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Beitrag veröffentlicht im April 2014

[Pharmaindustrie] STICHWORT BAYER 02/2014

CBG Redaktion

Tatort Pharma-Industrie

Die interessantesten Krimis sind nie nicht nur dem Täter, sondern immer auch der Wirklichkeit auf der Spur. „Die letzte Flucht“ von Wolfgang Schorlau gehört zu dieser Kategorie. Das Buch gewährt einen tiefen Einblick in die Machenschaften der Pillen-Industrie. Wobei der Autor die Informationen in seinem Roman aus berufenem Munde kommen lässt, dem eines Pharma-Managers. Dieser gibt allerdings nicht ganz freiwillig Auskunft. Dirk Assmuss ist Opfer einer Entführung geworden; und sein Kidnapper hat es nicht etwa auf Lösegeld abgesehen, er verlangt von ihm genre-untypisch nur eines: Dass Assmuss redet. Stichwort BAYER dokumentiert im Folgenden die „Vernehmungsprotokolle“ über die Praktiken der Arznei-Unternehmen, deren Ähnlichkeit mit den Gepflogenheiten von BAYER & Co. alles andere als zufällig ist. Schorlau hat nämlich zwei Jahre lang im „Milieu“ recherchiert.

Vertriebsstelle Arzt
„Der Arzt ist das Nadelöhr. Er schreibt das Rezept aus. Ich sage immer zu meinen Leuten: Die Verordner, das ist unsere eigentliche Vertriebsorganisation. Ihr müsst diese Vertriebsorganisation intelligent managen.” Henry lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er faltete die Arme hinter dem Nacken zusammen und sah Assmuss lange an. „Ich höre”, sagte er nach einer Weile. „Nun, wir haben unsere Pharmareferenten. Über diese bauen wir eine persönliche Beziehung auf in jede einzelne Arztpraxis. Wir ... ” „Beeinflussen Sie Ärzte, sodass sie Medikamente von Peterson & Peterson verordnen?” „Ja, sicher. Unser ganzer Marketingapparat richtet sich an den Arzt. Wir wollen ihn überzeugen, unsere Präparate zu verschreiben. Das ist doch vollkommen legal.” „Sicher, Sagt Ihnen das Kürzel AWB etwas?” „AWB? Sicher. Es ist die Abkürzung für Anwendungsbeobachtung.” „Erklären Sie mir, was das ist. „Anwendungsbeobachtung? Sie sind kein Arzt, Henry, nicht wahr? Nun, ein Arzt kreuzt auf einem unserer Formulare nach jeder Verschreibung eines Medikaments an, ob und wie das Präparat wirkt.” „Also eine wissenschaftliche Studie?” Assmuss schwieg. „Überlegen Sie sich Ihre Antwort gut. Sind die Anwendungsbeobachtungen, die Ärzte für Ihr Unternehmen durchführen, wissenschaftlich?” Assmuss schwieg. Nach einer Weile sagte er: „Nein. Das sind sie nicht. Sie sind eines unserer Marketinginstrumente. Ein einfacher Fragebogen. Der Arzt kreuzt bei der Verordnung eines unserer Präparate an: Patient, wirkt oder wirkt nicht, manchmal ein wenig aufwendiger, aber nicht viel. Wissenschaftlich ist das nicht von Belang. Kein Forscher schaut sich die Ergebnisse der AWBs an. Die Vertriebsleute schon.” „Warum füllen die Ärzte dann solche Bögen aus? Wegen Ihrer Vertriebsleute?” Assmuss schluckte. Er fühlte sich unwohl. „Nun ja”, sagte er. „Der Bogen ist der Nachweis des Arztes dafür, dass er unser Medikament verordnet hat. Und, nun ja, wir bezahlen entsprechend.” „Sie bezahlen entsprechend?” „Ja. Aber nicht nur Peterson & Peterson. Verstehen Sie? Das ist nicht exklusiv unsere Spezialität. Alle unsere Wettbewerber machen das.” „Ich will es schon etwas genauer wissen.” Assmuss atmete einmal tief ein. „Wir gewähren den Verordnern eine Aufwandsentschädigung für ihre Teilnahme an der AWB. Für jedes Präparat von Peterson & Peterson bekommt der Arzt eine Vergütung.” „Ist das nicht verboten?“ „Nun, in jeder Branche gibt es Prämien, Tippprämien, wenn Sie jemandem einen lukrativen Hinweis geben. Kickback. Sie vermitteln jemand ein Geschäft, und der gibt aus Dankbarkeit einen kleinen Betrag zurück. Kickback eben, so sehen wir das.” „Und nehmen Ärzte tatsächlich an solchen Projekten teil?” Assmuss lachte wieder das trockene, hässliche Lachen. Jetzt fühlte er sich sicher, er kannte sich aus. „Beinahe die Hälfte der Ärzteschaft. “
Fangprämien
„Schon gut. Welche Prämie zahlen Sie einem Arzt, wenn er Ihr Medikament verordnet?” „Das kommt auf das Medikament an. Der Kickback liegt zwischen drei und acht Prozent.” „Nehmen wir Ihr Medikament Veclimed.” „Veclimed? Warten Sie ... Wir zahlen ungefähr 50 Euro pro Infusion an den Verordner. Die genauen Zahlen habe ich nicht im Kopf. Bei etwa zehn Infusionen pro Tag kann ein Onkologe damit etwa 100000 Euro extra machen. Im Jahr.” „Machen Sie Anwendungsbeobachtungen mit Veclimed?” „Ja.” „Mit welchen Medikamenten führen Sie die AWBs durch?” „Nur mit teuren und neuen Medikamenten. Es ist für uns eine wichtige Maßnahme, um hochpreisige Medikamente im Markt zu platzieren.” „Wenn ich das richtig sehe, zahlen Sie diese 100.000 Euro von dem Geld, das Ihnen die Krankenkassen überweisen. Also zahlt die Krankenkasse den Kickback, das heißt, letztlich zahlen die Patienten über die Krankenkassenbeiträge die Prämien, die Sie bestimmten Ärzten zukommen lassen.” „Das kann man so sehen.” „Und das macht nicht nur Peterson & Peterson?” „Natürlich nicht.” „Beispiele?” „Nun ja. Nehmen wir zum Beispiel das deutsche Unternehmen TROMMSDORFF. Dieses Pharmaunternehmen hat bis mindestens 2007 Ärzten Elektrogeräte oder Bargeld geschenkt, wenn diese im Gegenzug den Blutdrucksenker EMESTAR bzw. EMESTAR plus verordnet haben. je mehr Verordnungen, desto größer die Geschenke. Für fünf Patienten gab es einen Flachbildschirm oder einen iPod, für sieben Patienten einen DVD-Recorder, für zwölf einen sehr schönen JURA-Kaffee-Vollautomaten, für vierzehn das Navigationssystem TomTom Go, ab achtzehn dann Laptops, Beamer, Computer mit Drucker, was die Ärzte halt gerade so brauchten.” „Geben Sie auch elektronische Geräte?” „Nein. Das ist doch primitiv! Es würdigt den Verordner herab, der das entgegennimmt, finde ich.” „Wie machen Sie es stattdessen?” „Geld. Wir übergeben einen Scheck. Dann kann der Arzt damit machen, was er will.” „Und als Verwendungszweck schreiben Sie drauf: Umsatzbeteiligung Veclimed?” „Nein. Natürlich nicht. Wir rechnen diese Summen als Referentenhonorare ab. Oder lassen einen Fachartikel schreiben und setzen den Namen des Arztes davor. Dann wäre das ein Artikelhonorar.” „Ist das legal?” Assmuss schwieg erschöpft. Er atmete heftig. „Wann komme ich hier raus?”, fragte er leise. „Warum wollen Sie das alles wissen, Henry?” „Wir sind auf einem guten Weg. Vielleicht bringe ich Sie morgen Abend oder übermorgen hier raus, und Sie sind wieder frei. Es hängt davon ab, wie gut Sie mitarbeiten. Aber wir sind auf einem guten Weg. Ich will nur verstehen, wie Sie Ihren Beruf ausüben. Mehr will ich nicht. Und wenn ich das weiß, sind Sie wieder ein freier Mann.” „Wirklich?” „Ja. Vertrauen Sie mir. Also: Ist das legal?” „Nun ja, die ärztliche Berufsordnung verbietet es, dass Ärzte für die Verordnung von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln oder Medizinprodukten eine Vergütung oder andere Vorteile für sich oder Dritte fordern, sich oder Dritten versprechen lassen oder annehmen – das ist nahezu die wörtliche Formulierung. “ „Trotzdem nehmen Ärzte Ihre Vergütungen für sinnlose Anwendungsbeobachtungen an? Wie viele Ärzte nehmen das Geld?” „Nach unseren Untersuchungen ist die Hälfte der Ärzte – wie soll man sagen? – aufgeschlossen.” „Jeder zweite Arzt ist korrupt?” „Dieses Wort vermeiden wir.”

Aus Alt mach Neu
„Bringen Sie dann ein besseres Medikament?” Assmuss schwieg. Henry lehnte sich im Stuhl zurück: „Bringen Sie dann ein besseres Medikament?” Assmuss zog die Luft tief durch die Lunge ein, als wolle er eine innere Barriere überwinden. „Darum geht es nicht”. sagte er. „Es geht darum, wieder ein Hochpreis-Medikament für die betreffende Krankheit zu haben und zu verhindern, dass die Ärzte Nachahmer-Präparate verschreiben. Es geht um die 40 Prozent.” „Das neue Präparat ist also keine Verbesserung?” „Ich gebe zu: Meist verändern wir nur ein paar Moleküle, aber im Grunde ist es immer noch unser altes Präparat. Es bekommt einen neuen Namen, wir haben ein neues Patent, und nun werfen wir die Maschine an, um die Kundschaft, also die Ärzte, zu überzeugen, dass sie das neue Produkt verschreiben.” „Das teurere, obwohl es ein billigeres, identisches gibt?“ „Ja.” „Und es gelingt Ihnen tatsächlich, die Ärzte davon zu überzeugen?” „Wir haben eine gewisse Erfahrung auf diesem Gebiet. Wir haben hart an dem Mythos gearbeitet, dass ein neues Medikament auch ein besseres ist.” „Das ist nicht so?” „Natürlich nicht. Wir bringen neue Medikamente nicht aus medizinischen, sondern aus kommerziellen Gründen. Ältere Medikamente haben, unter medizinischen Gesichtspunkten gesehen, oft den Vorteil, dass sie besser untersucht sind, dass man ihre Nebenwirkungen kennt und so weiter. Meine Aufgabe ist aber eine völlig andere. Ich habe dafür zu sorgen, dass Ärzte möglichst teure Medikamente verordnen, und zwar die von Peterson & Peterson.“ „Dann schlagen Sie zum Beispiel Anwendungsbeobachtungen vor oder Sie liefern iPods für jeden Patienten?“ „Peterson & Peterson gibt grundsätzlich keine Sachleistungen.” Henry lachte kurz. „Sorry, ich vergaß, Sie bevorzugen Geld.” „Es ist ein hartes Geschäft.” „Ich verstehe langsam. Ihre Aufgabe besteht darin, die Ärzte dazu zu bewegen, teure Medikamente zu verschreiben, obwohl es auch günstigere gibt, die genauso gut wirken.” „Das ist sicher ein Teil meiner Aufgabe. Genauer könnte man sagen: Meine Aufgabe ist es, mindestens so viel Geld aus den Krankenkassen auf die Konten von Peterson & Peterson zu leiten, dass die geplante Rendite erreicht wird. Das geht nun mal nicht mit billigen Medikamenten.” „Haben Sie noch weitere Tricks auf Lager?” „Das sind keine Tricks, noch nicht einmal besondere Geheimnisse. Das hat sich so eingespielt. Man kann das sogar in Büchern nachlesen. Die Öffentlichkeit und die Regierung akzeptieren dieses Verfahren.” „Ok. Ich verstehe. Aber hin und wieder bringen Sie doch ein neues Medikament auf den Markt, eine Innovation. Ich meine, Sie forschen doch auch?” Assmuss schien sich innerlich zu verbiegen. Er sah Henry an und schwitzte. „Sie wollten kooperieren.” „Nun gut, in der Branche gibt es so etwas wie einen Forschungsstillstand. Wir hängen das nicht an die große Glocke, verstehen Sie?” „Nein. Erklären Sie es mir.” Assmuss zögerte kurz und atmete mit einem leichten Stöhnen aus, bevor er weitersprach: „Es ist so: Zwischen 1990 und 2009 sind etwas mehr als 550 neue Wirkstoffe auf den Markt gekommen. Davon waren aber nur acht eine echte Innovation, eine übrigens von Peterson & Peterson. Zwischen 40 und 50 hatten einen kleinen, beschränkten Zusatznutzen, nicht der Rede wert. Der Rest, also 90 Prozent, waren genauso gut, manche auch schlechter als die Vorläufermedikamente. Sie waren nur teurer.” „Wie viel gibt Ihre Firma für Forschung und Entwicklung neuer Medikamente aus?” „Nun, Peterson & Peterson ist ein forschendes Arzneimittelunternehmen. Wir sind aus der Forschung entstanden. Der Firmengründer ... “ „Wie viel Prozent, Assmuss? Wie viel Prozent Ihres Gewinnes stecken Sie in Forschung und Entwicklung?” Assmuss sah ihn gequält an. „Zehn Prozent”, brachte er schließlich heraus. „Zehn Prozent stecken wir in die Forschung.” „Assmuss, von diesen zehn Prozent - wie viel verwenden Sie, um wirklich neue Medikamente zu erforschen?” „Um ehrlich zu sein”, sagte Assmuss, „stecken wir fast alles in Nachfolgeprodukte unserer patentgeschützten Medikamente.” Er senkte den Kopf. Dann blitzte helle Empörung aus ihm heraus: „Wissen Sie, was die Entwicklung eines neuen Medikamentes wirklich kostet? Die Studien? Die Zulassungen? Es rechnet sich einfach nicht.” „Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie die Forschung nach neuen Medikamenten eingestellt haben? Dass Sie nicht mehr wirklich forschen?” Assmuss gewann seine Fassung zurück. In einem fast belehrenden Ton sagte er: „Forschung nach neuen Substanzen sind Kosten. Kosten sind ein beständig zu eliminierendes Element.” „Das heißt, Sie erklären mir gerade, dass dieses System funktioniert? Ich meine, Sie verkaufen immer nur Abwandlungen der immer gleichen Arzneien?” Assmuss schwieg, fast ein wenig beleidigt. „Wie viel geben Sie für Marketing und Werbung aus?” „Für Marketing und Werbung? Round about vierzig Prozent”, sagte Assmuss. „Viermal so viel für Werbung wie für Forschung?” „So funktioniert unsere Branche nun einmal. Wir haben ein Innovationsloch. Niemand weiß das besser als die Vorstände der großen Pharmakonzerne.” „Aber sie forschen ja auch kaum mehr ...” „Es ist billiger, alte oder ältere Medikamente zu recyceln, als neue zu entwickeln. Leider ist das so.” „Und die wenigen neuen Substanzen? Wo kommen die her?” „Nun, wir beobachten sehr genau, was an den staatlichen Universitätskliniken geschieht. Dort wird geforscht. Wir haben das ganz gut im Griff. Eine eigene Abteilung bei uns steuert das. Wir sponsern systematisch Institute, Lehrstühle, Kolloquien und Studien.” „Und dann?” „Dann kaufen wir die Ergebnisse. Oder nehmen sie in Lizenz. Wissen Sie”, Assmuss beugte sich nach vorn und sprach nun leise, „die Unikliniken sind froh, wenn wir ihnen drei oder vier Millionen zahlen. Das ist für die viel Geld.” „Es gibt keinen Aufschrei in der Wissenschaft, wenn sie so übers Ohr gehauen werden?” „Sie kennen diesen Betrieb nicht, nicht wahr, Henry?” „Nein.” „Viele Institute von deutschen Universitätskliniken hängen von Drittmitteln ab. Von unserem Geld also. Arbeitsplätze, Karrieren junger Wissenschaftler sind direkt davon abhängig. Wir achten darauf, dass gerade junge Forscher schon früh den Umgang mit Drittmitteln lernen. Sie müssen es für selbstverständlich erachten, dass ohne Drittmittel nichts geht. Dies entwickelt antizipative Umgangsformen bei den Wissenschaftlern.” „Erläutern Sie das.” „Beide Seiten sind klug genug zu wissen, wie es läuft. Man muss nicht mehr darüber reden. Wir geben das Geld und wir lassen wissen, wie wir uns das Ergebnis einer Studie oder was auch immer vorstellen. Die jungen Leute merken bald: Wenn sie sich mit uns gutstellen, geht es voran, gibt es Geld, gibt es neue Stellen.” „Aber diese Forschung wurde doch von den Bürgern aus Steuergeldern bezahlt?” Assmuss nickte. „Von uns nur zu einem kleinen Teil.” „Und was machen Sie daraus?” „40 Prozent”, sagte Assmuss.

Die Pharma-Drücker
„Ich fasse unser Gespräch von heute zusammen: Die Pharmaindustrie forscht nicht wirklich, sie motzt nur alte Medikamente auf, weil das billiger ist, als neue innovative Arzneien zu entwickeln. Wenn es eine Innovation gibt, dann kommt die aus öffentlichen Uni-Kliniken, weitgehend finanziert mit öffentlichen Geldern. Die Ergebnisse dieser Forschungen kaufen die Firmen günstig und verdienen viel damit. Ist das so weit richtig?” „Ich würde das anders ausdrücken.” Henry fragte: „Die angeblichen neuen Medikamente bringen Sie mit einem riesigen Marketingaufwand bei den Ärzten unter. Wie funktioniert das?” „Nun, wir haben unsere Pharmareferenten. Etwa 20.000 gibt es davon in Deutschland. Wir allein beschäftigen etwa 3.000.” „Pharmareferent. Mmh. Ich habe noch keinen kennengelernt. Was macht ein Pharmareferent?” Er sagte: „Unter uns: Es ist ein Scheißjob. Wir sammeln die abgebrochenen Mediziner ein, Biologen ohne Job, Studienabbrecher aller Art. Die Leute sind sprechendes Marketingmaterial.” „Sie sind was?” „Sprechendes Marketingmaterial. So sagen wir dazu, auf Vorstandsebene.” „Was tun diese Leute?” „Das kann ich Ihnen genau sagen, Henry: An ein oder zwei Tagen im Jahr gehe ich mit meinen Leuten raus, an die Front, also zu den Verordnern. Schließlich muss ich ja wissen, wie die Arbeit dort läuft. Erstaunlicherweise finden meine Leute das gut, sie finden es toll, dass der Chef an ihrem Arbeitsalltag teilnimmt oder so etwas Ähnliches.” Assmuss lachte sein Lachen, das wie ein Meckern klang. „Diese Arbeit”, fuhr er dann fort, „das habe ich dabei bemerkt, hat etwas Absurdes an sich. Es ist ein Scheißjob. Ein normaler Arztbesuch dauert oft nur wenige Minuten. Aber für die paar Minuten wartet der Pharmareferent oft Stunden, sitzt im Wartezimmer, schleicht durch die Gänge der Klinik, hockt stundenlang in der Cafeteria. Die Verordner haben immer weniger Interesse an einem wirklich vertieften Gespräch mit den Pharmareferenten. Dazu kommt: Wir machen strenge Vorgaben: Ein Referent von Peterson & Peterson muss zehn Besuche pro Tag erledigen. Über jeden Besuch wollen wir einen Bericht. Manchmal erfinden die Referenten Teile ihres Berichts, denn wahr ist, dass die meisten Verordner höchstens einen knappen Händedruck für sie übrig haben. Manche unserer Leute müssen sich mit einer Arzthelferin zufriedengeben. Manche Ärzte sind betont schroff, um sie sich vom Leib zu halten. Denn Sie müssen wissen: Bei der großen Zahl an Firmen bekommt jeder Arzt mehrmals am Tag Besuch vom Pharmareferenten. Motivierend ist das alles nicht. Wir feuern pro Jahr fünf oder sechs Mitarbeiter, wenn‚s geht fristlos, um die Moral in der Truppe zu halten - aber es ist und bleibt ein Scheißjob.” „Die kommen zu den Ärzten gar nicht durch?” „Es wird immer schwieriger. Deshalb arbeitet die Branche lange schon mit diesen Geschenken, von denen wir schon sprachen. Mit Einladungen zum Abendessen kann man nicht mehr landen. Wer will schon mit einem Pharmareferenten zu Abend essen? Und dabei möglicherweise noch von einem Kollegen gesehen werden? Die alten Witwer gehen gern mal mit einer jungen Referentin aus, aber das hat alles keine rechte Zukunft mehr,” „Trotzdem machen Sie das?” „Es wird immer schwieriger. Die Ärzte werden immer kritischer. Sie nehmen immer weniger Geschenke an. Die Klinikleitungen beobachten unsere Tätigkeit zunehmend aufmerksam, manchmal fast feindselig.” „Trotzdem finden Sie immer noch Leute, die das machen?” „Referenten verdienen gut. Sie bekommen bei uns einen A6 als Firmenwagen. Sie müssen nicht viel denken, nur fleißig sein. Man kann damit eine Familie ernähren. Es melden sich immer noch mehr als genug Bewerber. Aber sie sind auch ein Kostenfaktor, vergessen Sie das nicht. Überlegen Sie mal: Wir geben pro Referent im Jahr 130.000 Euro aus, also für Gehalt, Wagen, Spesen, Innendienst und so weiter. Das macht 390 Millionen – nur für die Personalkosten in diesem Bereich. Eine Infobroschüre ist davon noch nicht gedruckt. Die Branche gibt etwa 2,5 Milliarden Euro nur für die Referenten aus.” „Aber wenn es sich nicht lohnen würde, würden Sie das doch nicht machen.” „Es bleibt immer was hängen. Alle Studien sagen, dass die Ärzte, selbst wenn sie den Pharmareferenten behandeln wie einen Fußabtreter, dann doch unsere Medikamente verordnen – jedenfalls häufiger, als wenn wir nicht ständig in der Praxis stehen würden.

Goldgrube Krebsmittel
„Als ich zu Peterson & Peterson kam, habe ich alles umgekrempelt. SAP eingeführt, den Vorstand ausgewechselt, MCKINSEY ins Haus geholt, was man eben so macht, wenn man einen großen Laden übernimmt. Footsteps setzen, wie man so sagt. Aber auf den entscheidenden Gedanken bin ich selbst gekommen. Wer sind unsere Kunden, wollte ich wissen. Wer schluckt unsere Medikamente? Diese Analyse hat unser Geschäftsmodell geändert. Auf Grund meiner Analyse, das darf ich sagen, hat Peterson & Peterson in Europa eine Gewinnexplosion erlebt, die es in dieser Firma noch nie gegeben hat. – Kann ich noch einen Schluck von diesem wirklich vorzüglichen Barbera haben?” „Sicher.” Henry hatte ein komplettes italienisches Menü zum Mittagessen mitgebracht. Bruschetta, Vitello tonnato, Spaghetti alle vongole und drei Flaschen Barbera d‘alba DOC. Er hatte alles in Tupperdosen umgefüllt: kein Hinweis auf das Lokal, in dem er das Essen und den Wein gekauft hatte. Assmuss merkte diese Sorgfalt wohl. Er interpretierte es als gutes Zeichen. Wenn er mich umbringen wollte, würde er sich solche Mühe nicht geben. Und zum ersten Mal aß Henry, trotz schwarzer Maske, zusammen mit ihm. „Also mit dem Wein muss ich vorsichtig sein. Wahrscheinlich bin ich gleich betrunken, hab ja seit Tagen keinen Alkohol mehr getrunken.” „Wird schon nicht so schlimm werden”, sagte Henry und schenkte Assmuss nach. „Ich habe, das darf ich wirklich sagen, in aller Bescheidenheit, das Geschäftsmodell in der gesamten Branche völlig revolutioniert.” „Und? Wer schluckt Ihre Medikamente?” „Die Analyse ergab, dass wir 42 Prozent unseres Umsatzes mit nur drei Prozent der Patienten machen.” „Was sind das für Patienten, diese drei Prozent?” „Ja, das ist die Frage nach der Zielgruppe. Eine zweite Frage ist aber viel interessanter.” „Nämlich?” „Wie hoch sind die Jahrestherapiekosten dieser Zielgruppe und wie kann man sie steigern?” „Ich bleibe aber erst mal bei meiner Frage: Was sind das für Patienten?“ „Nun.”Assmuss wand sich. „Das sind die final Erkrankten”, sagte er schließlich. „Final Erkrankte?” „Menschen, die nicht mehr gesund werden.” „Sie meinen todkranke Patienten?” „Wenn Sie wollen, Henry, sagen Sie Todkranke. Mir gefällt der Ausdruck nicht.” „Wie Sie wollen. Sie stellten also fest, dass Sie mit diesen Tod ... , also mit dieser Zielgruppe 42 Prozent Ihres Umsatzes machen?” „Genau. Eine wachsende Zielgruppe übrigens. Sie müssen wissen: In Deutschland erkranken jährlich 450.000 Menschen an bösartigen Tumoren, also an Krebs. Davon sterben 216.000 Patienten. Wir gehen davon aus, dass diese Zahl bis 2050 um 30 Prozent steigt, weil die Bevölkerung immer mehr altert.” „Die Todkranken sind eine wachsende Zielgruppe?” „So ist es.” „Sie nennen diese Menschen Zielgruppe.” „Nun ja. Aber Peterson & Peterson hat durchaus auch ethische Zielsetzungen. Wir engagieren uns zum Beispiel sehr gegen Sterbehilfe durch Ärzte. Wir sind dafür, dass Ärzte mit scharfen Sanktionen zu rechnen haben - selbst wenn es sich um passive Sterbehilfe handelt.” Der Entführer schwieg. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Henry, sind Sie böse? Ich kooperiere. Das sehen Sie doch. Ich bin guten Willens. Ich erzähle es, wie es ist.” „Dann erzählen Sie jetzt von Ihrer bahnbrechenden Idee.” „Meine Idee war zielgruppenorientiertes Marketing. Kann ich noch die letzte Bruschetta haben?” „Bitte. Nehmen Sie nur.” Assmuss steckte sich die Bruschetta vollständig in den Mund und begann fast gleichzeitig zu sprechen. „Bei den herkömmlichen Therapien lag der Umsatz pro Patient bei 10.000 bis 15.000 Euro im Jahr. Wissen Sie, was ich mich fragte?” „Sagen Sie es mir?” „Wie steigere ich die Jahrestherapiekosten auf 100.000 Euro und mehr.” Henry nahm den Schreibblock und zog einen Kugelschreiber aus der Hosentasche. „Stopp. Ich möchte mal rechnen”, sagte er. Er schrieb: 450.000 Neuerkrankungen x 15.000 Euro Therapiekosten = 6750.000.000. Er fragte: „Was ist das für eine Zahl? Ist das schon eine Billion?” Assmuss lachte: „Nein, leider nicht. Das sind 6,75 MilliardenEuro.”Henry rechnete erneut. 450.000 x 100.000 = 45.000.000.000. „Das sind 45 Milliarden.” „Pro Jahr”, sagte Assmuss. „Sie wollten Ihren Umsatz von 7 auf 45 Milliarden Euro steigern?” „Nein, das sind die Zahlen des Gesamtmarkts. Da sind leider NOVARTIS und die lieben anderen Kollegen mit drin. Wir haben nur einen marketshare von 20 Prozent.” „Einen was?” „Marketshare. Einen Marktanteil.” „Gut, lassen Sie mich rechnen.” Henry schrieb erneut. 20 % von 7 = 1,4; 20 % von 45 = 4,5 x 2 = 9.„Sie haben den Umsatz von PETERSON & PETERSON von 1,4 auf neun Milliarden Euro gesteigert!” „Das haben wir noch nicht vollständig geschafft, aber wir sind auf einem guten Weg. Leider haben unsere Wettbewerber unsere Strategie sehr schnell analysiert, ihre Vorteile erkannt und sie dann kopiert.” „Das heißt?” „Die Strategie besteht aus zwei Elementen. Erstens: neue Substanzen, zweitens: neue Vertriebsstrategie.” „Fangen wir mit den neuen Substanzen an.” „Die vorhandenen Präparate konnten wir nicht einfach verteuern. Deshalb suchten wir neue Produkte, bei denen wir ein völlig neues Preisgefüge im Markt etablieren konnten.” „Das habe ich ja schon gelernt. Sie können die Preise festlegen, wie Sie wollen.” „Ja, wenn sie zugelassen sind.” „Was sind das für neue Substanzen?” „Es sind neue Wirkstoffe gegen Krebs. Diese Antikörper oder Enzymstoffe greifen in die kranke Zelle direkt ein und bekämpfen molekulare Ziele. Sie richten sich also direkt und ausschließlich gegen die Krebszelle. Die Chemotherapien greifen ja gesunde und kranke Zellen gleichzeitig an. Verstehen Sie?” Das klingt nach einem großen Fortschritt.” „Sehen Sie, so haben wir das auch dargestellt.” „Ihr Produkt heißt Visceratin.” „Ja. Dieses Produkt hat unseren free cash flow nachhaltig verändert, also unser freies Geld. Die Barmittel.” „Sie haben gute Geschäfte mit Visceratin gemacht, wollten Sie sagen?” „Sensationelle Geschäfte.” „Wie viel kostet das Medikament?” „Es ist uns damit gelungen, die Jahrestherapiekosten auf 114.835 Euro hochzufahren.” „Macht Visceratin die Patienten wieder gesund?” „Gesund? Nein. Aber wir verlängern das Leben der krebskranken Menschen.” „Wirklich?” „Ja. Da darf der Preis doch wirklich nicht das erste Kriterium sein. Zumal – den bezahlen doch die Krankenkassen. “ „Wie lange verlängert dieses Medikament das Leben?” „Nun, da kann ich Ihnen sagen, Henry, dass wir bei fortgeschrittenem Lungenkrebs erstmals die Schallmauer von zwölf Monaten Überlebenszeit durchbrochen haben. Wir konnten sie auf 12,3 Monate steigern und arbeiten an weiteren Verbesserungen.” „Das hört sich gut an.” „Nicht wahr? Sie wirken nachdenklich, Henry” „Sagen Sie, Assmuss, wie hoch war die Überlebenszeit ohne Ihr Medikament?” Dirk Assmuss schwieg. „Kann ich noch ein Glas von dem Barbera haben?” Henry goss schweigend nach. „Nun, ohne Visceratin sterben die Patienten im Durchschnitt nach 10,3 Monaten, mit unserem Medikament sind es 12,3 Monate.” „Und das nennen Sie eine Schallmauer? Zwei Monate!” Plötzlich schrie Assmuss: „Es geht um den Preis, den Umsatz. Verstehen Sie das denn nicht? Und die anderen machen es doch genauso!”

Die Zulassungsstudien
„Was ich nicht verstehe”, sagte Henry. „Sie müssen diese neuen Medikamente doch irgendwie zulassen. Die werden doch sicher geprüft. Oder nicht?” Assmuss hatte rotgeäderte Augen. Auch Nase und Wangen waren rot. Der schwere italienische Rotwein wirkte. Er stützte den Kopf in beide Hände. „Ja sicher. Wir müssen den Nachweis führen, dass das Medikament wirkt. Wenn wir das nachweisen, wird es zugelassen. Die Behörde ist die Europäische Arzneimittelagentur. EMA steht für European Medicines Agency. Sprechen Sie Englisch, Henry?” „Nicht fließend. Ich kann mich verständigen.” Wieder eine kleine Information, die dir das Genick brechen wird. Wenn ich erst mal hier draußen bin. „Wir führen Studien durch. Die EMA prüft sie. Und entscheidet. Das ist ein eingespieltes Verfahren.” „Wer finanziert diese Studien?” „Das ist unterschiedlich. Ein Großteil dieser Studien und klinischen Tests wird von uns, also der pharmazeutischen Industrie, bezahlt. Andere bezahlt die öffentliche Hand: Universitätskliniken.” „Nehmen Sie Einfluss auf die Ergebnisse dieser Studien, enn Sie sie bezahlen?” „Nun, das ist nicht so einfach. Da gibt es hohe wissenschaftliche Standards, die wir einhalten müssen.” „Das beantwortet meine Frage nicht.” „Es gibt ja diese Studie über die Studien. Kennen Sie die?” „Nein.” Noch eine kleine Information, die für deine Verhaftung vielleicht wichtig ist, Henry. „Nun, diese Studie über die Studien besagt, dass die klinischen Tests, die von der pharmazeutischen Industrie bezahlt werden, häufiger zu einem positiven Ergebnis über die zu testenden Medikamente kommen als die Studien, die ohne uns finanziert werden.” „Und? Wie nehmen Sie Einfluss?” Assmuss schwieg. Er hatte den Kopf gesenkt. Seine Kiefernmuskeln bewegten sich auf und ab. Es arbeitete in dem schweren Mann. „Wir können uns morgen weiter unterhalten”, sagte Henry. „Vielleicht brauchen Sie eine Pause.” Assmuss hob den Kopf und starrte Henry an. „Ich will hier raus”, schrie er. „Ich brauche keine Pause.” „Gut. Wie Sie wollen. Also zurück zu den Studien. Wie nehmen Sie Einfluss?” Assmuss atmete schwer. „Nun, wir haben da natürlich langjährige Erfahrungen. Die Ergebnisse fallen verschieden aus, je nachdem, was gefragt wird oder was nicht gefragt wird. Wichtig ist die Auswahl der Patienten, welche ein- oder ausgeschlossen werden. Wichtig ist auch, womit verglichen wird.” „Geht es noch etwas genauer?” „Wenn wir eine schwache Substanz haben oder eines unserer Nachfolgeprodukte, dann vergleichen wir sie mit einem Placebo. Dann stellt sich eine gewisse Wirkung fast von allein ein, und wir haben den Nachweis, den wir für die EMA brauchen.” Assmuss schwieg. Henry sagte: „Also, ich habe keine Lust, Ihnen jeden Wurm einzeln aus der Nase zu ziehen. Entweder Sie reden jetzt oder schmoren weiter hier in Ihrer Höhle. Vielleicht finden Sie‚s ja gemütlich hier.” Assmuss warf ihm einen Blick zu, in dem Henry nur das Weiße von Assmuss‘ Augen sah. „Wir dosieren den Wirkstoff niedriger, dann treten weniger Nebenwirkungen auf. Wir nehmen junge Testpersonen, auch bei denen treten Nebenwirkungen seltener auf als bei älteren oder Kranken.” „Testen Sie Krebsmedikamente an Personen, die die Krankheit erst im Anfangsstadium haben?” „Was werfen Sie mir vor, Henry? Das machen alle so. Warum haben Sie mich genommen? Warum nicht irgendeinen meiner Kollegen? Warum ich?” Er schluchzte. Vielleicht war es der Rotwein, vielleicht Verzweiflung. Plötzlich standen Tränen in den Augen des mächtigen Mannes. „Warum ich, Henry? Ich arbeite, seit ich denken kann, in dieser Branche. Ich bin erfolgreich. Ich werde nicht kritisiert, außer von gewissen Journalisten. Ich habe das Verdienstkreuz. Ich speise im Kanzleramt. Ich bin ein angesehener Bürger dieses Landes. Wir spenden an die CDU. Wir spenden sogar an die SPD und ein bisschen an die Grünen. Was wollen Sie von mir?” „Ich will nur verstehen, Assmuss. Mehr nicht.” Assmuss seufzte. „Warum lesen Sie dann nicht das arzneimittel-telegramm? Dort war zu lesen von einer Studie der Universität Edinburgh. Demnach räumte ein Drittel der befragten Forscher ein, dass sie Daten aufgrund eines Bauchgefühls fallen lassen. Sie verändern das Design der Studien, an denen sie arbeiten, sie verändern die Methode oder die Ergebnisse, oft wegen des Drucks, der von den finanzierenden Institutionen ausgeübt wird.” „Und das macht auch Peterson & Peterson?” „Ja. Aber Henry, ich kann es immer wieder sagen: Peterson & Peterson ist doch nicht alleine auf der Welt. Sie kennen doch die firmeninternen Schulungsunterlagen von PFIZER, die wegen Gerichtsverfahren in den USA bekannt wurden.” „Nein, die kenne ich nicht.” „Nun, vielleicht wurden die in Deutschland nicht so bekannt. Ich kenne einiges davon auswendig.” „Ich höre.” „Die von PFIZER finanzierten Studien gehören PFIZER und nicht irgendjemandem. Der Zweck der Daten ist es, direkt oder indirekt den Verkauf unseres Produkts zu unterstützen.“ So steht das da, Henry. Und so denkt jeder in der Branche. Und weiter heißt es: „Deshalb ist die Marketingabteilung immer einzubeziehen, wenn Studiendaten verbreitet werden.“ So sieht's aus. „Weiter!” „Nun”, sagte Assmuss resigniert, „wir veröffentlichen Studien nicht, wenn sie nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. Oder wir brechen sie ab und setzen sie neu auf, vielleicht mit anderen Testpersonen, anderem Design oder anderen Fragestellungen.” Oder anderen Dosierungen? „Oder anderen Dosierungen?” „Oder anderen Dosierungen. Ja, das auch. Studien sind Verkaufsargumente. Und wir wollen gute Verkaufsargumente. Ist das denn verwerflich? Veröffentlicht DAIMLER denn alle Ergebnisse der Crashtests? Legt die Bahn den Stresstest zu Stuttgart 21 nicht aus, wie sie ihn braucht?” „Medikamente sind keine Autos oder Kugelschreiber oder Reisetickets. In meinem laienhaften Verständnis sollen Medikamente Krankheiten heilen, vielleicht sogar Leben retten. Ist es da nicht wichtig, auch negative Studien zu kennen?” „Ich bin Geschäftsmann, Henry. Ich werde nicht danach bezahlt, wie viel Leben ich rette. Ich werde daran gemessen, ob ich vierzig Prozent Umsatzrendite mache. So einfach ist das. So sind die Verhältnisse. Und ich habe sie nicht erfunden.”

Die Werbestrategie
„Damit fing alles an. ‚Direct to consumer advertising’ heißt die Strategie, die ich entwickelt habe.” „Das heißt?” Englisch kann er wirklich nicht, dachte Assmuss. Auch das muss ich mir merken. „Das bedeutet Werbung für Medikamente direkt beim Verbraucher.” „Ist das erlaubt?” „In Deutschland verbietet das Heilmittelwerbegesetz, dass wir uns direkt an die Verbraucher wenden. Leider. Für verschreibungspflichtige Medikamente dürfen wir direkt nur bei Ärzten, Zahnärzten oder Apothekern werben.” „Und Sie tun es trotzdem?” „Nein. Die Ausgangslage verändert sich. Die jüngeren Ärzte sehen unser Engagement zunehmend kritischer. Ein Arzt hat mir mal offen ins Gesicht gesagt, er fühle sich beschmutzt, wenn er Geschenke von der Pharmaindustrie annehme. Es gibt eine Ärztevereinigung, die nennen sich WIR BEZAHLEN UNSER ESSEN SELBST. Stellen Sie sich das einmal vor! Als würden wir den Herren Doktoren nur das Essen zahlen!” Assmuss schnaufte empört. „Die wollen es nicht anders. Wir nehmen sie jetzt von einer anderen Seite her unter Feuer. Kern unserer neuen Strategie ist, dass die Patienten selbst verlangen, dass die Ärzte unsere Medikamente verschreiben. Wir wenden uns direkt an die Endverbraucher.” Henry zog die Luft durch die Nase ein, beugte sich ein kleines Stück nach vorne, als wolle er etwas sagen, schwieg dann jedoch. „Sehen Sie, der heutige Patient beschäftigt sich intensiv mit seiner Krankheit. Er liest Bücher über Gesundheitsthemen. Über Ernährung. Der moderne Patient hat ein gesteigertes Informationsbedürfnis. Wir befriedigen es.” „Auch über Visceratin?” Sie fragen nun schon zum dritten Mal nach diesem Medikament, Henry. Leiden Sie an ... “ „Ich stelle hier die Fragen.” Assmuss legte beide Arme auf seinen Bauch. Er wirkte plötzlich sehr zufrieden. Wir haben dich, Henry, dachte er. Wenn du nur einmal in deinem Leben Visceratin verschrieben bekommen hast, haben wir dich. Dein Name steht in irgendeinem Ärztecomputer. Die Polizei wird dich finden. „Ich kann Ihnen helfen, Henry. Wenn Sie es möchten. Ich kenne die besten Ärzte, die besten ... “ „Letzte Warnung: Halten Sie die Klappe und beantworten Sie meine Frage.” „Gut, Wie Sie wollen. Es war ein Angebot, Henry, mehr nicht. Wir erstellen Internetseiten für die Krankheiten, zu denen wir ein Medikament anbieten.” „Wie heißen diese Seiten?” Jetzt geht es nur noch darum, hier zu überleben. Henry ist Kunde. Es geht um ein verschreibungspflichtiges Medikament. Die Polizei wird ihn finden. Ich muss nur aus diesem Keller lebend rauskommen. „Wie heißen die Seiten?” Assmuss schreckte aus seinen Gedanken und nannte drei Internetseiten, und Henry tippte sie ein. „Assmuss - das sind Seiten von Selbsthilfegruppen.” „Klar, das ist ja das Geniale. Wir dürfen nicht werben. Wir sponsern Selbsthilfegruppen. Wir bieten ihnen an, endlich einen richtigen Internetauftritt zu gestalten. Auf unsere Kosten natürlich.” Er lachte. „Da gibt es Diskussionsforen. Da kann man sich austauschen. Erfahrungen mitteilen. Alles sieht professionell aus und nicht so selbstgebastelt wie zuvor,” „Und die Selbsthilfeorganisationen machen das mit?” „Erstens haben die kein Geld. zweitens, wenn sie nicht mitmachen, gründen wir eben neue.” „Sie gründen neue Selbsthilfeorganisationen?” „‚Direct to consumer advertising’ - die Patienten stehen im Mittelpunkt unseres neuen Marketingkonzepts. Wir informieren sie. Wir wollen, dass sie zu ihrem Arzt rennen und unsere Medikamente verlangen. Und wenn er sie nicht verschreibt, gehen sie zum nächsten Arzt. Der verschreibt sie dann ganz sicher.” Assmuss lachte wieder dieses meckernde Lachen. „Es funktioniert, Henry. Wir schulen unsere Pharmareferenten um. Sie betreuen Selbsthilfeorganisationen. Sie organisieren Veranstaltungen. Sie organisieren die Mietmäuler. Sie helfen bei ... “ „Mietmäuler?” „Sorry, Henry. Diesen Begriff dürfte ich gar nicht verwenden. Er ist mir rausgerutscht. Aber so nennt man in der Branche die Referenten, die gegen Bezahlung das Loblied auf unsere Produkte singen.” „Können das auch Oberärzte sein oder gar Klinikchefs?” „Das ist die unterste Stufe. Die setzen wir ein bei Patiententagen und Ähnlichem. Je glaubwürdiger, desto besser, Institutsleiter sind besser, die schreiben Aufsätze in den medizinischen Journalen, die wiederum die niedergelassenen oder die Fachärzte lesen.” „Und treten auf diesen Veranstaltungen auch von Ihnen bezahlte Leute auf, geben sich als Patienten aus und sagen, wie gut Visceratin bei ihnen wirkt?” „Ja. Das machen wir auch. Wir überlassen nichts dem Zufall.”

[Repression] STICHWORT BAYER 02/2014

CBG Redaktion

Die Repressionen des Konzerns

BAYER vs. CBG

Bereits seit 1978 begleitet die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN den Leverkusener Multi kritisch. Rund um den Erdball, rund um die Uhr. Unter dem Motto „Konzernmacht brechen“ haben die Recherchen, Kampagnen und Aktionen des Netzwerkes einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Geschäftstätigkeit. Beispielsweise kann das Unternehmen von 1983 an keine herkömmlichen Hauptversammlungen mehr durchführen. Entsprechend versucht der Global Player mit allen Mitteln, sich der Coordination zu erwehren. Auch gegen andere Initiativen und GewerkschaftlerInnen ergreift er Maßnahmen.

Von Jan Pehrke

Vor dreieinhalb Jahren hielt BAYERs Sicherheitschef Michael Sorge einen Vortrag, der bemerkenswerte Auskünfte über das Weltbild eines Multis gibt. Auf der Sicherheitstagung, welche die „Arbeitsgemeinschaft für Sicherheit der Wirtschaft“ (ASW) und der Verfassungsschutz jedes Jahr gemeinsam abhalten, referierte der ehemalige Polizist über die „Corporate Security eines Global Players“. Ein Diagramm, das Einfluss-Faktoren auf das BAYER-Sicherheitskonzept darstellt, zeigte den Konzern dabei allein auf weiter Flur so dunklen Mächten wie dem gesetzlichen Umfeld, den Behörden, den Medien, der Kriminalität, der politischen Sphäre im Allgemeinen und dem „Extremismus im Besonderen ausgeliefert – allesamt gelten sie ihm als „Ursachen für Global Risks“.
Anschließend widmete sich der Unternehmensschützer, der im Nebenjob das Graduierten-Programm „Security Management“ an der „European Business School“ leitet, den „Megatrends im globalen Sicherheitsumfeld“. Als Hauptbedrohungen machte er die Überalterung, die Migration, die Energieversorgung, failing states und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich aus. Besonders sorgte sich Sorge hierbei um die Mega-Citys, in denen die Auslandsgesellschaften vieler Global Player ihre Hauptsitze haben. Als Beispiel nannte er die Situation in der brasilianischen Metropole São Paulo, wo 20 Prozent der elf Millionen EinwohnerInnen in Favelas leben und es gleichzeitig so viele Hubschrauber-Landeplätze wie sonst nirgends auf der Welt gibt. Unter anderem deshalb zählte „Gesellschaftlicher Wandel abgeleitet von der Diskussion um gerechte Verteilung und Diskriminierung“ mit Erscheinungsformen wie „Militanz u. a. bei technologischen und Umweltthemen“ zu den von ihm ausgemachten Megatrends. Folgerichtig betrachtete der „Head of Global Corporate Security“ auch ganz allgemein „unterschiedlich ausgeprägte Formen des politischen Extremismus und der politischen und sozialen Agitation gegen Wirtschaft und Teile der Gesellschaft“ als Gefahr für den Pharma-Riesen.

Sicherheitsrisiko CBG
Bei einer so bestimmten Gefährdungslage liegt es nahe, dass der Leverkusener Multi die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) als Sicherheitsrisiko erachtet und gegen sie Maßnahmen ergreift. Die Auswahl der gewählten Mittel gegen die Initiative, die sich im Juni 1978 nach zwei Großunfällen im Wuppertaler BAYER-Werk gründete, reicht dabei von Verleumdungen und Prozessen über geheimdienstliche Methoden wie Bespitzelungen bis hin zu Gewalt.
Eine besondere Aufmerksamkeit widmet der Konzern dabei den alljährlichen Auftritten der Coordination auf den Hauptversammlungen. Seit 1983 besucht die CBG die AktionärInnen-Treffen regelmäßig, führt vor Beginn der Veranstaltung gemeinsam mit anderen Initiativen aus aller Welt Protestaktionen durch und stellt auf der Versammlung selber viele GegenrednerInnen, darunter zahlreiche von der CBG geladene Gäste aus dem In- und Ausland. Weil das alles viel Aufmerksamkeit erfährt, versucht der Multi mit großer Anstrengung, den Schaden möglichst gering zu halten. Er hob sogar die „Bürgerinitiative: Malocher gegen Schmarotzer“ aus der Taufe. Zusammengestellt aus Werkschutz-Leuten und anderem Personal aus den eigenen Reihen, sollte die Truppe auf den HVs den „ehrlichen Arbeiter“ gegen dahergelaufene „Berufsdemonstranten“ und „rote Vögel“ in Stellung bringen. Aber den ClaqueurInnen des Leverkusener Multis war kein rechter Erfolg beschieden, obwohl sie nach Kräften gelbe BAYER-Blumen verteilten. Es fühlten sich nämlich die Falschen als „Schmarotzer“ angesprochen: die traditionellen AktionärInnen. Und die fackelten nicht lang und gingen mit ihren Regenschirmen auf die getarnten BAYER-Leute los. Also änderte der Werkschutz sein Konzept und schlug den umgekehrten Weg ein. Er staffierte seine Mannen mit DKP-Fahnen aus, um die tausenden anreisenden BAYER-AktionärInnen und insbesondere die berichtenden Medien unter Rotschock zu setzen und sie so gegen die Konzern-KritikerInnen zu immunisieren.
Und seit Neuestem übt sich das Unternehmen darin, die Proteste mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen. Unter Berufung auf das Hausrecht drängt er die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN und die anderen Gruppen mit Hilfe von Absperr-Gittern und rot-weißen Verkehrshütchen auf ein weit vom Eingang der Kölner Messehallen entferntes Rasenstück ab, um die Aktien-HalterInnen unbehelligt ins Innere leiten zu können. Die gleiche Taktik wandte 2012 die BASF an, vor Gericht erstritt sich das GEN-ETHISCHE NETZWERK allerdings das Recht, dem Chemie-Multi künftig wieder näher auf die Pelle rücken zu dürfen.
In den Hauptversammlungen selber geht der Agro-Gigant dann ähnlich rabiat gegen diejenigen vor, die sich mit dem Kauf eines Anteil-Scheins das Aktienrecht verschafft haben, das Wort zu ergreifen und diese Gelegenheit dazu nutzen, der Geschäftsbilanz BAYERs die Schadensbilanz gegenüberzustellen. Der die Veranstaltung leitende Aufsichtsratsvorsitzende unterbricht die KritikerInnen nicht nur regelmäßig, er schaltet ihnen auch schon mal das Mikrofon ab und lässt den Rest von den OrdnerInnen erledigen. „Bitte begleiten sie diese Herren zurück zu ihren Plätzen“, hieß es etwa 1995 einmal, woraufhin 30 Mann nach vorne stürmten, CBG-Mitglieder von der Rede-Bühne holten und aus dem Raum schleiften. An der Abstimmung teilnehmen durften sie dann freundlicherweise aus dem Polizeigewahrsam heraus. Das ist dann wahre AktionärInnen-Demokratie.

Klandestine Operationen
Auch sonst schreckt der Agro-Riese vor Gewalt nicht unbedingt zurück. Bei Aktionen vor den Toren der BAYER-Niederlassungen entrissen Werksschützer den ProtestlerInnen nicht nur Transparente und Flugblätter, sie schlugen sogar schon zu. Überdies versuchten sie, CBGler mit dem Auto über den Haufen zu fahren. Selbst Morddrohungen gab es in der Vergangenheit bereits, ob in diesen Fällen wirklich der Leverkusener Multi dahintersteckte, konnte allerdings nie nachgewiesen werden.
Wie überhaupt vieles unaufgeklärt bleiben muss. So kam es im Umfeld der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN immer wieder zu Einbrüchen, etwa in die Geschäftsstelle der Initiative oder in die Büros von CBG-AnwältInnen. Die letzten Vorfälle dieser Art ereigneten sich Anfang 2012. Mehrmals hintereinander drangen Unbekannte in die Geschäfts- und Privaträume eines Vorstandsmitglieds ein. Die jeweils gewechselten Schlüsselanlagen hielten sie dabei nicht auf. Ohne Spuren zu hinterlassen, entwendeten die Diebe gezielt nur Datenträger, nachdem zuvor schon HackerInnen-Angriffe stattgefunden hatten. Deshalb fand auch die Kriminalpolizei einen Zusammenhang der Taten mit der politischen Arbeit des Konzern-Kritikers, die sich nicht bloß auf sein Engagement bei der Coordination beschränkt, plausibel. Die Ermittlungen verliefen dann jedoch im Sande.
Klandestine Operationen gehören aber durchaus zum Repertoire des Konzerns. So ließ er die CBG bespitzeln. Als die Coordination einmal zu einer schul-internen Veranstaltung geladen war, um über die Gefahren von Pestiziden zu berichten, bekam sie später aus BAYER-Kreisen ein minutiöses, dreiseitiges Werksschutz-Protokoll über den Vortrag und die anschließende Diskussion zugespielt. Und bei anderen Terminen tauchte regelmäßig ein Mann auf, der sich als freier Journalist ausgab, den CBGlerInnen aber dann auf der Hauptversammlung des Unternehmens wiederbegegnete – in der Montur des Werksschutzes. Der Global Player streitet ein solches Vorgehen im Übrigen auch gar nicht ab. So räumte ein Anwalt des Unternehmens vor Gericht einmal ein: „Selbstverständlich überwacht meine Mandantin alle Veranstaltungen, auf denen Themen behandelt werden, die für BAYER relevant sind.“ Und sichtlich stolz fuhr er fort: „Wir wissen über alles Bescheid, auch in den höchsten Entscheidungsgremien der CBG.“ Der Spiegel berichtete dann auch ausführlich über den regen Austausch zwischen BAYER und dem Verfassungsschutz. Und auf einem Treffen seiner PR-ManagerInnen aus aller Welt in Frankfurt verkündete der Konzern: „Wann immer Sie Probleme mit Journalisten haben, melden Sie uns diese ans Headquarter, wir kümmern uns darum.“
Da wundert es nicht, dass der Leverkusener Multi immer wieder auf ominöse Weise Kenntnis von geplanten Aktionen hat, wie etwa 1993. Im März diesen Jahres publizierte Tierra Amiga, die Zeitschrift eines Ökologie-Netzwerkes in Uruguay, einen kritischen Artikel über BAYERs Schmerzmittel ASPIRIN. Der Pharma-Riese reagierte postwendend. Er stritt dem Blatt das Recht ab, geschützte Markennamen auch nur zu erwähnen und forderte eine Unterlassungserklärung. Die Redaktion setzte sich umgehend mit der CBG in Verbindung. Man besprach das weitere Vorgehen und kam überein, eine Presseerklärung und einen Protestbrief zu veröffentlichen. Und bereits am nächsten Tag erhielt das Magazin einen Droh-Anruf von dem Konzern mit der unmissverständlichen Botschaft, solche Schritte besser nicht zu unternehmen. „Die Schlussfolgerung ist offensichtlich“, schrieb der Chefredakteur Jorge Barreiro in einem Kommentar: „Entweder hört BAYER auf irgendeine Art die Telefongespräche der Coordination mit oder hat jemanden dort eingeschleust. In jedem der beiden Fälle ist klar, dass BAYER einen Teil seiner Energien dazu verwendet, seine Kritiker auszuspionieren.“
Vermutungen dieser Art wurden von einem Whistleblower bestätigt, der die CBG darauf hinwies, dass es über viele Jahre hinweg in ihrem inneren Kreis einen Agenten gegeben haben soll.
Manchmal laufen solche Operationen über den Werkschutz, manchmal vergibt der Leverkusener Chemie-Multi Aufträge dieser Sorte aber auch extern, damit er für etwaige Gesetzesbrüche nicht zu haften braucht. Detekteien mit so bezeichnenden Namen wie „ManagerSOS“ bieten sich für derartige Missionen an. BAYERs US-amerikanischer Pharma-Verband PhRMA heuerte etwa private ErmittlerInnen zur Überwachung der Initiative KNOWLEDGE ECOLOGY INTERNATIONAL an, die eine Kampagne über die preistreibende Wirkung der Patent-Regelungen auf dem Pillen-Markt initiiert hatte. Das „US Chamber of Commerce“, das US-amerikanische Pendant zum BDI, setzte derweil auf seinen Gegenpart US CHAMBER WATCH sowie andere Gruppen die Spezialfirmen HBGary Federal, Palentir Technologies und Berico Technologies an. Sie beschatteten KritikerInnen und schlugen ihren Auftraggebern eine Reihe von anderen Maßnahmen wie Hacker-Angriffe und Infiltrationen vor. Zudem wollten HBGary Federal & Co. CHAMBER WATCH mit falschen Informationen füttern und den Coup später öffentlich machen, um die Glaubwürdigkeit der Organisation zu unterminieren. Wie routinemäßig sich die Konzerne der Dienste Palentirs und anderer Anbieter versichern, deckte unlängst die Untersuchung „Spooky Business – Corporate Espionage Against Non-Profit-Organisations“ auf, die zahlreiche Fälle von geheimdienstlichen Industrie-Unternehmungen dokumentierte.
Fast schon harmlos mutet es dagegen an, auf Krisen-Management spezialisierte PR-Agenturen anzuheuern. Auch BAYER hat schon solche ExpertInnen engagiert. Diese haben systematisch Veröffentlichungen der Coordination gesammelt und analysiert, um die Aktionen des Netzwerkes besser ausrechnen und medial abfedern zu können. Daneben gehört es zur Kommunikationsstrategie des Pillen-Produzenten, die CBG als einen Hort von KommunistInnen darzustellen, weil eines der Mitglieder der DKP angehört. Mit dem Feindbild „Terrorist“ arbeitet er ebenfalls gerne. So lancierte das Unternehmen 1985 die Meldung „COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN plant Sprengstoffanschläge auf Chemie-Transporte“ in die Presse – und kurze Zeit später zündete dann vor dem Brüsseler BAYER-Büro wirklich eine Bombe. Dabei dürfte es sich nach Auskunft der holländischen GREENPEACE-Sektion allerdings um Liebesgrüße aus Paris vom französischen Geheimdienst gehandelt haben, der unmittelbar danach auch das GREENPEACE-Schiff „Rainbow Warrior“ versenkte.
Manchmal setzt der Leverkusener Multis aber auch einfach darauf, KritikerInnen in der Öffentlichkeit zu isolieren. Nach einer Explosion am US-amerikanischen Standort Institute, die zwei Todesopfer forderte, empfahl ein konzern-internes Strategiepapier ein solches Vorgehen gegen die ortsansässige Bürgerinitiative PEOPLE CONCERNED ABOUT MIC (die Bhopal-Chemikalie Methylisocyanat, Anm. SWB). „Wir sollten versuchen, die PEOPLE CONCERNED ABOUT MIC zu marginalisieren und als irrelevant erscheinen zu lassen. Dies sollte gerade in der aktuell schwierigen ökonomischen Situation möglich sein, in der Arbeitsplätze so viel zählen“, lautete die Empfehlung.

Legale Operationen
Zuweilen schlägt der Leverkusener Multi zur Abwehr von KritikerInnen auch den Rechtsweg ein. In den 1980er Jahren klagte er sowohl gegen Greenpeace als auch gegen andere UmweltschützerInnen, die gegen die Einleitung von Dünnsäure in Flüsse und Gewässer protestiert hatten, und machte Schadensersatzforderungen in sechs- bis siebenstelliger Höhe geltend. 2004 gelang es BAYER vor einem englischen Gericht in einem Verfahren gegen die Tierrechtsinitiative SHAC sowie die Gruppen STOP BAYER‘S GM-CROPS, LEEDS EARTH FIRST und BAYER HAZARD, die RichterInnen dazu zu bewegen, politischen Protest als Belästigung im Sinne des „Protection against Harrassment Acts“ zu werten und Gebiete rund um Firmen-Areale und Wohnorte von Beschäftigten als Sperrgebiete auszuweisen. 2008 hatte er damit in dem Prozess „BAYER Cropscience Limited vs. STOP HUNTINGTON CRUELTY (SHAC) wiederum Erfolg. Das Urteil untersagte der Organisation, die gegen den Pharma-Riesen wegen seiner Geschäftsbeziehungen zum Tierversuchsmulti Huntington Kampagnen durchführt, künftig in der Nähe von Unternehmensniederlassungen zu demonstrieren. Ein umfangreiches Kartenwerk im Anhang des Urteils gab dabei exakt Auskunft über den Verlauf der Bannmeilen und wies den AktivistInnen als Alternative „designated protest areas“ in den hintersten Winkeln zu. Noch dazu durften diese „DPAs“ nie mehr als 20 SHAClerInnen gleichzeitig betreten und das auch nur höchstens zwei Stunden. Und erst 2013 erhielt die Freiburger BUND-Gruppe eine Abmahnung, weil sie die – inzwischen von der EU verbotenen – BAYER-Pestizide PONCHO und GAUCHO in einer Veröffentlichung als „bienengefährlich“ tituliert hatte. Diese Bezeichnung träfe nur zu, wenn innerhalb von 24 Stunden die Hälfte aller Bienen, die in Kontakt mit der Agrochemikalie gekommen waren, stürben, meinte der Konzern. Deshalb verlangte er eine Textänderung und drohte bei einer Zuwiderhandlung mit einer Vertragsstrafe in Höhe von 10.000 Euro.
Gegen die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN leitete der Leverkusener Multi bereits mehrmals juristische Schritte ein. So zwang er sie 1988, ihren ursprünglichen Namen „BAYER-Coordination“ aufzugeben. Es bestehe „die Gefahr von Verwechslungen bzw. von Zuordnungsirrtümern“, argumentierten die Konzern-AnwältInnen, welche den „Weltruf“ der Marke durch „Ruf-Beeinträchtigungen, Image-Verfremdungen und sonstige Beeinträchtigungen“ schädigen könnten. Angesichts des hohen Streitwertes von 100.000 DM musste sich die CBG ebenso fügen wie anno 2001, als das Unternehmen gerichtlich gegen den Homepage-Namen „BAYER-Watch“ vorging.
Die langwierigste rechtliche Auseinandersetzung, die für die CBG wegen der damit verbundenen Kosten existenz-bedrohend war, begann 1987. Der Agrar-Gigant betrachtete die Passage aus einem Aufruf: „In seiner grenzenlosen Sucht nach Gewinnen und Profiten verletzt BAYER demokratische Prinzipien, Menschenrechte und politische Fairness. Missliebige Kritiker werden unter Druck gesetzt, rechte und willfährige Politiker werden unterstützt und finanziert“ als Schmähkritik und forderte unter Strafandrohung „von Ordnungshaft bis zu sechs Monaten bzw. einer Geldstrafe von bis zu DM 500.000“ eine Unterlassungserklärung. Die Coordination sei „eine politische extreme Splittergruppe“, die in „ideologischer Verblendung“ handle, hieß es in der Klage-Begründung. „Wenn beispielsweise in diesem ‚Aufruf’ nachzulesen ist, der ‚BAYER-Konzern führe einen unerbittlichen Kampf um Märkte, Macht und Milliarden-Profite, der den Frieden und die Freundschaft zwischen den Völkern beeinträchtige und gefährde’, ergibt sich die Haltlosigkeit dieser Anwürfe von selbst“, hielten die Rechtanwälte in dem Schriftstück weiter fest.
Die CBG ließ es auf einen Prozess durch alle Instanzen ankommen und verlor am Ende, obwohl sie stichhaltige Beweise für Bespitzelungen und Bestechungen vorlegen konnte. Nun blieb nur noch ein Weg – der vor das Bundesverfassungsgericht (BVG). Nach reiflicher Überlegung entschloss sich die Coordination, ihn zu gehen, ungeachtet der bis dahin schon aufgelaufenen Verfahrenskosten von ca. 150.000 DM, die durch eine aufwendige Spendenkampagne zusammengetragen werden mussten. Und der Mut zum Risiko zahlte sich schlussendlich aus. 1992 hob der Erste Senat unter Präsident Roman Herzog die vorangegangenen Urteile auf. Die RichterInnen hätten es bei ihren Entscheidungsfindungen versäumt, den Grundwert „Meinungsfreiheit“ genügend zu würdigen, diesem sei aber wegen seiner „fundamentalen Bedeutung für die menschliche Person und die demokratische Ordnung“ ein besonderer Rang einzuräumen, so das BVG. BAYER nahm den RichterInnen-Spruch „mit Bedauern zur Kenntnis“. „Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, dass ehrenrührige Behauptungen vom Recht auf Meinungsfreiheit geschützt werden, wenn sie sich auf unwiderrufene Presseberichte stützen, teilt das Unternehmen nicht“, erklärte der Global Player.

Gesetze made by BAYER
Der Leverkusener Multi versucht, solche Unwägbarkeiten des Rechtssystems nach Kräften auszuschalten und nimmt deshalb massiv Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren. In den USA etwa wollte die Aktien-Gesellschaft die Gunst der Stunde nach den Anschlägen vom 11. September nutzen, um eine juristische Ausweitung des Terrorismus-Begriffs voranzutreiben und AktivistInnen so künftig als „Öko-, „Agrar- oder „Tierrechtsterroristen“ kriminalisieren zu können. Zu diesem Zweck unterstützte er die republikanischen Politiker James Inhofe, George Nethercutt und Orrin G. Hatch, die eine entsprechende Initiative ankündigten, mit großzügigen Wahlkampfspenden. Gesetzeskraft hat schließlich nur eines ihrer Projekte erlangt, der „Animal Enterprise Terrorism Act“, aber auch für Gentechnik-GegnerInnen und andere AktivistInnen wurden die Zeiten härter. Der Journalist Will Porter fühlt sich dabei schon an das Klima der McCarthy-Ära erinnert. Was damals der „Red Scare“ war, die Beschwörung des vom Kommunismus angeblich ausgehenden roten Schreckens, das ist heutzutage in den USA der „Green Scare“ mit Tierrechts- und Umweltgruppen als Feindbildern, so Porter.
Inhofe & Co. betätigen sich bei solchen Akten nur als ausführende Organe. Auf den Leib geschrieben hat ihnen den „Animal Enterprise Terrorism Act“ und andere Gesetzes-Entwürfe das „American Legislative Exchange Council“ (ALEC), eine von den Global Playern gesponserte JuristInnen-Vereinigung, die als Bindeglied zwischen der Wirtschaft und den Republikanern fungiert. Nach einer vom „Center For Media and Democracy“ veröffentlichten Untersuchung hat ALEC, in dessen Führungsgremien auch BAYER-ManagerInnen sitzen, allein von Januar bis August 2013 fast 1.000 „Unternehmenspositionen“ in den Gesetzgebungsprozess eingebracht. Unter anderem standen die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, Lohnreduzierungen, Absenkungen von Arbeitsstandards und die Erschwerung der Strafverfolgung von Konzernen auf der ALEC-Agenda.
Auch zur Exekutive bestehen enge Kontakte. So gehört der Chemie-Riese in den USA INFRAGARD an, einem Joint Venture zwischen Unternehmen, dem FBI und dem „Departement of Homeland Security“, deren Mitglieder sich gegenseitig über sicherheitsrelevante Fragen informieren. Hierzulande existiert seit 2006 eine entsprechende Kooperation zwischen den Multis und dem Bundeskriminalamt. Dabei setzt vor allem die Behörde auf Synergie-Effekte, denn: „Personell kann das BKA kaum mit den Konzernen konkurrieren“, wie die Zeit festhält. Von den gut besetzten „Corporate Security“-Abteilungen der Firmen erhofft sich die Kriminalpolizei des Bundes unter anderem detailliertere Informationen über die ETA in Spanien und die russische Mafia.
Ebenfalls seit 2006 finden die jährlichen Sicherheitstagungen von Verfassungsschutz und „Arbeitsgemeinschaft für Sicherheit der Wirtschaft“ (ASW) statt. Referate wie „Politischer Extremismus und seine Auswirkungen auf die Wirtschaft“ bzw. „Linksextremismus und seine Auswirkungen auf die Wirtschaft“ zeichnen BAYER & Co. auf den Konferenzen ein Bild der momentan angeblich herrschenden Gefahren-Lage, gewähren schon einmal Ausblicke auf kommende Ereignisse („Mobilisierung gegen G8-Gipfel 2015 in Deutschland beginnt“) und geben Hilfe zur Selbsthilfe („Was können Sie selber tun?“).
Zu den unteren Ebenen der Exekutiv-Organe hat der Leverkusener Multi auch gute Verbindungen. Anfang der 1980er Jahre nutzte er den kurzen Dienstweg zum Wuppertaler Polizeipräsidenten, um diesen anzuhalten, der CBG die Gemeinnützigkeit zu bestreiten. Der tat wie geheißen und unterwies das Amtsgericht Solingen postwendend, die „Förderung zu unterbinden“. Im Ergebnis wurde die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN auf diese Weise schließlich dauerhaft von dringend benötigten finanziellen Ressourcen abgeschnitten.
Und Ende der 1980er Jahre gelang es dem Unternehmen durch die guten Beziehungen, die es zur Evangelischen Kirche im Rheinland unterhält, dafür zu sorgen, dass das damalige CBG-Vorstandsmitglied Friedel Geisler ihren PastorInnen-Titel verlor. Die Leitung erkannte ihn ihr 1988 ab, nachdem sie Geisler zuvor immer wieder vergeblich zu einem freiwilligen Verzicht aufgefordert hatte, weil sie mit ihrer „BAYER-Arbeit dem Ansehen der Kirche“ schade.

Druck auf GewerkschaftlerInnen
Auf der Sicherheitstagung im Jahr 2010 sah BAYERs Sicherheitschef Michael Sorge die Corporate Security jedoch nicht nur durch äußere, sondern auch durch „innere“ Einflussfaktoren gefährdet. Als Risiken benannte er hier unter anderem den „Wertewandel bei den Mitarbeitern“ und die „Abnahme des Zugehörigkeitsgefühls zum Unternehmen“.
Besonders Gewerkschaften können dieses Zugehörigkeitsgefühl untergraben. Darum übt der Leverkusener Multi immer wieder Druck auf GewerkschaftlerInnen aus. So wollte er 1985 der Betriebsrätin Marianne Hürten kündigen, die als grüne Spitzenkandidatin für den nordrhein-westfälischen Landtag kandidierte. Der Konzern hatte sie bei Wahl-Veranstaltungen beobachtet und stieß sich an ihren Äußerungen. Sie habe sich kritisch und polemisch „zu Fragen der Dünnsäure-Verklappung geäußert“, meldete der Werkschutz: „Sie hat von Dioxin und Cadmium bei der BAYER-Produktion gesprochen, BAYER der Profitgier bezichtigt und behauptet, dass die Vergiftungen in Spanien auf das BAYER-Produkt NEMACUR zurückzuführen seien.“ Es folgte ein Abmahnungsschreiben. „Ihr Auftreten im Wahlkampf 1985 war geeignet, dem Unternehmen schweren Schaden zuzufügen (...) Arbeitsrechtlich stellt ihr Verhalten eine schwere Vertragsverletzung dar“, hieß es darin unter anderem. Hürten ließ sich aber nicht einschüchtern, zog vors Arbeitsgericht und erreichte ihre Weiterbeschäftigung. Allerdings nur, bis ihre Zeit als gewählte Betriebsrätin ablief. Dann musste sie gehen bzw. ging freiwillig. Anno 1989 reagierte die brasilianische BAYER-Niederlassung auf einen Streik am Standort Belford Roxo mit der Entlassung von 64 Beschäftigten und noch im Jahr 2000 entledigte sich der Global Player auf den Philippinen eines kritischen Gewerkschaftlers durch ein Kündigungsschreiben.
Im Idealfall lässt der Konzern es gar nicht erst so weit kommen und hintertreibt die Gründung von Beschäftigten-Vertretungen, womit er sich in der schlechten Gesellschaft diverser anderer bundesdeutscher Unternehmen befindet. Bei einem Deutschland-Besuch kritisierte der kolumbianische Gewerkschaftler Guillermo Correa Montoya darum neben SIEMENS und DHL auch den Leverkusener Multi: „Ein anderes Beispiel ist die BAYER AG. Die hat eine Firmengeschichte von mehr als hundert Jahren in Kolumbien, aber weder im Werk Barranquilla noch in jenem in Cali gibt es eine Gewerkschaft. Das ist kein Zufall.“ Und am nordamerikanischen Standort Emeryville versuchte der Pharma-Riese die Etablierung einer Betriebsgruppe zu verhindern, indem er mit Stellen-Streichungen drohte und die BelegschaftsvertreterInnen als „Schmarotzer“ diffamierte, die es nur auf die Beiträge der ArbeiterInnen abgesehen hätten. Im Nachhaltigkeitsbericht des Konzerns ist dann der Erfolg dieser Politik bilanziert. So hat der Konzern in den USA nur mit fünf Prozent der Belegschaftsangehörigen Tarifverträge oder vergleichbare Vereinbarungen abgeschlossen, in Asien mit 15 Prozent und in Lateinamerika mit 46 Prozent, während er das in Europa mit 87 Prozent der Beschäftigten getan hat.
BAYER nutzt also zahlreiche Instrumente, um sich der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN und anderer KritikerInnen zu erwehren. BAYER nutzt also zahlreiche Instrumente, um sich der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN und anderer KritikerInnen zu erwehren. Die Palette reicht dabei von Gewalt und Undercover-Operationen über Klagen bis hin zu medialen Diffamierungen. Aber keines dieser Mittel hat es bisher vermocht, die CBG von ihren Zielen abzubringen. So muss der Leverkusener Multi aller bisher ergriffenen Maßnahmen zum Trotz bis heute mit dem Stachel im Fleisch leben. Die Macht des Konzerns ist nicht gebrochen, aber ihm ist ein gewichtiges Stück demokratischer Kontrolle erwachsen.

[Pharmapreise] STICHWORT BAYER 02/2014

CBG Redaktion

BAYER spricht Tacheles

Profite vor PatientInnen

„Wir haben dieses Produkt nicht für den indischen Markt entwickelt (...) Wir haben es für westliche Patienten entwickelt, die es sich auch leisten können“ – mit dieser Äußerung über das Krebs-Medikament NEXAVAR hat BAYER-Chef Marijn Dekkers einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Einmal mehr belegt sie, wie wenig es den Pharma-Riesen um das PatientInnen-Wohl und wie sehr es ihnen um die durch Patente abgesicherten Monopol-Gewinne geht, weshalb besonders den Ärmsten der Armen keine adäquaten Pharmazeutika zur Verfügung stehen.

Von Philipp Frisch (Koordinator der Medikamentenkampagne von ÄRZTE OHNE GRENZEN in Deutschland)

Das heutige System, mit dem Gesundheitsforschung gefördert werden soll, funktioniert nicht. Zwei Geschichten, die sich in den letzten Monaten an vollkommen verschiedenen Orten abgespielt haben, zeigen diesen Umstand mehr als deutlich.
Die erste Geschichte spielt im weit entfernten Kapstadt und handelt von einer jungen Südafrikanerin, die ihr Gehör verloren hat: Phumeza. Sie ist nicht durch einen Unfall taub geworden, sondern durch ein Medikament, das ihr ihre Ärztin in Khayelitsha, einem armen Vorort von Kapstadt, gegeben hat. Phumeza litt an der so genannten extrem resistenten Tuberkulose. Wie der Name schon andeutet, handelt es sich dabei um eine Form dieser Krankheit, bei der die auslösenden Bakterien immun gegen die wirksamsten Medikamente geworden sind. Als Folge sind die MedizinerInnen gezwungen, auf weniger wirksame Medikamente auszuweichen, die bis zu zwei Jahre lang eingenommen werden müssen und zu allem Überfluss eine ganze Reihe unbeschreiblich heftig Nebenwirkungen haben. Eines dieser Medikamente ist dafür verantwortlich, dass Phumeza jetzt taub ist.
Die zweite Geschichte hat sich im Dezember in London zugetragen und schlägt jetzt hohe mediale Wellen. Auf einer Branchenkonferenz hat der Vorstandsvorsitzende des Leverkusener Pharmariesen BAYER, Marijn Dekkers, nach dem hohen Preis für Krebs-Arznei NEXAVAR gefragt, folgendes gesagt: „Wir haben dieses Produkt nicht für den indischen Markt entwickelt (...) Wir haben es für westliche Patienten entwickelt, die es sich auch leisten können.“ Dieses Zitat hat, nachdem es später von einigen Onlinemedien aufgegriffen wurde, einen Sturm der Entrüstung in sozialen Medien wie Twitter und Facebook entfacht. Sogar der deutsche Botschafter in Indien sah sich gezwungen, sich von diesen Aussagen zu distanzieren.
Auch wenn beide Geschichten auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben, lassen sie sich doch auf eine ebenso einfache wie brutale Wahrheit reduzieren: ein Großteil der Pharmaindustrie arbeitet nicht für PatientInnen und deren Genesung, sondern für die eigenen AktionärInnen und deren Dividende. Es gibt keine wirksameren und sichereren Medikamente zur Behandlung der Tuberkulose, weil diese Infektionskrankheit überwiegend Menschen betrifft, die keine hohe Kaufkraft haben. Für Pharmaunternehmen aber, und das zeigt Dekkers‘ Äußerung in überraschender Klarheit, sind diese Menschen als KonsumentInnen einfach nicht interessant.
Den Kern dieses fehlerhaften Systems bilden die Patente. Das Patentsystem, von dem auch die deutsche Industrie nicht müde wird zu behaupten, es sei die Vorbedingung für medizinische Innovation, versagt in der Realität auf ganzer Linie. Zum einen forschen private Konzerne nicht an den Krankheiten, die – weltweit gesehen – das meiste Leid verursachen, sondern an denen, die den größten Monopolgewinn versprechen. Dazu zählen Herz/Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, aber auch kosmetische Produkte oder „Lifestyle-Medikamente“ wie potenzsteigernde Mittel. Patente setzen hier einen falschen Anreiz.
Zum anderen sorgen die Marktmonopole, die die Unternehmen durch Patente gewinnen, dafür, dass sich Millionen von Menschen die lebensnotwendigen Medikamente nicht leisten können. Wie viel ist eine Innovation wert, wenn sie nicht die Menschen erreicht, die sie zum Überleben brauchen?
Dabei geht es auch anders. Längst gibt es Beispiele dafür wie über Produktentwicklungspartnerschaften oder in öffentlichen Forschungseinrichtungen effizient und effektiv medizinische Forschung stattfindet. Zu Kosten, die nur einen Bruchteil der Summe ausmachen, die die Privatwirtschaft als angebliche Entwicklungskosten angibt. Auf internationaler Ebene, zum Beispiel der Weltgesundheitsorganisation, wird längst über innovative Anreiz-Mechanismen gesprochen, die ganz ohne Patentmonopole auskommen und sich tatsächlich auf die globalen Gesundheitsbedürfnisse konzentrieren können. Passiert ist aber bislang nicht viel. Nicht zuletzt die Lobbymacht der Pharmaindustrie und die Interessen der reichen Industrieländer, in denen diese sitzen, haben mutigere Schritte bislang verhindert.
Die Erkenntnis, dass wir mit dem Patentsystem auf dem Holzweg sind, wird sich trotzdem früher oder später durchsetzen, und Zitate wie das von Dekkers werden der Vergangenheit angehören. Im Interesse von PatientInnen wie Phumeza bleibt zu hoffen, dass das eher früher als später passiert.

[Energiewende] STICHWORT BAYER 02/2014

CBG Redaktion

BAYER & Co. setzen sich durch

Die Energiewende-Wende

Seit langem schon wettern BAYER & Co. gegen die Energiewende im Allgemeinen und die angeblich zu hohen Stromkosten im Besonderen. Auch im Wahlkampf meldeten sie sich lautstark zu Wort. Die Große Koalition erhörte die Signale und lieferte umgehend: Kaum im Amt, legte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel schon die Eckpunkte für die Umgestaltung des „Erneuerbare-Energien-Gesetzes“ vor.

Von Jan Pehrke

„Deutschland hat mit der Energiewende einen radikalen Wandel eingeleitet. Die Folgen sind erhebliche Wettbewerbsnachteile für die energie-intensiven Industrien“, klagt BAYER-Chef Marijn Dekkers. Sein Vorgänger Werner Wenning, der seit 2013 als Aufsichtsratsvorsitzender des Pillen-Giganten amtiert, drückt es noch drastischer aus. „Die Energiewende ist der größte Einschnitt in die Wertschöpfung der deutschen Industrie, den es je gegeben hat“, erklärte er anno 2012 in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratschef von E.ON. Ein paar Monate später legte er sogar noch nach und konstatierte, die Energiewende sei drauf und dran, sich zu einem „Alptraum“ für die hiesigen Konzerne zu entwickeln. E.ON und BAYER könnten sich in Deutschland aber „nur soweit engagieren, wie dies die Rahmenbedingungen erlauben“, warnte Wenning. Ganz selbstverständlich brachte der Manager damit die gemeinsame Interessenlage von Strom- und Chemie-Riesen zum Ausdruck, für die nicht nur seine Person steht: Den RWE-Aufsichtsrat leitet bereits seit langem der ehemalige BAYER-Boss Manfred Schneider.
Der jetzige Vorstandsvorsitzende Dekkers drohte derweil schon einmal mit konkreten Konsequenzen, sollte sich die Energie-Politik nicht ändern: „Ansonsten kann sich ein globales Unternehmen wie BAYER überlegen, seine Produktion in Länder mit niedrigeren Energiekosten zu verlegen.“ Entsprechend aktiv zeigten sich die Multis dann im Wahlkampf und ließen auch danach noch nicht locker. So veröffentlichte der „Verband der Chemischen Industrie“ im November 2013 zusammen mit der IG BERGBAU, CHEMIE, ENERGIE eine riesige, „an die Verhandlungsführer der neuen Koalition“ gerichtete Zeitungsannonce. Unter der Überschrift „Energiewende: Umdenken erforderlich“ folgte nach einem Lippenbekenntnis zum ökologischen Umbau der Energie-Politik das große Lamento: „Die Kosten laufen aus dem Ruder, Gegensteuern ist notwendig.“ Statt die Industrie weiter zu belasten, müssten SPD und CDU die Kosten begrenzen und Planungssicherheit schaffen, so die „Sozialpartner“.

Die GroKo reagiert
Schon die Zusammensetzung des Teams, welche das Kapitel „Energie“ des Koalitionsvertrages verhandelte, bot die besten Voraussetzungen für eine Umsetzung der Konzern-Agenda. So nominierte die SPD Hannelore Kraft als Delegationsleiterin, die sogleich betonte, wie wichtig es – Klimaschutz hin oder her – sei, Industriearbeitsplätze zu erhalten und auf die Kosten zu schauen, während renommierte sozialdemokratische Umweltpolitiker wie Ulrich Kelber in der Gruppe fehlten. Auf CDU-Seite sah sich die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Peter Altmaier gegenüber, der schon zu Zeiten von Schwarz-Gelb – damals noch erfolglos – eine Strompreis-Bremse geplant hatte. Und wie sehr den beiden das Schicksal von BAYER & Co. am Herzen lag, zeigte sich bereits daran, dass sie inmitten der Gespräche noch Zeit fanden, nach Brüssel zu jetten, um dort die fünf Milliarden Euro schweren Befreiungen der energie-intensiven Betriebe von der Ökostrom-Umlage zu verteidigen, welche die EU-Kommission als unberechtigte Subvention ansieht. Einen Einsatz, den Hannelore Kraft in Tateinheit mit Angela Merkel schon bei ihrem Auftritt auf der BAYER-Jubiläumsfeier im letzten Jahr angekündigt hatte. Entsprechend besorgt über das Treiben von Kraft und Konsorten zeigten sich grüne SozialdemokratInnen wie Erhard Eppler und Monika Griefahn. In einem Offenen Brief verlangten sie von ihrer Genossin bei den Verhandlungen „ein klares Eintreten für Langfristigkeit, Klima und Umwelt“ respektive eines Einsatzes für ein Klimaschutzgesetz nach nordrhein-westfälischem Vorbild und für ein Streichen der Subventionen für Klima-Killer wie Kohle.
Im Koalitionsvertrag fand sich nichts davon wieder. CDU und SPD erklären den Klimaschutz darin zwar zu einem Wachstumsmotor, schränken aber sogleich ein, er „darf nicht zu Nachteilen für energie-intensive und im internationalen Wettbewerb stehende Industrien führen“. Dementsprechend kündigen die GroßkoalitionärInnen an, der Kosten-Effizienz mehr Bedeutung zuzumessen und angebliche Überförderungen abzubauen. „Klima- und Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit“ – auf diesen Dreiklang will die neue Bundesregierung die Energie-Politik einstimmen.
Und Bundeskanzlerin Angela Merkel gab dafür einen schnellen Takt vor. „Eines der ersten großen Projekte der neuen Bundesregierung wird eine Novelle des „Erneuerbare-Energien-Gesetzes“ sein“, verkündete sie in ihrem Podcast. Betraut wurde damit nicht etwa das Umweltministerium, wie es eigentlich angemessen gewesen wäre, sondern das unter Leitung des Vizekanzlers Sigmar Gabriel stehende Wirtschaftsministerium. Das stellte im Vorhinein schon einmal klar, wo für die Große Koalition bei diesem Vorhaben die Prioritäten liegen.

Die Eckpunkte
Bereits vier Wochen nach Amtsantritt „lieferte“ der SPD-Chef und legte Eckpunkte der „Reform“ des „Erneuerbare-Energien-Gesetzes“ (EEG) vor. Einmal mehr betont das Dokument den Willen, die Preis-Dynamik zu durchbrechen. Zwar beabsichtigt Gabriel, die Lasten gleich zu verteilen, aber einige der Träger entpuppen sich dabei doch als etwas gleicher. „Alle Stromverbraucher werden angemessen an den Kosten beteiligt, dabei darf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der strom-intensiven Industrie nicht gefährdet werden“, hält das Papier fest.
Zu diesem Behufe will der Wirtschaftsminister den Ausbau der Erneuerbaren Energien durch eine Drosselung der Förderung kappen. Der regenerative Anteil am Strommix von jetzt 25 Prozent soll bis 2025 nur noch auf 40 bis 45 Prozent steigen und erst 2050 auf 80 Prozent kommen. Während die Kapazitäten der Offshore-Windkraft bis 2020 noch auf 6,5 Gigawatt und bis 2030 auf 15 Gigawatt wachsen dürfen, bekommt die Windkraft an Land ebenso wie die Sonnenenergie einen „atmenden Deckel“ verpasst. Beide können bloß noch um höchstens 2.500 Megawatt pro Jahr zulegen.
Zudem haben Gabriel & Co. vor, die „Markt-Integration“ der neuen Energieformen voranzutreiben. So planen sie etwa, ihre jeweilige Förderhöhe „durch Ausschreibung im Wettbewerb“ zu ermitteln. Etwas weniger Markt sieht das Wirtschaftsministerium dagegen für Gas- und Kohlekraftwerke vor. Da diese aufgrund der derzeit niedrigen Preise an den Strombörsen und des Einspeisevorrangs für Wind- und Sonnenenergie ihre Kapitalkosten nicht erwirtschaften, beabsichtigt Schwarz-Rot, ihre bloße Existenz zu honorieren. Sigmar Gabriel möchte „Daseinsvorsorge“ betreiben und den Strom-Multis dafür eine Prämie zahlen, dass ihre Meiler als stille Reserve notfalls einspringen können, wenn Versorgungsengpässe drohen. „Die Koalition hat daher verabredet, mittelfristig Mechanismen für das Vorhalten von Kapazitäten zu schaffen“, heißt es in den Eckpunkten etwas schwammig zu dem offenbar nicht unumstrittenen Punkt.

Die Eigenstrom-Kontroverse
Nur in einem droht den Konzernen Ungemach. SPD und CDU intendieren nunmehr, in die EEG-Umlage zur Förderung von Wind & Co. zusätzlich den Strom, den die Konzerne mit ihren eigenen Kraftwerken produzieren, einzubeziehen. Und sofort brach ein Sturm der Entrüstung los. „Auch wenn die überfällige EEG-Reform nun endlich auf dem Weg ist, die Mehrbelastung der Eigenstrom-Erzeugung ist ein unüberwindlicher Stolperstein und für unsere Branchen nicht hinnehmbar. Jene Unternehmen, die ihren Strom in eigenen Kraftwerken vor allem in Kraft-Wärme-Kopplung und sehr effizient herstellen, hätten dadurch Mehrkosten von insgesamt über 300 Millionen Euro im Jahr“, erklärte der „Verband der Chemischen Industrie“ (VCI). Und der Leverkusener Multi, der fast 60 Prozent seines Energie-Bedarfs selber deckt, warnte: „Unsere KWK-Anlagen würden sich, sollten diese Pläne umgesetzt werden, nicht mehr wirtschaftlich betreiben lassen, sowohl die bestehenden als auch die neuen.“
Auf dem Chemie-Gipfel, zu dem der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Garrelt Duin am 10. Februar 2014 geladen hatte, bezeichnete Tony van Osselaer von BAYER MATERIAL SCIENCE die Pläne laut Rheinischer Post sogar als existenzbedrohend. Der SPD-Politiker zeigte sich von der Panikmache beeindruckt und konzedierte, es gebe noch Veränderungsbedarf bei der Neufassung des EEG. Da das Gipfel-Treffen Duin zufolge auch den Zweck hatte, der Bundesregierung im fernen Berlin zu demonstrieren, dass Politik und Chemie-Industrie in Nordrhein-Westfalen mit einer Stimme sprechen, stand am Ende des Treffens eine gemeinsame Erklärung. Darin halten die GipfelteilnehmerInnen unmissverständlich fest: „Eine Kostenbelastung auch industrieller Strom-Eigenerzeugung darf nicht dazu führen, dass Bestandsanlagen wirtschaftlich in Frage gestellt werden und die Errichtung von Neuanlagen völlig ausgeschlossen wird.“ Einen Tag später sprachen in der Sache dann der IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis und VertreterInnen von BASF und VCI bei Sigmar Gabriel vor. Ob die Eigenstrom-Abgabe ein Stein des Anstoßes bleibt, ist deshalb noch lange nicht klar. Details zu der Regelung spart der „Entwurf eines Gesetzes zur grundlegenden Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und zur Änderung weiterer Vorschriften des Energiewirtschaftsrechts“ nämlich im Vorgriff auf Nachbesserungen schon einmal aus.

EEG nach BAYER-Gusto
Wenn es gilt, die Ökosteuer-Ausnahmen gegen EU-Einsprüche zu verteidigen, zeigt Gabriel sich derweil genauso kämpferisch wie Angela Merkel und Hannelore Kraft. Eine seiner ersten Amtshandlungen führte ihn nach Brüssel, um Wettbewerbskommissar Joaquin Almunia ins Gewissen zu reden. Der Sozialdemokrat wirft der Kommission vor, das Wettbewerbsrecht zu instrumentalisieren und unterstellt ihr unlautere Absichten: „Manchmal habe ich den Eindruck, das hat mit dem deutschen Leistungsbilanz-Überschuss zu tun.“ Er hat sogar eine Taskforce eingerichtet, welche die Aufgabe hat, „die Schlagkraft und Reaktionsmöglichkeiten der Bundesregierung“ zu erweitern und will notfalls sogar gegen Brüssel vor Gericht ziehen. Und seine Anstrengungen scheinen sich auszuzahlen. Bei einem nochmaligen Zusammentreffen hat Almunia Kompromissbereitschaft signalisiert und eine Lösung bis Anfang April, da Gabriel dem Kabinett seinen Gesetzesentwurf zum Beschluss vorzulegen gedenkt, in Aussicht gestellt.
„Ohne die besondere Ausgleichsregelung würden Abnehmer mit besonders strom-intensiven Produktionsbedingungen in eine ungünstige Wettbewerbssituation gelangen, die sie zu einer Abwanderung bewegen könnte“, so begründet das Wirtschaftsministerium in dem Schriftstück die Milliarden-Entlastungen für die Konzerne. Gabriel & Co. haben sich auch sonst die Argumente der Multis beinahe komplett angeeignet, obwohl diese einer Realitätsprüfung kaum standhalten. Das Lamento über die angeblich hohen Strompreise etwa, die BAYER und die anderen Firmen dem Erneuerbare-Energien-Gesetz anlasten, ist lediglich „große Oper“. Tatsächlich bewegen sich die Energie-Kosten auf dem Niveau von 2005 und beeinträchtigen die Gewinnaussichten der Unternehmen keinesfalls. „Die Industriestrompreise liegen aufgrund von Abgaben-Befreiungen insbesondere im Bereich sehr großer Abnahme-Mengen unterhalb des EU-Durchschnitts“, konstatierte 2011 die staatliche Außenwirtschaftsagentur GTAI. Die geringen Aufwändungen geraten sogar zu einem Standort-Vorteil. So hat die holländische Aluminiumhütte ALDEL als Grund für ihre Insolvenz die „zunehmenden Preisdifferenzen für industriellen Grundlaststrom zwischen den Niederlanden und den umgebenden Ländern“ genannt und den heimischen Wirtschaftsminister Henk Kamp dafür kritisiert, nichts für „deutsche Energie-Preise“ getan zu haben.

Die Preis-Frage
Diese deutschen Energie-Preise gelten allerdings nur für große deutsche Unternehmen. Was BAYER & Co. nicht an EEG-Umlagen zahlen, mittlerweile rund fünf Milliarden Euro, das gleichen die Privat-Haushalte aus. Unter anderem deshalb stieg die EEG-Umlage 2014 um ca. einen Cent auf 6,2 Cent je Kilowatt-Stunde. Einen weiteren Grund für deren Anwachsen stellen paradoxerweise die gefallenen Preise für Energie an den Strombörsen dar. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz gewährt den Anbietern von Sonnen- und Windenergie nämlich eine Mindest-Vergütung, die sich aus einer Einspeise-Prämie abzüglich der erzielten Gewinne beim Absatz des Öko-Stroms errechnet. Und da die Erlöse wegen des einbrechenden Marktes sanken, erhöhten sich die Aufwändungen zum Ausgleich der Differenz.
Mit zu dieser Preis-Entwicklung beigetragen hat der nicht funktionierende Emissionshandel. Dieser belegt den Kohlendioxid-Ausstoß ab einer bestimmten Grenze mit Sanktionen. Wenn BAYER & Co. über ein festgesetztes Limit hinaus CO2 emittieren, müssen sie Verschmutzungsrechte kaufen, was sie zu einem Umstieg auf klima-freundlichere Energieträger bewegen sollte. Nun bekommen die Unternehmen diese Zertifikate aber schon lange regelrecht hinterhergeschmissen, so dass die Lenkungswirkung ausbleibt (siehe auch SWB 4/13) und der Leverkusener Multi keinen Anreiz hat, seinen Strommix, an dem die Kohle einen Anteil von etwa einem Drittel hat, anders zusammenzusetzen. Wobei noch erschwerend dazu kommt, dass die Kohle derzeit besonders günstig zu haben ist, da sie in den USA aufgrund der dortigen Gasförderung per Fracking kaum noch Abnehmer findet.
Die Energie-Politik von SPD und CDU zeigt sich davon allerdings unbeeindruckt. Nur äußerst halbherzig bekennen die Parteien sich zu dem Vorhaben der EU, 900 Millionen CO2-Zertifikate zur Kurs-Pflege aus dem Markt zu nehmen, obwohl viele KritikerInnen diese Maßnahme als längst nicht ausreichend bezeichnen. „Es „muss sichergestellt werden, dass es sich um einen einmaligen Eingriff in das System handelt, die Zertifikate nicht dauerhaft dem Markt entzogen werden und nachteilige Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Branchen und industrielle Arbeitsplätze ausgeschlossen werden“, fordert der Koalitionsvertrag zur Mäßigung auf.
Aber nicht nur durch den Unwillen zu einer grundlegenden Veränderung des Emissionshandels gewährt die Bundesregierung den Dreckschleudern Bestandsschutz und macht damit besonders den modernen Gaskraftwerken das Leben schwer. Sie tut dies auch noch auf andere Weise, und das ganz ohne Not. Da derzeit an Strom kein Mangel herrscht, wollen SPD und CDU sich für alle Eventualitäten rüsten und „das Vorhalten von Kapazitäten“ honorieren. Wieder einmal beugen sich die Parteien damit fadenscheinigen Appellen wie dem von BAYER-Chef Marijn Dekkers, der in einem Zeitungsbeitrag schrieb: „Wichtig ist uns, dass die Versorgungssicherheit erhalten bleibt.“ Da der Wind nicht immer weht und die Sonne nicht immer scheint, müsse die Kohle neben dem Gas weiterhin unverzichtbarer Teil der Energie-Erzeugung sein, meinen die UnternehmensleiterInnen, sonst „geht in Deutschland das Licht aus“, wie der RWE-Vorsitzende Peter Terium warnt.
Dabei ist die Angst vor dem Blackout unbegründet. RWE & Co. können nämlich kurzfristige Schwankungen in ihren Netzen ausgleichen und per Regeltechnik schnell auf erhöhten Bedarf reagieren. Zudem haben sie praktisch immer die Möglichkeit, an der Strombörse zusätzliche Kontingente zu erwerben. Darüber hinaus haben einige Anbieter Reserve-Verträge geschlossen, die ihnen Zugriff auf kurzfristig benötigte Energie erlauben. 2008 waren über solche Vereinbarungen 2,9 Gigawatt abgesichert. Und für den Winter muss die Branche ebenfalls vorsorgen. Der Gesetzgeber schreibt ihnen für den Fall der Fälle das Vorhalten von 2,5 Gigawatt vor.
Sachliche Gründe gibt es also für die Kohle keine. Industrie-politische Erwägungen sind es vielmehr, die besonders die nordrhein-westfälischen SozialdemokratInnen zu Statthaltern der Ressource macht, haben doch mit RWE, STEAG und E.ON drei Strom-Riesen ihren Firmensitz in dem Bundesland. Und Kraft und Duin sorgen sich nicht nur um die Arbeitsplätze, sondern auch um die Einnahmen der Kommunen, denn viele von ihnen halten Anteile an den Energie-Unternehmen. „Wenn dort die Verluste von den Kraftwerken reinregnen und die Städte Wertberichtigungen vornehmen müssen, dann wird das eine Katastrophe“, prophezeit Garrelt Duin. Eine „dramatische Lage bei RWE“ macht er aus und ruft nach Subventionen. Die Kleinigkeit von sechs Milliarden Euro will der NRW-Wirtschaftsminister den Firmen zukommen lassen.
Dabei erhalten diese Multis schon genug Geld. Entgegen der öffentlichen Darstellung, wonach die Steuer-Einnahmen des Staates vornehmlich den Erneuerbaren Energien zugute kommen, fließen beträchtliche Summen in die Dinosaurier-Technologien. Nach einem Bericht der EU bedachten die Mitgliedsstaaten 2011 die Atomkraft mit 35 Milliarden Euro und die fossilen Kraftwerke mit 26 Milliarden. Und für die sozialen und gesundheitlichen Risiken dieser Art der Elektrizitätsgewinnung wendeten sie nochmal 40 Milliarden auf, während Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen insgesamt nur 30 Milliarden an Förderung erhielten. Ein Befund, der den Auftraggeber der Studie, den EU-Energiekommissar Günther Oettinger, einigermaßen überraschte. Eigentlich sollte die Untersuchung ihm nämlich eine Handhabe liefern, um gegen die neuen Windmühlen zu Felde ziehen zu können. Deshalb ließ er das kontraproduktive Zahlenmaterial kurzerhand aus dem Dokument entfernen.

Großtechnische Lösungen
Die Energiewende, wie sie die Große Koalition vornehmen will, zeichnet sich ebenfalls durch dieses Wohlwollen den Konzernen gegenüber aus. Die EEG-„Reform“ bekennt sich nicht nur offenherzig zu den Freistellungen der Multis von der Ökostrom-Umlage und gibt Garantien für umweltbelastende Energie-Träger wie die Kohle ab, auch sonst favorisiert sie die großtechnischen Lösungen. So kappt Gabriel den Ausbau der von SIEMENS & Co. erstellten Meeres-Windparks längst nicht so drastisch wie denjenigen der kleineren, an Land betriebenen Anlagen, obwohl die Offshore-Variante der Onshore-Variante wirtschaftlich nicht überlegen ist. „Die sehr teure Offshore-Windproduktion“, klagt der Minister selber, verzagt darüber aber nicht, sondern zeigt sich trotzdem spendabel. „Ein in der Summe hoher Anteil wird für die Wind-Offshore-Anlagen zu zahlen sein, die sich noch am Anfang ihrer Entwicklung befinden. Das technologische und industrielle Potenzial verbunden mit den Perspektiven für wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze rechtfertigen allerdings die weitere Finanzierung der Wind-Offshore-Technologie“, halten die Eckpunkte fest.
Diese Bevorzugung der maritimen Windparks gegenüber den viel kleiner dimensionierten Onshore-Lösungen, die sich nicht selten in Besitz von Bürgerenergie-Genossenschaften befinden, macht dann wiederum die Verlegung von langen Stromtrassen notwendig, auf die eine dezentraler ausgelegte Energie-Versorgung in Verbindung mit Stromspeicher-Möglichkeiten verzichten könnte. Überdies sollen die Leitungen längst nicht nur grünen Strom aus Nord- und Ostsee transportieren. „Zugleich dienen die geplanten Stromnetze nicht vorrangig dem Ausbau erneuerbarer Energien, sondern vor allem dem europäischen Stromhandel und der besseren Auslastung fossiler Kraftwerke“, stellt der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger fest.
Das Vorhaben, künftig per Ausschreibung über neue Ökostrom-Projekte entscheiden zu lassen, dürfte den Zugriff der Unternehmen auf diesen Markt dann noch zusätzlich antreiben, denn Kooperativen fehlen schlicht die Ressourcen, einen solchen Wettbewerb durchzustehen und das damit verbundene Risiko zu tragen. „Die Energieversorgung wird wieder in die Hand der Energie-Konzerne gelegt und die Demokratisierung der Energiewende gestoppt“, resümiert die Grünen-Vorsitzende Simone Peter.
So genügt das neue EEG ganz den Ansprüchen von BAYER & Co. Dabei wäre eine wirkliche Reform wirklich nötig gewesen. Beispielsweise hätten SPD und CDU eine Berechnungsgrundlage für die Ökostrom-Umlage finden müssen, welche die von den kleinen Unternehmen und Privathaushalten aufzubringenden Kosten nicht mehr analog zu fallenden Strompreisen steigen lässt. Aber diese Chance hat Sigmar Gabriel versäumt. Stattdessen verschont er die Konzerne vor einer wirklichen Energiewende. So wird der Leverkusener Multi weiterhin auf die dreckige Kohle setzen und sie auch weiterhin vornehmlich aus Ländern beziehen, in denen sie unter katastrophalen gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Bedingungen gefördert wird. Und er wird die von Gabriel erteilte Lizenz zum Klimakillen nutzen, um weiterhin über acht Millionen Tonnen Kohlendioxid ausstoßen und den Anteil regenerativer Energien an seinem Strommix lächerlich gering halten zu können. Im Jahr 2012 betrug er 0,7 Prozent.

[CO Pipeline] STICHWORT BAYER 02/2014

CBG Redaktion

BAYERs alte CO-Leitung marode

„gravierende Materialverluste“

Nicht nur die zwischen den BAYER-Werken Dormagen und Krefeld verlegte Kohlenmonoxid-Pipeline wirft Sicherheitsfragen auf. Auch die in den 1960er Jahren gebaute und seit 2001 für den Transport von CO genutzte Leitung zwischen Dormagen und Leverkusen hat gravierende Mängel, wie die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN nach Einsichtnahme in die Behörden-Bescheide und Untersuchungsberichte feststellen musste.

Von Philipp Mimkes

Lange diente die zwischen Dormagen und Leverkusen verlaufende Pipeline nur zum Transport von Stickstoff und Kohlendioxid. Im Jahr 2000 beantragte BAYER allerdings eine Umwidmung. Der Leverkusener Multi wollte das wesentlich giftigere Kohlenmonoxid durch die Rohre führen. Einem ordentlichen Genehmigungsverfahren mit Beteiligung der Öffentlichkeit musste der Konzern sich dafür nicht stellen. Die zuständige Bezirksregierung gab ihr Einverständnis für die Umwidmung auf dem kleinen Dienstweg.
Um die genauen Umstände der Umnutzung in Erfahrung zu bringen und Aufschluss über den Zustand der Leitung zu gewinnen, beantragte die die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) bei der Bezirksregierung eine Einsichtnahme in die Akten. Das Studium der Unterlagen offenbarte schließlich schwerwiegende Mängel. Besonders dort, wo die Pipeline den Rhein unterquert, zeigten sich Korrosionsschäden, also Abnutzungserscheinungen an den Bau-Bestandteilen. So treten an diesem Rhein-Düker nach einem Bericht des TÜV Rheinland vom 22. Februar 2013 „gravierende externe Materialverluste“ auf, weswegen er „nicht dem Stand der Technik“ entspreche. Die Korrosionsgeschwindigkeit wurde mit bis zu 0,5 mm pro Jahr abgeschätzt, wegen galvanischer Kontakte sei zudem kein ausreichender Korrosionsschutz gegeben. Nach Ansicht des TÜVs sollte der Düker daher „durch eine geeignete neue Konstruktion ersetzt“ werden. In einem ergänzenden Bericht vom Juli 2013 konstatiert der TÜV, dass die Korrosion an einer unzugänglichen Stelle im Rhein so weit fortgeschritten sei, dass nur noch eine „Restlebensdauer von 2 Jahren, bis die rechnerisch geforderte Mindestrohrwandstärke von 3,6 mm erreicht wird“, gegeben sei. Bereits 1973 kamen Sicherheits-Checks zu dem Resultat, dass die Rohre im Rhein-Düker Kontakt zur Ummantelung haben, weswegen der Korrosionsschutz nicht funktioniere. Dies wird in den Folgejahren immer wieder bestätigt, etwa in den Prüfberichten der RUHRGAS vom Februar 2000 und erneut in den TÜV-Berichten 2011-2013.
Auch sonst sind Sicherheitsrisiken feststellbar. So beträgt die mittlere Verlegungstiefe der Leitung nur 1 Meter, und kein Warnband (Geogrid) weist auf die Existenz der Leitung hin. Mit dem „Worst Case“ beschäftigte sich die Bezirksregierung jedoch nur oberflächig. Die Genehmigung der Pipeline enthält keinerlei Abschätzung der Gefährdung der Bevölkerung. Einzig der Gutachter von BAYER widmet sich der Frage eines Austritts von ca. 3.500 cbm Kohlenmonoxid (Inhalt der Leitung plus 15min Nachströmen) – auf gerade mal 9 Zeilen. Eine spezifische, auf die örtlichen Begebenheiten angepasste Betrachtung erfolgt nicht. Zudem ist seine Aussage, wonach das Gas im Fall eines Lecks - wegen seiner geringeren Dichte – sofort aufsteigen würde, nicht nachvollziehbar. Der Sachverhalt ist wesentlich komplexer: Die Leitung verläuft im Boden oder im Rheinwasser, das Gas wäre daher kälter und somit schwerer als die umgebende Luft. Weiterhin kühlt sich CO beim Ausdehnen von 12 Bar auf 1 Bar stark ab. Das Gas würde daher einige Zeit in Bodennähe verbleiben und die Menschen gefährden. Schon 100 ml Kohlenmonoxid können tödlich wirken. 2001 ergab eine Druck- und Dichtheitsprüfung aber, dass es im Falle eines Falles zu einem Verlust von mehreren hundert Liter pro Stunde kommen kann. Lecks in dieser Größenordnung vermag das bestehende Überwachungssystem nicht zu finden. Das von BAYER verwendete Verfahren ist nur imstande, schlagartig auftretende Lecks, z. B. bei Beschädigung durch einen Bagger, aufzuspüren.
BAYER jedoch weist alle Kritik an der Alt-Pipeline zurück und bezeichnet sie als „Stimmungsmache von Industriegegnern aus dem Lager der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN“. Den Bau eines neuen Dükers plant der Leverkusener Multi trotzdem – so ganz sicher scheint er sich betreffs der Sicherheitslage also nicht zu sein. Der CBG reicht eine solche Maßnahme nicht. Sie fordert, generell auf den Pipeline-Transport von Kohlenmonoxid zu verzichten: „Giftige Gase wie Chlor, Kohlenmonoxid oder Phosgen müssen – wenn überhaupt - dezentral produziert und in gut gesicherten Werken verarbeitet werden. Ein Transport solcher Gefahrstoffe verbietet sich. Es ist unverantwortlich, die Bevölkerung diesem unnötigen Risiko auszusetzen.“

[Xarelto] STICHWORT BAYER 02/2014

CBG Redaktion

Gefährliche BAYER-Arznei

„Zeitbombe“ XARELTO

Die Zahl der durch BAYERs Gerinnungshemmer XARELTO verursachten Todesfälle erhöht sich Jahr für Jahr. 2012 zählte das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ 133 Todesfälle. Dazu kommen noch einmal 1.399 Meldungen über schwere Nebenwirkungen. In vielen Ländern steht das Medikament wegen dieses Risiko-Profils inzwischen unter verschärfter Beobachtung. Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA weigert sich einstweilen sogar, das Anwendungsspektrum der Arznei zu erweitern und sie zur Behandlung der Herzkrankheit ACS zuzulassen. Aber trotz alledem steigen und steigen die Umsätze mit dem Pharmazeutikum – BAYERs Marketing-Abteilung macht’s möglich.

Von Jan Pehrke

Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) fragt regelmäßig die Anzahl der unerwünschten Arznei-Effekte von BAYERs neuem Gerinnungshemmer XARELTO ab. Für 2013 verzeichnete das „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ (BfArM) erneut einen Anstieg. Während die Behörde 2012 „nur“ 58 Todesfälle registrierte, waren es 2013 schon 133. Zudem gingen 1.399 Meldungen über bis zu drei Nebenwirkungen pro PatientIn ein. Auf 3.185 summierten diese sich so, und bei der Endabrechnung für das Jahr waren es dann schließlich sogar 3.630. Europa-weit sieht die Bilanz seit der Zulassung laut Datenbank der Europäischen Arzneimittelagentur EMA so aus: 18.087 Fälle (Stand: Dezember 2013), wobei es noch mehr sein dürften, denn längst nicht alle MedizinerInnen informieren die Behörden über beobachtete Nebenwirkungen. Ein alarmierender Befund also, auch wenn das BfArM die Ausweitung der Schadenszone mit der Zunahme der Verschreibungen erklärt und zu den 133 Toten bemerkt: „Diese Zahl bedeutet aber nicht zwingend, dass eine oder mehrere der beschriebenen Nebenwirkungen unmittelbar ursächlich für den tödlichen Verlauf waren.“
Eine ganze Weile blieb der Öffentlichkeit das Risiko-Profil des Pharmazeutikums verborgen. Dieses änderte sich aber im August letzten Jahres. Da hatte der Spiegel als erstes großes Medium die von der CBG schon seit Längerem geäußerten Warnungen aufgegriffen. Das Nachrichtenmagazin empfand den Fall „XARELTO“ sogar als so brisant, dass es eine Vorabmeldung machte, die dann auf ein breites Echo stieß. „Schwere Nebenwirkungen haben eine Debatte über ein neues BAYER-Schlaganfallmittel entfacht“, meldete das Handelsblatt. Und Focus Money informierte sogleich über deren geschäftliche Folgen: „BAYER-Aktie kommt wegen XARELTO unter die Räder.“

Alarmglocken läuten
Auch die Behörden mussten reagieren. Das BfArM gab umgehend Entwarnung. „Wir sehen keine neuen Gefahren und keinen Anlass für eine neue Risiko-Bewertung“, verlautete aus Bonn. Aus Sicht des Bundesinstitutes war bloß der manchmal allzu sorglose Umgang der ÄrztInnen mit dem Medikament ein Problem. Deshalb mahnte es die MedizinerInnen: „Beachten Sie Risikofaktoren für Blutungen sowie die Dosierung, Gegenanzeigen, Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung.“ Gleiches tat das australische BfArM-Pendant, die „Therapeutic Goods Administration“. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA stellte den Gerinnungshemmer derweil unter Beobachtung und überprüft zurzeit das Sicherheitsprofil der Arznei in einer Post-Zulassungsstudie.
Besonders besorgt zeigte sich die französische ÄrztInnen-Organisation „Syndicat des Jeunes Biologistes Médicaux“ (SJBM) über XARELTO und andere Arznei-Novitäten aus der Gruppe der Antikoagulanzien. „Die medizinischen Biologen, mehr und mehr mit der Verschreibung dieser neuen, sehr populären Medikamenten-Klasse konfrontiert, läuten die Alarmglocken“, hieß es in einer Presse-Erklärung. Die Tatsache, dass es zu XARELTO & Co. im Gegensatz zum bisherigen Standard-Therapeutikum Marcumar kein Gegenmittel gibt, wenn es zu Blutungen kommt, bezeichneten sie als „Zeitbombe“. Und in der Tat wirft das Fehlen eines Antidots – der entsprechende Stoff befindet sich erst in der Testphase – für MedizinerInnen gravierende Probleme auf. „Da konnten wir nur noch mit Gewebe-Kleber eingreifen“, schilderte etwa der mecklenburg-vorpommerische Ärztekammer-Präsident Dr. Andreas Crusius der Ostsee-Zeitung eine brenzlige Situation in der Rostocker Uni-Klinik.
Darüber hinaus macht die SJBM noch auf ein anderes Dilemma aufmerksam: Haben die PatientInnen die BAYER-Pille oder eines der anderen Mittel genommen, liefern die Tests zur Bestimmung des Blutgerinnungsstatus keine verwertbaren Ergebnisse mehr, weshalb die DoktorInnen kaum eine Möglichkeit haben, das Blutungsrisiko realistisch einzuschätzen. Nicht nur aus diesen Gründen betrachtet die Organisation die Zulassung der neuen Antikoagulanzien als einen „von extremer Unvorsichtigkeit zeugenden medizinischen Fehler“. In ihrer Not schrieben die BiologInnen sogar einen Offenen Brief an die Gesundheitsministerin Marisol Touraine, die auch sofort eine strengere Überprüfung der Gerinnungshemmer anordnete und zwei neue Studien in Auftrag gab.
Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA beließ es hingegen nicht bei solchen Untersuchungen. Mitte Januar 2014 verweigerte sie XARELTO im Gegensatz zur „Europäischen Arzneimittel-Agentur“ die Zulassung zur Behandlung der Herzkrankheit ACS. Bereits zum dritten Mal lehnte sie damit den BAYER-Antrag ab; mit 10:0 fiel das Votum einstimmig aus. Beim zweiten Versuch hatte die FDA unter anderem die Unterschlagung von drei Todesfällen, den Ausschluss unerwünschter ProbandInnen sowie fehlende Informationen über den Gesundheitszustand der TeilnehmerInnen nach Ende der Tests moniert und neue Zahlen angefordert. Diese konnten der Leverkusener Multi und sein US-amerikanischer Partner JOHNSON & JOHNSON jedoch nicht zu Genüge beibringen. Nach Ansicht der Behörde reichten die Unterlagen nicht aus, um die Bedenken hinsichtlich lebensgefährlicher Blutungen zu zerstreuen. „Die Therapie hat Vor- und Nachteile, und in diesem Kontext kommt der Qualität der Daten eine besondere Bedeutung zu“, so begründete das Gremiumsmitglied Steven Nissen die Entscheidung.
BAYER gab sich anschließend kleinlaut. Hieß es beim zweiten ablehnenden Bescheid noch: Wir haben großes Vertrauen in die Sicherheit und Wirksamkeit bei dieser Indikation und werden eng mit unserem Kooperationspartner JANSSEN RESEARCH & DEVELOPMENT, LLC (das mit den Zulassungstests beauftragte Unternehmen, Anm. SWB) daran arbeiten, die Fragen der FDA zu beantworten“, so blieb es jetzt bei der Versicherung, sich gemeinsam mit JANSSEN noch mal des Pharma-Tests anzunehmen, „damit die FDA ihre Bewertung abschließen kann“. Zudem wies der Pillen-Riese darauf hin, einen PatientInnen-Ratgeber „zur Unterstützung von bewährten Praktiken“ sowie einen Verschreibungsleitfaden für MedizinerInnen erstellt zu haben.
ÄrztInnen, die gegenüber XARELTO öffentlich Vorbehalte geäußert hatten, machte BAYER sogar einen Hausbesuch. So kam ein Regionalmanager des Unternehmens zur Kaufbeurener Internistin Dr. Sigrid Süßmeyer, die dem Spiegel von den Gesundheitsproblemen ihrer XARELTO-PatientInnen berichtet und über den immensen, von Kliniken ausgehenden Druck geklagt hatte, die Kranken auf das BAYER-Medikament umzustellen. „Vollstes Verständnis“ hatte der Konzern-Emissär für ihre Haltung. Der kritiklose Einsatz der Arznei ohne jedes Monitoring beunruhige auch den Pharma-Riesen. Aus diesem Grund führe er jetzt vermehrt Schulungen durch und würde das auch gerne in der Praxis der Ärztin tun. Dr. Süßmeyer wunderte sich über das plötzliche Interesse des Multis an ihr. „Warum hat die Firma BAYER nicht schon 2012 bei mir nachgefragt, als ich den Todesfall meldete?“, fragte sie sich. Nur eine Erklärung hatte sie dafür: Der Global Player will sie ausspionieren. Deshalb lehnte sie die Offerte dankend ab.

Weiterhin gute Geschäfte
Trotz der zunehmenden Zweifel am Sicherheitsprofil von XARELTO fährt der Leverkusener Multi mit dem Pharmazeutikum immer mehr Gewinne ein. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2013 stiegen die Umsätze gegenüber dem Vergleichszeitraum von 191 Millionen Euro auf 633 Millionen Euro – eine Steigerung von 230 Prozent! Diese sprudelnden Gewinne verdankt der Leverkusener Multi neben den Effizienz-Vorteilen, die der Gerinnungshemmer MedizinerInnen in ihrem Berufsalltag verspricht, vor allem seinen gewaltigen Marketing-Anstrengungen. So hält das arznei-telegramm zu dem BAYER-Medikament fest: „Für uns unverständlich und nur durch das forcierte Marketing erklärbar, dass es unter den neuen Mitteln die höchsten Verordnungszahlen aufweist.“
Der Konzern überzieht das Land regelrecht mit Vorträgen und sponsert etwa die „Dresdener Herz/Kreislauf-Tage“ oder den Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Neurologie“, was dann in den Programmen Platz für XARELTO-Werbeblöcke bzw. –„Symposien“ eröffnet. Darüber hinaus initiiert er Kongresse und Events wie „Hilfe, mein Herz ist aus dem Takt“. Das alles schafft Auftrittsmöglichkeiten für eingekaufte Ärzte wie Dr. Michael Spannagl, welche die Gelegenheiten nutzen, um für die Substanz die Werbetrommel zu rühren. Allein der Medizin-Professor von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität hat es bis August 2013 auf 19 Referate zum Thema gebracht und damit 16.200 Euro dazuverdient. Daneben fand er noch Zeit für eine XARELO-Laudatio in der Zeitschrift Der Allgemeinarzt, ohne dort seine Nebentätigkeit für BAYER anzugeben. Ein „klares Versäumnis“ sei das gewesen, gesteht Spannagl dem Spiegel später und räumt auch ein, die neuen Antikoagulanzien seien „im Marketing zu banal dargestellt“ worden. In den USA, wo der Staat Arznei-Werbung auch in Publikumszeitschriften erlaubt, drückte die Gesundheitsbehörde FDA das ein wenig anders aus. Sie warf BAYERs Kooperationspartner JOHNSON & JOHNSON vor, „das mit XARELTO verbundene Risiko verharmlost“ zu haben, als er die Herzinfarkt-vorbeugende Wirkung der Arznei angepries, obwohl die Packungsbeilage vor einem erhöhten Herzinfarkt-Risiko warnte, und verbot die Annoncen kurzerhand.
Da der Gerinnungshemmer in den klinischen Prüfungen gegenüber den bisherigen Standard-Therapien keine eindeutigen Vorteile erbrachte, sondern lediglich eine – noch dazu mit vielen Fragezeichen versehene – „Nicht-Unterlegenheit“ demonstrieren konnte, legte der Global Player in seiner Produkteinführungskampagne den Schwerpunkt auf etwas anderes. Er betonte den praktischen Aspekt von XARELTO. Die PatientInnen müssten laut BAYER nicht mehr mit einiger Mühe auf das Medikament eingestellt werden, wie das Marcumar verlangt. Auch entfielen regelmäßige Blutuntersuchungen, und schließlich reiche eine Tablette pro Tag. „Kann man die Schlaganfall-Prophylaxe deutlich vereinfachen? Xa!“, heißt es auf den entsprechenden Anzeigen in Fachblättern; „1 x 1 täglich“ prangt groß auf ihnen. Die möglichen Effizienz-Gewinne rechnete das Unternehmen dann haarklein auf Kongressen vor. So präsentierte er OrthopädInnen und UnfallchirugInnen die „Stoppuhr-Studie“ mit dem Befund, „dass für die Gabe einer Tablette durchschnittlich 46 Sekunden weniger aufgewendet werden müssen als für eine Injektion. Auf einer Station mit 40 Betten ergibt sich so eine tägliche Zeitersparnis von ca. 30 bis 40 Minuten“.
In einer Zeit, da das Gesundheitssystem unter einem enormen Rationalisierungsdruck steht, nimmt das viele Kliniken und niedergelassene ÄrztInnen für das neue Medikament ein, obwohl die „Anwendungsfreundlichkeit“ die Arzneimittel-Sicherheit zusätzlich unterhöhlt. So steigt durch den Wegfall von Kontrollen des Blutgerinnungsstatus die Wahrscheinlichkeit, Blutungsgefahren zu übersehen. Und die ach so praktische, nur einmal am Tag notwendige Einnahme der Pille stellt ebenfalls eine Gesundheitsgefährdung dar. Das Mittel bleibt bei jüngeren PatientInnen nämlich nur fünf bis neun Stunden und bei älteren PatientInnen 11 bis 13 Stunden im Körper, was das Risiko einer Unterversorgung heraufbeschwört. Die „Arzneimittel-Kommission der deutschen Ärzteschaft“ konstatiert deshalb: „Eine zweimal tägliche Gabe könnte mit einer verbesserten Wirksamkeit und Sicherheit einhergehen.“
Nicht einmal das Effizienz-Versprechen ist also so ganz ohne und trägt zur XARELTO-Schadensbilanz bei. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN hat ihren aktuellen Stand, wie sie durch die Zahlen des BfArM für das Jahr 2013 zum Ausdruck kommt, in einer Presseerklärung öffentlich gemacht und die staatlichen Stellen zu Reaktionen aufgefordert. „Die Behörden müssen dringend die Nebenwirkungsrate von neuen Gerinnungshemmern wie XARELTO oder PRADAXA mit den Risiken älterer Präparate vergleichen. Es ist zu befürchten, dass durch gigantisches Marketing Medikamente mit erhöhtem Risiko-Profil in den Markt gedrückt werden. Nach heutigem Kenntnisstand lässt sich eine flächendeckende Umstellung der Patientinnen und Patienten auf XARELTO nicht rechtfertigen“, resümiert die CBG.

[Editorial] STICHWORT BAYER 02/2014

CBG Redaktion

Liebe Leserinnen und Leser,

so hatte sich die EU-Kommission das nicht vorgestellt. Für Jobs und Wachstum sollte das Freihandelsabkommen zwischen der EU und des USA stehen, für den zukünftig größten Wirtschaftsmarkt der Welt. Doch seit die Verhandlungen vor einem halben Jahr begonnen haben, dominieren andere Schlagworte Berichterstattung und öffentliche Wahrnehmung: Geheimniskrämerei hinter verschlossenen Türen, Sondergerichtsbarkeit für Konzerne, die Staaten auf Unsummen wegen vermeintlich entgangener Profite verklagen können, Chlorhühnchen und Genfood auf dem Tisch der europäischen Verbraucher. Und auch die Mär vom Wachstum durch den Abbau von Handelsbarrieren ist entzaubert: Ein jährliches Wachstum von gerade 0,05 Prozent in der EU durch das Abkommen, unter günstigen Bedingungen – das besagt ausgerechnet eine von der EU-Kommission selber in Auftrag gegebene Studie des Münchner Ifo-Instituts.
Zwar rudert die EU-Kommission angesichts des gesellschaftlichen Drucks derzeit ein wenig zurück. Dass sie aber vom Verhandlungsziel der „Transatlantic Trade and Investment Partnership“, kurz TTIP (so der offizielle Titel des geplanten Abkommens) abrückt, nämlich Regulierungen, Standards und Gesetze in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft und des öffentlichen Sektors anzugleichen, ist nicht zu erwarten. Darum geht es im Kern: Um Regulierungen, Gesetze und Standards, auf die sich die EU und die USA bilateral einigen, nicht um Zölle oder Exportquoten, wie der offizielle Begriff „Freihandelsabkommen“ suggeriert. Vor allem geht es um die Frage, wer die Regeln diktiert, die Gesetze schreibt und die Standards festlegt. Denn was im TTIP festgelegt wird, hat es in sich. Sobald dieser Vertrag in Kraft tritt ist, steht er sowohl über dem EU-Recht als auch über dem Recht der Nationalstaaten. Damit ist TTIP für transnationale Konzerne von strategischer Bedeutung. Er ist das Mittel, endlich die Bestimmungen außer Kraft zu setzen, die ihnen im EU- oder US-Recht schon immer ein Dorn im Auge waren.
Tatsächlich hat die EU-Kommission die Wunschliste der Konzerne und ihrer Lobbygruppen im Vorfeld der Verhandlungen abgefragt; 119 gemeinsame Treffen hat es dafür gegeben, nur einige wenige mit Gewerkschaften und VerbraucherschützerInnen, so berichtet CORPORATE EUROPE OBSERVATORY. Nicht anders sieht es im laufenden Verfahren aus: mehr als 600 Berater aus der Industrie haben Zugang zu wichtigen Dokumenten, die zum Teil nicht einmal den Regierungen der EU-Länder vorliegen, schreibt die Süddeutsche Zeitung.
BAYER als einer der sechs weltweit führenden Gentechnikkonzerne sitzt über Lobbyvereinigungen diesseits und jenseits des Atlantiks mit am Tisch. Deren Positionspapiere wiederum lassen keinerlei Zweifel, wohin die Reise gehen soll – ins Rechtssystem der USA, also: keine Kennzeichnungsregeln für Genfood und kein Vorsorgeprinzip, stattdessen beschleunigte Zulassungsverfahren für Gentech-Pflanzen. Und als Krönung gegenseitige Anerkennung von im je anderen Wirtschaftsraum zugelassene Gentech-Produkte – was in den USA zugelassen ist, wo Behörden lediglich „deregulieren“, also eine Anmeldung entgegennehmen, soll ohne weitere Prüfung und Sicherheitsbewertung auf die EU-Märkte gelungen dürfen. „Harmonisierung“ lautet das Zauberwort. BAYER würde sofort profitieren: Alle Gentech-Pflanzen, die das Unternehmen in der EU vermarkten will, haben eine US-Zulassung.
Bis Ende 2015 sollte das Abkommen unter Dach und Fach sein, so der ursprüngliche Plan des EU-Handelskommissars de Gucht. Dass daraus nicht wird, dafür engagieren sich immer mehr Organisationen quer durch die EU und die USA.

Heike Moldenhauer ist Leiterin der Abteilung „Gentechnik-Politik“ beim BUND FÜR UMWELT- UND NATURSCHUTZ DEUTSCHLAND (BUND)