparen“ dafür belohnen will, auf das Pflügen zu verzichten, was de facto auf eine Glyphosat-Prämie hinausläuft.
Und Menschen in „unterversorgten Regionen“ mit ASPIRIN, IBEROGAST und anderen nicht rezeptpflichtigen Arzneien zu fluten, wie der Pharma-Riese es vorhat, folgt nur dem Business-Plan, sich „low-income markets“ zu erschließen. Gleiches gilt für die – überdies alles andere als neue – Praxis des Unternehmens, mit freundlicher Unterstützung der „Bill & Melinda Gates Foundation“ und anderen Institutionen Familienplanung in den Ländern des Südens zu betreiben und dort Verhütungsmittel unter die Frauen zu bringen. BAYER hält es da mit dem ehemaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson: „Fünf gegen das Wachstum der Bevölkerung investierte Dollar sind wirksamer als hundert für das Wirtschaftswachstum investierte Dollar.“
Dabei erweist sich besonders der Einsatz des Präparates JADELLE, das Matthias Berninger in der Telefon-Konferenz mit den InvestorInnen zur Nachhaltigkeitsstrategie als Beispiel nannte, als hoch problematisch. Das Medizinprodukt, das in den Oberarm implantiert wird und dort über einen Zeitraum von fünf Jahren Hormone abgibt, hat nämlich starke Nebenwirkungen. Noch dazu kommt es nach Angaben der Initiative „Population Council“ bei der Entfernung des Kontrazeptivums aus dem Körper in 7,5 Prozent der Fälle zu Komplikationen. Damit nicht genug, zeugt die Verwendung des Mittels von Paternalismus, Kolonialismus und Rassismus, ist es doch „provider controlled“, also von den Nutzerinnen nicht selbstbestimmt ein- und absetzbar und von einem Konzern des globalen Nordens entwickelt, der es in den „weißen“ Ländern aber als nicht vermarktbar erachtet.
Die annoncierte Unterstützung von Kleinbauern und -bäuerinnen erscheint ebenfalls mehr als fragwürdig, denn BAYER stellt dabei nur auf LandwirtInnen ab, die „markt-orientiert arbeiten“. Der Konzern fasst unter diese Kategorie FarmerInnen mit einem „geringen und mitterem Einkommen“ und einer bewirtschafteteten Fläche von bis zu 10 Hektar. Diese machen jedoch nur zehn bis 25 Prozent der kleinbäuerlichen ErzeugerInnen aus. Und mit was will der Agro-Riese diese Gruppe beglücken? Mit „quality inputs and good agricultural practices“, also mit Glyphosat & Co. „Lassen Sie die Kleinbauern in Ruhe, sie sind keine Opfer“, forderte der Hauptgeschäftsführer der kirchlichen Entwicklungshilfe-Organisation Misereor, Pirmin Spiegel, denn auch Matthias Berninger in einem von der Wochenzeitschrift Die Zeit arrangierten Streitgespräch auf. Sarah Schneider, Spiegels Kollegin beim größten katholischen Hilfswerk stellte derweil die medien-wirksam präsentierte neue Nachhaltigkeitsstrategie des Agrar-Multis grundlegend infrage: „BAYER versucht, sich als Vorreiter in Sachen ‚Klimaschutz’ zu präsentieren. Doch wenn man etwas Entscheidendes fürs Klima tun will, brauchen wir weltweit den Wechsel zu einer ökologisch orientierten Landwirtschaft.“
Der Welternährungsmythos
Jenseits solcher längerfristig geplanter PR-Offensiven schwadroniert Matthias Berninger am liebsten über das Thema „Welternährung“. Er spinnt damit den Faden weiter, den der Leverkusener Multi aufnahm, um dem profanen MONSANTO-Erwerb höhere Weihen zu verschaffen. „Gemeinsam können wir noch mehr dazu beitragen, dass im Jahr 2025 zehn Milliarden Menschen satt werden“, verkündete Konzern-Chef Werner Baumann damals. Eine solche Mission kauften ihm aber noch nicht einmal die konservativen Zeitungen ab. Als eine „stets etwas salbungsvoll klingende Kapitalmarkt-Story für den Mega-Deal“ bezeichnete etwa die FAZ solche Bekenntnisse. Das hindert Berninger jedoch nicht daran, die Mär wieder und wieder zu erzählen. Bekannten gegenüber stellte er das Nahrungsmittel-Problem sogar als Grund dafür da, zu BAYER zu wechseln. „Wie die Welt innerhalb ihrer planetarischen Grenzen im Jahr 2025 fast zehn Milliarden Menschen ernähren kann, ist eine Frage, die mir Sorgen bereitet“, hieß es in der E-Mail: „In meiner neuen Rolle hoffe ich, einen bescheidenen Beitrag leisten zu können, diese Herausforderung anzugehen.“ In der Diskussion mit Pirmin Spiegel von MISEREROR durfte das Mantra deshalb nicht fehlen: „Wir müssen alles daransetzen, Lösungen zu finden, wie wir die wachsende Weltbevölkerung künftig ernähren und zugleich die planetaren Grenzen besser respektieren können – und zwar auf nachhaltige Art und Weise. Das schließt modernen Pflanzenschutz und innovatives Saatgut ausdrücklich mit ein.“ Sein Vorgesetzter Baumann wird in dieser Hinsicht noch deutlicher. „Es wäre illusorisch zu glauben, wir könnten ohne Pflanzenschutzmittel die bald acht Milliarden Menschen auf der Erde ernähren, die Biodiversität schützen und zugleich keine weiteren Flächen für die Landwirtschaft erschließen“, hält er fest. Und dann kommt natürlich auch gleich Glyphosat ins Spiel. „Wenn Unkraut nicht effektiv bekämpft wird, verlieren wir 30 bis 40 Prozent der Ernte. Ein Verzicht auf Glyphosat hätte nach wissenschaftlichen Berechnungen Ernte-Verluste im zweistelligen Millionen-Tonnen-Bereich zur Folge. Das können wir uns angesichts der steigenden Weltbevölkerung nicht leisten“, sagte Berninger in einem Spiegel-Interview. Als „systemrelevant“ bezeichnet er das Total-Herbizid deshalb. Nicht zuletzt um bei steigender Nachfrage nach Nahrungsmitteln den Flächenfraß zu vermeiden, ist dem Tatortreiniger zufolge eine intensive Landwirtschaft mit Glyphosat & Co. vonnöten.
Glyphosat als nachhaltiges Mittel gegen den Welthunger – diese Greenwashing-Geschichte hat BAYERs Mann fürs Grüne rund um das Pestizid gesponnen. Sie darf in keinem Interview fehlen, das er gibt. Aber auch die anderen Agro-Riesen fabulieren gerne in dem Stil. Die Initiative OXFAM hat diese Storys jüngst einem Fakten-Check unterworfen. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: unterirdisch, durchgefallen, „Sechs“ – setzen! So hält die Organisation die Zahlen, mit denen BAYER & Co. die Notwendigkeit einer Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion (und damit auch des Einsatzes von Ackergiften) begründen, für nicht belastbar. In jene fließt nämlich nicht nur der mutmaßliche Bedarf an Lebensmitteln, sondern auch derjenige an Futtermitteln und Agrar-Rohstoffen zum industriellen Gebrauch ein. Den Zusammenhang zwischen der Menge an vorhandenen Nahrungsgütern und dem Hunger zweifelt OXFAM ebenfalls an. „Er suggeriert, dass eine höhere Produktion weniger Hunger bedeutet. Menschen hungern jedoch, weil sie extrem arm sind und sich keine Lebensmittel leisten können“, konstatiert die NGO. Darum spricht sie von einem „Welternährungsmythos“, den die Unternehmen aus einem bestimmten Interesse heraus kreiert haben: „Jenen, die den Welternährungsmythos bemühen, geht es in erster Linie um die Profite von Agrar-Konzernen und weniger um bessere Bedingungen für Hungerleidende.“
Verrat oder Konsequenz?
Matthias Berninger war sich bewusst, wie schwer sich die Grünen mit seinem neuen Job tun würden. Einige hat er sicherheitshalber sogar rechtzeitig vorgewarnt. Und zu manchen seiner ParteifreundInnen sei das Verhältnis jetzt auch „weniger herzlich“, räumt der studierte Lehrer ein. „Es gibt einige, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, gegen die Agrar-Konzerne zu kämpfen. Die verstehen meine Entscheidung sicher nicht. Es gibt aber eine Menge Leute, die an den Prinzipien der Aufklärung interessiert sind und verstehen, was ich hier mache“, schildert er die Reaktionen. Berninger selbst sieht sich als eine Art Entspannungspolitiker. „Beide Seiten können sich den alten Grabenkrieg nicht mehr leisten“, meint er und rüstet in einem Spiegel-Interview weiter ab: „Ich glaube, es ist ein Fehler, in alten Feindbildern zu denken, in Groß und Klein und Bio und Nicht-Bio.“ Bei seiner ehemaligen Chefin Renate Künast trifft seine Job-Wahl auf nicht viel Verständnis. „Matthias Berninger hat sich vor zwölf Jahren aus der Politik zurückgezogen, sagte sie laut Tagesspiegel: „Dass ich mich heute wundere, ist unerheblich.“ Kollege Harald Ebner sieht die Personalie vor allem als partei-schädigend an, da der Leverkuser Multi Berninger gerade als Grünen eingekauft hat. Dass BAYER diese private Eigenschaft ihres neuen Mitarbeiters herausstellt und für Image-Werbung missbraucht“, geht Ebner sehr gegen den Strich.
Dabei ist Matthias Berninger kein Einzelfall. Immer wieder wechseln Grüne die Seiten. Die ehemalige grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer übernahm bei der PR-Agentur PLEON den Bereich „Gesundheit“, die einstige Grünen-Vorsitzende Gunda Röstel heuerte bei GELSENWASSER an, die Bundestagsabgeordnete Marianne Tritz ging zum „Deutschen-Zigarettenverband“ und die einstige wirtschaftspolitische Sprecherin Kerstin Andreae zum „Bundesverband der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft“. Der Staatssekretär Volker Ratzmann lobbyiert indes seit Mai 2020 für die DEUTSCHE POST. Und Joschka Fischer dient sich gleich der ganzen Industrie an. Seine Unternehmensberatung JOSCHKA FISCHER & COMPANY arbeitete unter anderem schon für RWE, BMW und SIEMENS und versichert sich dabei auch der Mithilfe weiterer Partei-FreundInnen wie Dietmar Huber, Markus Kamrad und Michael Scharfschwerdt.
Aber auch die Partei als Ganzes sucht seit einiger Zeit verstärkt die Nähe zur Industrie. So rief sie im Jahr 2018 den Wirtschaftsbeirat ins Leben. „Wir Grüne im Bundestag streben eine sowohl ökonomisch als auch ökologisch erfolgreiche Wirtschaft an (...) Uns ist es wichtig, den Weg dorthin verlässlich, gerecht und krisenfest zu gestalten – und dabei alle mitzunehmen. Das geht nur, wenn die Wirtschaft diesen Weg mitgeht“, erklärt die Fraktion dazu. Folgerichtig hält der Wirtschaftsbeiratsleiter Danyal Bayaz fest: „Wir sind nicht industrie-feindlich“. Grenzen des Wachstums existieren für ihn dann auch nicht: „Wir sollten uns aber fragen, was wachsen soll und was nicht.“ Dafür, dass dabei nicht allzu viel auf dem Müllhaufen der Industrie-Geschichte landet, sorgen in dem Gremium unter anderem der BASF-Vorstandsvorsitzende Martin Brudermüller, sein Kollege Hagen Pfundner vom Pharma-Unternehmen ROCHE und der ehemalige BOSCH-Geschäftsführer Rolf Bulander. Sichtlich angetan zeigt sich dieser von den als „offen und konstruktiv“ empfundenen Diskussionen mit den Grünen: „Mein Eindruck ist, dass die Positionen der Wirtschaft aufgenommen und bearbeitet werden. Ob sich das dann letztlich in einer wirtschaftsfreundlichen Politik niederschlägt, muss sich aber noch zeigen.“ Da bleibt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nur noch, den Wirtschaftsbeirat über den grünen Klee zu loben: „Er dürfte einen wesentlichen Anteil daran haben, dass die Vorbehalte der Wirtschaft gegenüber den Grünen und umgekehrt zuletzt deutlich kleiner geworden sind“.
Der Wirtschaftskongress, zu dem Bündnis 90/Die Grünen Anfang März 2020 geladen hatten, stand dementsprechend unter der Losung „Gemeinsam den Wohlstand von morgen sichern“. Auf den Foren und Podiumsdiskussionen tummelten sich unter anderem Joe Kaeser von SIEMENS sowie VertreterInnen der SALZGITTER AG und des „Verbandes der Chemischen Industrie“. Der BUND warnte aus gegebenem Anlass vor „einem Schulterschluss mit der Industrie“ bei der Aufgabe, die Produktionssphäre klima-freundlicher zu gestalten: „Auch wenn einzelne Unternehmen vorbildlich voranschreiten, haben sich große Industrie-Unternehmen und die Interessensvertretung der deutschen Industrie bisher als größte Blockierer dieses Umbaus hervorgetan.“
Ein Wesensmerkmal des wirtschaftsfreundlichen Kurses ist das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, wenn sie denn sozial und ökologisch ist. Märkte können, wie es in dem Beschluss des Bielefelder Parteitags vom 17. November 2019 mit Verweis auf die Finanzkrise von 2007 heißt, „nicht nur verheerende Krisen entzünden“, sondern auch, „wenn die Anreize richtig gesetzt sind, eine grüne Revolution entfachen, die unsere Vorstellungskraft auf die Probe stellen wird“. Berninger sieht diese schon ante portas, für die nötigen Anreize haben ihm zufolge ausgerechnet BLACKROCK & Co. gesorgt. „Unser größter Investor BLACKROCK fordert etwa eine Klimaschutz-Strategie, genauso wie viele der anderen großen Anleger. Die unsichtbare Hand des Marktes wird grün, glauben Sie mir“, versichert er in dem Zeit-Interview.
In ihrem Ende Juni 2020 vorgestellten Grundsatz-Programm vertrauen die Grünen solchen Kräften eingedenk des Marktversagens, das sich im Angesicht von Corona offenbart hat, allerdings nur bedingt. „Es gilt das Primat der Politik, auch gegenüber Wirtschaft und Kapital“, heißt es stattdessen. Und jene müsse „mehr tun, als nur einen Rahmen zu setzen“, so die Partei, unregulierte Märkte seien „zukunftsblind, krisenanfällig und instabil“.
Auf solche und andere Programm-Punkte reagierten die neuen Freunde aus den Konzernen etwas ungehalten. Hatten sich die Grünen nach Ansicht der FAZ in letzter Zeit „immer biegsamer in der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ gezeigt, so machte die Zeitung jetzt eine gewisse Erstarrung aus. „Sie schleifen hier ein wenig an den Eigentumsrechten, feilen dort am Wettbewerb, huldigen Protektion. Das ist die falsche Richtung für ein Land, das nach der Pandemie um seinen Wohlstand ringen muss“, konstatierte das Blatt. Auch dem „Bundesverband der deutschen Industrie“ missfiel in seiner Analyse der grünen Vorstellungen, die sich auf 20 Seiten erstreckte, so einiges. „Undifferenziert wird in Ziffer 67 gefordert, es müsse ‚die Verschmutzung der Erde mit Plastik, Müll, Chemikalien und Pestiziden ein Ende haben’. Der erhebliche Nutzen von Kunststoffen und chemischen Stoffen wird negiert. Eine solche Stigmatisierung ist aus BDI-Sicht abzulehnen“, so der Lobby-Club. Die Steuererhöhungspläne erzürnen ihn ebenfalls: „Unverständlich bleibt die unternehmensfeindliche Steuerpolitik als wesentlicher Bestandteil der grünen Programmatik.“ Und schließlich warfen die Maßstäbe, nach welchen die Partei ökonomisches Handeln ausgerichtet wissen wollte, Fragen auf. Wer etwa meinte, an einem Satz wie „Wirtschaftliche Aktivität muss sich an langfristigen Zielen und gesamtgesellschaftlichem Wohlstand ausrichten“ gebe es nicht viel zu deuteln, der kennt den BDI schlecht. Er versah die Sentenz mit der Anmerkung „Diskussionsbedarf“, und den meldete der Bundesverband noch bei vielen weiteren Passagen an. „Unklar ist, ob die Partei in Zukunft tatsächlich den Weg einer wirtschaftsfreundlicheren Politik einschlägt“, merkte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang deshalb an.
Der Verband fand jedoch auch lobende Worte, etwa für das klare „Ja“ zum Industriestandort Deutschland und zur Herstellung auch solcher Produkte in Europa, die wie Stahl, Glas, Papier und Chemikalien im Fertigungsprozess viel Energie verschlingen. Und die Gentechnik nicht mehr allein unter dem Gesichtspunkt der Risiken, sondern auch dem der Chancen beurteilen zu wollen, fand gleichfalls die Zustimmung des BDI.
Ebenso positiv fielen die Bewertungen zur Europa- und Sicherheitspolitik der Grünen aus. Das Bekenntnis zur Gewalt als Instrument der Konfliktlösung – natürlich immer nur als „äußerstes Mittel“ – fand ebenso die Zustimmung der KlassensprecherInnen von BAYER & Co. wie das zur NATO und zum Prinzip der Schutzverantwortung, das militärische Eingriffe „out of area“ völkerrechtlich erst ermöglicht. Die Abkehr vom Pazifismus vollzog die Partei aber schon lange vorher, nämlich mit der Zustimmung zum Kosovo-Krieg im Jahr 1999. Und auch die Verabschiedung von anderen ehemaligen grünen Grundpositionen geschah nicht erst 2020.
Die Grünen & die CBG
Parallel zu dieser Entwicklung entfremdeten sich die Grünen immer mehr von der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN. „In den 80er Jahren hat die Bundestagsfraktion der Grünen geschlossen das sogenannte Umwelt-Zentrum des Konzerns im Stammwerk Leverkusen besetzt und zusammen mit BAYER-KritikerInnen aus aller Welt Seite an Seite ‚Für sofortigen Ausstieg aus der Chlorchemie’ und eine ‚Sanfte Chemie‘ gekämpft“, erinnert sich CBG-Urgestein Axel Köhler-Schnura: „Heute sichern ehemalige Top-Leute der Grünen wie Matthias Berninger das Image des Konzerns. Das ist Greenwashing im wahrsten Sinn des Wortes!“
Aber selbst damals bei den Protesten gegen die Rhein-Verschmutzung des Konzerns scherten schon einige aus und setzten stattdessen auf Kooperation mit dem Unternehmen. Unter Joschka Fischer verstärkte sich diese Tendenz dann noch einmal. Die Partei verabschiedete sich von der „sanften Chemie“ und Forderungen wie dem Ausstieg aus der Chlorchemie. BAYER zeigte sich mit großformatigen Anzeigen in der Mitglieder-Zeitschrift Schrägstrich erkenntlich. Sogar zu Treffen mit den Bossen der Chemie-Multis kam es. Heute setzt die grüne Co-Vorsitzende Annalena Baerbock die Tradition fort. Mitte August 2020 machte sie BAYER-Chef Werner Baumann ihre Aufwartung. Sie bekundete zwar, „dass ich heute hier bin, heißt nicht, dass ich einige Sachen nach wie vor nicht verstehe oder anders machen würde als BAYER“, signalisierte aber Bereitschaft zur Zusammenarbeit. So erklärte Baerbock etwa vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, es ginge nun darum, „gemeinsam zu Lösungen zu finden, wie wir im Bereich ‚Gesundheit’ besser gewappnet sein können.“
Die Entwicklung Matthias Berningers steht also in einem gewissen Kontext, wenngleich es immer noch genug Grüne gibt, die den Idealen von einst nicht abgeschworen haben. So ganz auf Berninger verlassen will sich indessen auch der Leverkusener Multi nicht. Er verpflichtete neben dem Mann fürs Grüne mit Max Müller auch noch einen Mann für Grobe. „Um die Reputation zu verbessern, kommt jetzt einer der erfahrensten und effektivsten Lobbyisten des Gesundheitswesens: Max Müller“, kommentierte DAZ.online die Verpflichtung. Während der ehemalige Grünen-Politiker sich beim Global Player um die „Public Affairs“ kümmert, die in Washington so anfallen, antichambriert Müller künftig in Berlin und in Brüssel. Der Konzern warb ihn von der Versand-Apotheke DOCMORRIS ab, der Müller gute Dienste geleistet hatte. So schaffte es der Jurist zwar nicht, das Fremdbesitz-Verbot für Apotheken zu kippen und dem Online-Handel mit Medikamenten die Gewährung von Rabatten zu ermöglichen, aber immerhin gelang es ihm, eine Reihe von PolitikerInnen unterschiedlicher Parteien für seine Agenda zu gewinnen. Besonders gut kennt der PR-Profi Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Beide lernten sich bei dem von Müller gemeinsam mit dem Journalisten Martin S. Lambeck ins Leben gerufenen Gesprächskreis „Politik und Wein“ kennen und kamen bald miteinander ins Geschäft. Mit der Beratungsagentur POLITAS machten sie ab 2006 Spahns gesundheitspolitische Kontakte zu Geld. „Wir hatten beide Lust, die Gesundheitsbranche ein bisschen aufzumischen“, so Max Müller. Spahn verlor daran erst den Spaß, als seine Beteiligung an POLITAS wegen der Vermengung von Politik und Geschäft massiv in die Kritik geriet: „Heute würde ich anders handeln.“
Müller operiert im Stillen. Bis jetzt weiß Google von seinen Aktivitäten für BAYER nichts. Matthias Berninger wäscht seine grüne Wäsche dagegen vorzugsweise in aller Öffentlichkeit, weil es dazu zwangsweise Publikum braucht.
Dass es zu einem Grünen in BAYER-Diensten kommen konnte, hält die Coordination für eine fatale Entwicklung. In einer Erklärung zur Causa „Berninger“ hält sie fest: „Konzerne wie BAYER ruinieren Klima, Wasser, Umwelt. Sie gefährden den Frieden und die soziale Harmonie. Sie gefährden Gerechtigkeit und soziale Sicherheit. Alles zu Gunsten der Profite. Die Welt lässt sich nicht mit solchen Rendite-Jägern retten. Die Grünen, die einen Berninger möglich machten, stehen auf der falschen Seite und verraten ihre GründerInnen, ihre Programmatik und ihre Unterstützer- und WählerInnen. Nicht Lobbyismus für BAYER & Co. ist das Gebot der Stunde, sondern ein Ausstieg aus dem Profit-Prinzip. Klima- und Umweltzerstörer wie BAYER müssen unter demokratische Kontrolle gestellt werden.“ ⎜
Museumsreifes Schmutzwasser
Der bekannte deutsche Künstler Hans Haacke machte 1972 das Krefelder Museum Haus Lange zu einem Laboratorium, das die Verunreinigung des Rheins durch BAYER und andere Umweltsünder untersucht. Im Rahmen der Ausstellung „Hans Haacke – Kunst, Natur, Politik“ rekonstruiert nun das Mönchengladbacher Museum Abteiberg die damalige Schau.
Von Jan Pehrke
Hans Haacke zählt zu den bekanntesten politischen KünstlerInnen Deutschlands. 1993 baute er auf der Biennale in Venedig kurzerhand den deutschen Pavillon zurück, dem die Nazis 1938 seine bis dahin kaum veränderte Gestalt verliehen hatten. Und zu Anfang des Jahrtausends betrieb er mit Brecht Kunst am Bau des Reichstagsgebäudes. Der heute 84-Jährige legte im Innenhof des Bundestages ein Blumenbeet an, zu dem die Abgeordneten Erde aus ihren Wahlkreisen beisteuern sollten, und schrieb in Neon-Lettern die Zueignung „Der Bevölkerung“ hinein. Mit ihr wollte er – inspiriert von dem Diktum Bertolt Brechts: „Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht“ – die Inschrift „Dem deutschen Volke“ über dem Portal des Hauses überschreiben. Deshalb orientierte er sich auch an deren Schrift-Type. Diese semantische Intervention rief sogleich KritikerInnen auf den Plan. Ein von den GegnerInnen des Projektes in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten bezeichnete die Installation sogar als „verfassungswidrig“.
Das Mönchengladbacher Museum Abteiberg widmete sich jetzt dem Frühwerk Hans Haackes und dokumentierte in diesem Rahmen auch eine Ausstellung von 1972, in der BAYER eine prominente Rolle spielt. Als der seit 1965 in New York lebende Künstler die Einladung des Krefelder Museums Haus Lange annahm, befand er sich gerade an einem Scheideweg. Begonnen hatte Haacke mit Arbeiten am Schnittpunkt von Kunst und Wissenschaft, die auf experimenteller Basis physikalische oder biologische Prozesse initierten wie im „Kondensationswürfel“ von 1965. Der mit destilliertem Wasser gefüllte Plexiglas-Quader reagierte auf die sich ändernden Licht-, Luftströmungs- und Wärme-Verhältnisse im Raum und bot ein Wasserspiel dar, das den Kreislauf von Verdunstung, Kondensation und Tröpfchen-Bildung zeigte. Nicht als Skulpturen, sondern als Systeme betrachtete der Künstler solche Schöpfungen und rechnete sich folglich auch der sogenannten Systemkunst zu.
Beeinflusst von der Bürgerrechtsbewegung und dem Tod Martin Luther Kings übertrug Hans Haacke diese Herangehensweise dann auf das Gesellschaftliche. Als ein „Real Time Social System“ plante er im New Yorker Guggenheim-Museum windige Immobilien-Geschäfte zu dokumentieren, dessen ProtagonistInnen die StadtbewohnerInnen „Slumlords“ tauften, da ihre Transaktionen bevorzugt in den mehrheitlich von Schwarzen bevölkerten Vierteln stattfanden. Doch dazu kam es nicht. Das Museum sagte die Ausstellung ab. „Aktives Engagement mit sozialen und politischen Zielen“ wollte es nicht zulassen, was einen großen Skandal verursachte.
In Krefeld machte Hans Haacke trotz dieser Erfahrung konsequent auf dem neu eingeschlagenen Weg weiter und präsentierte „Demonstrationen der physikalischen Welt: biologische und gesellschaftliche Systeme“. Zum Studien-Objekt erkor er dabei die Rhein-Verschmutzung. Der New Yorker betrieb dazu ein Jahr lang akribisch Feldforschung und recherchierte dabei unter anderem, wer, wann, was, wo in den Fluss einleitete. Das Ergebnis nahm schlussendlich eine ganze Museumswand ein, wie die Mönchengladbacher Ausstellung mit einem Foto von damals dokumentiert. Auf einem meterlangen Diagramm listete Haacke die kommunalen und industriellen Umweltverschmutzer von Bonn bis Kleve auf. Und an Rhein-Kilometer 766,3 findet sich der Eintrag zu den „FARBEN-FABRIKEN BAYER, Krefeld, Uerdingen“. Zur Art des Abfalls ist in der Aufstellung vermerkt: „industriell (chem.)“, zur Menge pro Tag: „450.000 Kubikmeter“, zur Technik der Abwasser-Behandlung: „mechanisch, Säure-Verschiffung“ und schließlich zum Zustand des Rheins unterhalb der Zuleitung: „übermäßig verunreinigt“. Gegenüber an der Stirn-Seite des Raumes hatte der Künstler die Fotografie „Rhein-Ufer in der Nähe einer Verlade-Vorrichtung der Farben-Fabrik BAYER AG“ in einem großen Format platziert. Sie zeigt Steine, die durch Pigment-Rückstände aus der Farben-Produktion mit einer roten Schicht überzogen sind.
Schlimmer trieb es keiner. Deshalb widmete sich Haackes „Krefelder Abwasser-Triptychon“ BAYER noch einmal genauer. Den Mittelteil nimmt ein (stark bearbeitetes) Schwarz/Weiß-Foto ein, das in der Höhe der Einleitungsstelle des Werks entstand. Die Produktionsanlagen selber mit dem hoch aufragenden Turm zeichnen sich jedoch nur grau im Hintergrund ab; im Zentrum des Bildes steht eine über dem Wasser kreisende Möwen-Schar. Und das ist wirklich die Aufnahme eines biologisch-gesellschaftliches Systems, allerdings eines pervertierten. Die Vögel versammeln sich nämlich so zahlreich bei den Abfluss-Rohren, weil sie hier ihre Mahlzeit mundgerecht frei Haus geliefert bekommen: an einer Überdosis Chemie gestorbene Fische, die auf der Oberfläche des Flusses treiben.
Haacke schuf in Krefeld auch selbst Systemkunst. Wie in seinem Kondensationswürfel inszenierte er wieder einen Wasserkreislauf, aber diesmal keinen rein physikalischen, sondern einen ökologischen. Der Künstler setzte eine voluminöse „Rheinwasser-Aufbereitungsanlage“ in das Haus Lange. Dazu leitete er die Giftfracht aus voluminösen Bottichen in verschiedene Becken, in denen Chemikalien die Schmutz-Partikel banden und Filter die restlichen Schadstoffe herauszogen. Anschließend floss das Wasser dann in ein Aquarium mit Goldfischen und von dort nach draußen in den Museumsgarten.
Das „Corpus Delicti“ selbst konnten die BesucherInnen der 1972er-Schau ebenfalls in Augenschein nehmen. Haacke stellte in großen Gefäßen nämlich „Proben aus der Abwasser-Fahne des Krefelder Einleiters und des Einleiters der Farbwerke BAYER AG, Uerdingen, entnommen am 10.5.72“ aus.
„Schmutzwasser wird museumsreif“ schrieb die Westdeutsche Zeitung über die Ausstellung, und die Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung bemerkte zum Abwasser-Triptychon: „alles andere als eine Werbung für Krefeld“. Das Blatt befragte auch den damaligen Stadtdirektor, der in Personalunion dem Umweltdezernat vorstand, ob er sich die Schau schon angesehen habe. „Ich kann nicht überall sein“, antwortete dieser abweisend. Er befürchtete auch keine politische Unbill: „Ach Du lieber Gott, wer geht denn da schon hin?“ Ob der Leverkusener Multi, der sich im Jahr 2015 von seiner Krefelder Produktionsstätte und allen anderen Kunststoff-Werken trennte, auf die engagierte Kunst-Intervention reagierte, weiß Hans Haacke nicht mehr. In den Arbeitsprozess griff der Konzern jedenfalls nicht ein. Haake dankte dem damaligen Museumsdirektor Paul Wember in einem Brief persönlich dafür, dass „ich bei Ihnen nie das Empfinden (hatte), ich sollte meine Pläne aus realpolitischen, finanziellen oder kunst-ideologischen Gründen modifizieren. Das ist eine so glückliche Situation gewesen, dass dies ausdrücklich vermerkt werden muss.“
Wer die Ausstellung dieser Ausstellung in Mönchengladbach sehen will, hat noch bis zum 28. Oktober Zeit.
Die Bundesregierung bleibt Antworten schuldig
Im September 2020 musste sich auch die Bundesregierung mit den Risiken und Nebenwirkungen der Pharma-Lieferketten von BAYER & Co. befassen, denn die Partei „Die Linke“ hatte dazu eine Kleine Anfrage gestellt..
Von Jan Pehrke
Bei den ersten Gliedern der Pharma-Lieferketten von BAYER & Co. in Indien und China herrschen skandalöse Zustände. Die Staaten bieten den Konzernen Standort-Vorteile wie niedrige Lohn-Kosten und laxe Umwelt-Auflagen, was fatale Folgen für Mensch, Tier und Umwelt hat. Die Bundesregierung weiß um diese Auswirkungen. „Es ist nicht auszuschließen, dass die Bevölkerung in der Nähe pharmazeutischer Produktionsstätten aufgrund der nicht ausreichend gefilterten Einleitung von mit Arzneimittel-Rückständen belasteten Abwässern von Pharma-Fabriken Gefahren ausgesetzt ist“, heißt es in ihrer Anwort auf eine Kleine Anfrage der Partei „Die Linke“.
Politische Handlungen hat das allerdings nicht angestoßen. Die Große Koalition setzte dieses Thema am 1. November 2019 nicht auf die Tagesordnung der „Deutsch-Indischen Regierungskonsultationen“, wie sie zugeben musste. Auch in Sachen „Rabatt-Verträge“ blieben Merkel & Co. untätig. Sie wollen es den Krankenkassen selber überlassen, ob sie in ihren Vereinbarungen mit den Medikamenten-Herstellern Umwelt- und Sozialstandards verankern oder lieber nicht. Die Bestimmungen zur „Guten Herstellungspraxis“ (GMP) im Pharma-Bereich um solche Anforderungen zu erweitern, lehnt die Regierung Merkel dagegen explizit ab. „Diese werden durch andere Vorschriften geregelt“, erklärt sie: „Das Überprüfen der Einhaltung dieser Vorschriften obliegt den zuständigen örtlichen Behörden.“ Der GMP-Leitfaden hingegen sei rein „produkt-bezogen“ und eigne sich deshalb nicht als Instrument zur Verbesserung der Produktionsbedingungen.
Und allein diese rein produkt-bezogenen Mängel beschäftigen die GMP-KontrolleurInnen nach Auskunft der Regierungskoalition schon nicht zu knapp. So registrierte die „Europäische Arzneimittel-Agentur“ binnen der letzten zehn Jahre weltweit 141 Verstöße gegen die „Gute Herstellungspraxis“. Konkret nach den Mängeln in BAYERs pakistanischer Fertigungsanlage für das Medikament RESOCHIN mit dem Wirkstoff Chloroquin gefragt, das kurzzeitig als Wundermittel gegen COVID-19 galt, lautet die Antwort: „Der Bundesregierung ist bekannt, dass pakistanische RESOCHIN-Tabletten, die nicht für den europäischen Markt bestimmt sind, nicht nach den europäischen Anforderungen an die Gute Herstellungspraxis (...) hergestellt wurden.“
Für die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN lässt die Kleine Anfrage nur einen Schluss zu. „Die Antworten der Bundesregierung belegen eindeutig, dass die bisherigen Mittel nicht ausreichen, um die eklatanten Missstände entlang der Pharma-Lieferketten von BAYER und anderen Herstellern zu beheben. Das zeigt einmal mehr: Ohne Lieferketten-Gesetz geht es nicht“, hieß es in ihrer Presseerklärung. Dieses Paragrafen-Werk verzögert sich jedoch immer weiter. Und ob es in seiner endgültigen Fassung – so sie dann komme – noch genügend Wirksamkeit entfalten kann, steht auch dahin.
Die Umweltgeschichte des BAYER-Konzerns
Im August 2020 veröffentlichte die Tageszeitung junge Welt eine Beilage zum Thema „Ökologie“, zu der die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN einen Artikel über BAYER beisteuerte. Das Stichwort BAYER dokumentiert den Text in einer etwas erweiterten Fassung.
Von Jan Pehrke
Als Egon Erwin Kisch im Jahr 1927 für eine Reportage zum Stammsitz des BAYER-Konzerns nach Leverkusen reiste, fielen ihm zuerst die zum Trocknen aufgehängten Hemden auf. Sie hatten ihre weiße Farbe auch nach dem Waschen nicht wiedergewonnen. Vielmehr zeichneten sich auf ihnen an vielen Stellen blaue, grüne oder violette Flecken ab. Ihre Träger arbeiteten nämlich in der Farbstoff-Produktion des damals zum IG-FARBEN-Konglomerat gehörenden Unternehmens, und die Haut gab die dabei aufgesogenen Pigmente wieder an die Kleidung ab. „Aber schlimmer wirken die Dämpfe, die beim Verkochen der Farben in die Lungen dringen, gefährlicher die Blei-Vergiftungen, die oft Geisteskrankheit zur Folge habenden Arsenwasserstoff-Gase“, schrieb Kisch. Und auch sonst zeichnete er in seinem Text, der unter der Überschrift „Das giftige Königreich am Rhein“ in der „Roten Fahne“ erschien, ein deprimierendes Bild von der Situation vor Ort. „Erschütternde Blässe und Abgezehrtheit sind bei den Arbeitern von ‚Jammerkusen’ die Regel“, hielt „der rasende Reporter“ fest.
Klagen über die Umwelt-Belastungen seiner Produktion begleiten den Leverkusener Multi seit seiner Gründung im Jahr 1863, wie der Historiker Stefan Blaschke in seinem Buch „Unternehmen und Gemeinde. Das Bayerwerk im Raum Leverkusen 1891-1914“ schreibt. Bereits ein Jahr nach der Inbetriebnahme der Fertigungsanlagen musste die Firma FRIEDR. BAYER ET COMP. die ersten Entschädigungen zahlen. Immer wieder kam es zu Protesten. Im Juni 1889 etwa unterzeichneten 66 AnwohnerInnen eine Eingabe an die Königliche Regierung.
So missbrauchte BAYER die Flüsse in der Nähe der Werke als „Opferstrecke“. Eine zeitgenössische Schrift bescheinigte dementsprechend der Wupper, „meistens einem Tintenstrom“ zu gleichen. Der damalige Generaldirektor Carl Duisberg hielt eine Abwasser-Reinigung jedoch für eine „Vergeudung von Nationalkapital“. Im Übrigen verwies die Aktien-Gesellschaft, wie sie es auch heute noch gern tut, auf ihre bedeutende Wirtschaftskraft, der keine Fesseln angelegt werden dürften. Artikel in der Arbeiterpresse, die für den Chemie-Riesen die wenig schmeichelhafte Bezeichnung „Gifthütte“ fanden, tat Duisberg als reine Propaganda ab. Der Verweis auf die mit der Herstellung von Farbstoffen und anderen Produkten verbundenen Gefahren sei lediglich das „beste Mittel zur Schürung des Klassenkampfes“, so der damalige Konzern-Chef. Sich selber führte er als Beispiel dafür ins Feld, wie wenig Chemikalien einem Menschen schaden können. „Als Chemiker bin ich schon seit 25 Jahren im Laboratorium und im Betrieb dieser „Giftindustrie“ tätig und daher gezwungen, täglich und stündlich mit solchen Giften umzugehen. Ja noch mehr, (...) ich präsentiere mich hier sogar als ein „vergifteter Giftarbeiter“, denn wer von uns Chemikern hat nicht bereits eine Chlor- oder Brom-Vergiftung, eine Phosphor-Vergiftung oder Gott weiß was für Vergiftungen durchgemacht (...) Kurz, zahlreiche Vergiftungen, wie sie bei einem Chemiker vorkommen können, habe ich durchgemacht und stehe dennoch gesund vor Ihnen“, tönte er.
Bis heute ist BAYER aller Greenwashing-Aktivitäten zum Trotz weit davon entfernt davon, sauber zu sein. Dazu genügt ein Blick in den neuesten Nachhaltigkeitsbericht. Die klima-schädlichen Kohlendioxid-Emissionen erhöhten sich im Vergleich zum Vorjahr um 830.000 Tonnen auf 3,71 Millionen Tonnen. Der Ausstoß von ozon-abbauenden Substanzen schnellte von 9,3 auf 17,8 Tonnen hinauf. Die Stickstoff-Emissionen wuchsen um 1.440 Tonnen auf 4.700 Tonnen und die Schwefeloxid-Emissionen um 1.610 Tonnen auf 2.310 Tonnen. Die Einleitungen in die Gewässer legten ebenfalls zu. Die Phosphor-Werte steigerten sich von 180 auf 510 Tonnen, die Stickstoff-Werte von 390 auf 420 Tonnen, die Schwermetall-Werte von 2,4 auf 2,6 Tonnen, die für organisch gebundenen Kohlenstoff von 600 auf 980 Tonnen und diejenigen für anorganische Salze von 97.000 auf 167.000 Tonnen.
Der Leverkusener Multi erklärt die miese Umweltbilanz hauptsächlich mit der Übernahme des MONSANTO-Konzerns. Und tatsächlich haben es Produkte wie Glyphosat in sich. Neben allem anderen ist das Total-Herbizid beispielsweise auch ein Klima-Killer. „Mit dem akquirierten Agrargeschäft haben wir neben Standorten für die Saatgutproduktion u. a. auch eine Rohstoffgewinnung für die Herstellung von Pflanzenschutzmittel-Vorprodukten übernommen, mit der energie-intensive Auf- und Weiterverarbeitungen verbunden sind“, heißt es verklausuliert im Geschäftsbericht zur Erklärung. Konkret handelt es sich dabei um eine Anlage im US-amerikanischen Soda Springs zur Gewinnung des Glyphosat-Vorprodukts Phosphor. Um es aus dem Sediment-Gestein Phosphorit zu lösen, muss ein spezieller Schmelz-Reduktionsofen nämlich erst auf eine Betriebstemperatur von 1500° kommen. Und dazu braucht er jede Menge Kohle.
Das Öko-Desaster beginnt jedoch schon vorher. Es nimmt mit dem Phosphorit-Tagebau in der Umgebung von Soda Springs seinen Anfang, der eine massive Luft- und Wasserschmutzung zur Folge hat und endet mit der Ausbringung des Total-Herbizids auf den Feldern noch lange nicht. Von den Äckern gelangt das Mittel in die Flüsse, wo es das biologische Gleichgewicht gehörig durcheinanderwirbelt, ist Phosphor doch ein Nährstoff, den vor allem Algen dankbar aufnehmen. Diese decken dann die Oberflächen der Gewässer ab und lassen kaum noch Licht durch. Deshalb können die tiefer gelegenen Pflanzen keine Foto-Synthese mehr vollziehen. Sie sterben ab und verbrauchen bei ihrer Zersetzung große Mengen Sauerstoff, der dann wiederum den Fischen und anderen aquatischen Lebewesen fehlt. 151.000 Tonnen Phosphor setzt das Ultra-Gift nach einer Studie der kanadischen McGill University jährlich frei. „Von der Wiege bis zur Bahre ist Glyphosat ein hoch problematischer Stoff“, resümiert Hannah Connor vom „Center for Biological Diversity“.
All diese Risiken und Nebenwirkungen der BAYER-Produktion befeuern den Klassenkampf entgegen Duisbergs Befürchtungen jedoch nur wenig bis kaum. Die IG BERGBAU, CHEMIE, ENERGIE (IG BCE) stritt nie für eine sauberere Chemie, sondern versuchte diese in Tateinheit mit den Vorstandsetagen aus Angst vor Arbeitsplatz-Vernichtungen stets so schmutzig wie möglich zu halten. Aber es gab und gibt immer auch Gegenbewegungen. Die Betriebsrätin Marianne Hürten bespielsweise engagierte sich als Grüne in den 1980er Jahren stark für den Umweltschutz. Als sie 1985 ein Landtagsmandat anstrebte, ließ der Konzern ihren Wahlkampf durch den Werksschutz beobachten. „Sie hat von Dioxin und Cadmium bei der BAYER-Produktion gesprochen, BAYER der Profitgier bezichtigt und behauptet, dass die Vergiftungen in Spanien auf das BAYER-Produkt NEMACUR zurückzuführen seien“, meldete dieser. Das hatte den Rausschmiss zur Folge. Hürten ließ sich aber nicht einschüchtern, zog vors Arbeitsgericht und erreichte ihre Weiterbeschäftigung. Allerdings nur so lange, bis ihre Zeit als gewählte Betriebsrätin ablief. Dann musste sie gehen bzw. räumte freiwillig das Feld.
Marianne Hürten hat jedoch Nachfolger gefunden, beispielsweise in der Initiative „Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschaftler für den Klimaschutz“, die den Schulterschluss mit Öko-AktivistInnen sucht. Zuletzt geschah das im Januar des Jahres auf der Konferenz „Vom Klimawandel zum Gesellschaftswandel“, an der neben Mitgliedern von DGB, ver.di und IG BCE auch Vertreter von ATTAC und Bürgerinitiativen aus der Braunkohle-Region wie „Alle Dörfer bleiben“ teilnahmen. Trotz dieser Lichtblicke trifft jedoch die Diagnose des Historikers Arne Andersen aus dem Jahr 1989 nach wie vor zu, „dass bis heute die Arbeiterbewegung sich schwer tut, für industriell bedingte Umweltprobleme Lösungen zu entwickeln“.