Berliner Zeitung, 06.12.2006
Service der Pillendreher
Jenapharm-Historiker düpiert die DDR-Dopingopfer
Grit Hartmann
LEIPZIG. In Thüringen erzielte Lutz Niethammer womöglich den beabsichtigten Erfolg. Lokalzeitungen übermittelten die Zwischenbilanz, die der Geschichtswissenschaftler nach 15 Monaten Arbeit zum Thema „Unterstützende Mittel – Doping im Sportsystem der DDR und die Rolle der pharmazeutischen Industrie“ zog, als Tatsache. „Es gab bis auf eine Ausnahme keine speziellen Entwicklungsarbeiten bei Jenapharm zu Doping“, behauptete der emeritierte Professor. „Niemandem“, auch nicht den Mitarbeitern des Pharmaherstellers, „musste bekannt sein, dass STS 646 als Pille im Sport verabreicht wurde – außer den Trainern und den Sportlern.“ Niethammers Projekt läuft noch bis Ende 2007, es befasst sich mit Jenapharm, Produzent des Anabolikums Oral-Turinabol und weiterer Steroidsubstanzen (STS), deren größerer Teil selbst minderjährigen Athleten ohne klinische Prüfung geschweige denn Aufklärung verabreicht wurde. Eine ziemlich barbarische Angelegenheit; die Folgen in Form von Gesundheitsschäden haben die einstigen Testpersonen heute zu tragen.
Deshalb klangen viele Sätze für Experten ungeheuerlich bei dem dreitägigen Workshop, zu dem Niethammer auch anerkannte Doping-Forscher nach Schloss Dornburg bei Jena geladen hatte. „Was ist denn das für eine pseudowissenschaftliche Konferenz?“, wunderte sich Werner Franke, der Heidelberger Molekularbiologe. Die Strategie: Die Niethammer-Truppe wollte offensichtlich einen Persilschein ausstellen. Demnach war die Firma Jenapharm nur ein pillendrehendes Serviceunternehmen und ihre Forscher Deppen, die vom illegalen Einsatz der männlichen Hormone im rechtsfreien Raum des ostdeutschen Spitzensports nichts mitbekommen mussten.
Schuld und Verantwortung
Es existieren genügend Belege für die bizarren Verdienste der Jenapharm-Wissenschaftler an der Hormonfront. Von Forschungsdirektor Professor Michael Oettel stammt etwa der Vorschlag zur Steroidapplikation per Nasenspray zwecks Leistungssteigerung. Auch die Danksagung ist überliefert: Probleme wegen der „schlechten Löslichkeit der Substanz“ konnten „durch engagierte Mitarbeit des Kooperationspartners VEB Jenapharm gelöst werden. Es wurde ein verträgliches Spray kurzfristig entwickelt“. Tiermediziner Oettel, bis 2003 in Diensten von Jenapharm, interessierte sich 1984 auch dafür, wie „den Virilisierungs-Erscheinungen bei Sportlerinnen unter Anabolikaabgabe entgegenzuwirken“ sei. Rainer Hartwich, Abteilungsleiter für Klinische Forschung, warnte 1987: Jeder Jenapharm-Mitarbeiter, der an der Herstellung der illegalen Substanzen beteiligt sei, könne „auf den Einsatz beim Sonderbedarfsträger“ schließen – also im Sport.
Niethammers Behauptungen wären also keine Zeile wert, böte das Jenaer Projekt nicht ein Lehrstück über das heikle Verhältnis von Auftragsforschung und historischer Wahrheit. Denn Finanzier ist die mittlerweile zum Bayer-Konzern gehörende Jenapharm GmbH. Niethammer war Berater der Regierung Schröder im Streit um die Entschädigung von Zwangsarbeitern, sollte sich also auskennen in Fragen von Schuld und Verantwortung. Der westdeutsche Historiker durfte schon 1986/87 als Gastforscher Oral-History-Befragungen in ostdeutschen Industriestädten durchführen, bevor er 1993 den Lehrstuhl für Zeitgeschichte in Jena besetzte. Nun geht es wieder um Verantwortung und Schuld – vor dem Hintergrund eines Rechtsstreits zwischen Jenapharm und Dopingopfern.
Nur diese Gemengelage konnte erklären, wie Belege für Jenapharms Verstrickung als „scheinkonkret“ abgetan und statt dessen „eine Diffusion der Verantwortung“ ausgemacht wurde. Niethammer meinte, es lasse sich „nicht so genau prüfen, wo außerhalb der Politik noch Verantwortung von Einzelnen“ für Doping-Staatsplan 14.25 liege. Er ignorierte so Gerichtsurteile gegen Ärzte und Trainer und stellte das Zwangsdoping in Frage. Verantwortung, tat er noch kund, trügen „zu einem erheblichen Teil auch die Sportler“.
Derlei sagt viel darüber, wie marode sich interessengelenkte Geschichtsschreibung im Jahr 16 der Einheit präsentieren kann. Die Opfer anzuerkennen, ist noch längst keine Selbstverständlichkeit. Denn wo sie fehlen, existieren keine Täter. Es gibt keine klare Verantwortung – und kaum Zweifel am einst allzu milden Blick bundesdeutscher Ost-Forscher. Auf dieser Linie lagen auch Workshop-Referate, die nach der „kulturhistorischen Wahrnehmung“ des Dopings fragten, aber nur den ideologisch begründeten Zugriff der Diktatur aufs Athletenmaterial verstellten. „Sagen Sie das mal den Frauen mit den tiefen Stimmen“, kommentierte Buchautorin Brigitte Berendonk die Reflektionen über eine angebliche sozialistische Utopie von der Schönheit des Körpers.
Erst vor wenigen Tagen beauftragte Jenapharm die Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer mit der Abwehr von Entschädigungsforderungen von Dopingopfern. Geschäftsführerin Isabel Rothe sagte dieser Zeitung, die Kanzlei verfüge „über die notwendige Expertise und entsprechende Kapazitäten“ gegen eine Vielzahl von Einzelklagen. Den absehbaren finanziellen Aufwand nannte ein Workshopteilnehmer in Jena „obszön“. Das kann so stehen bleiben. Auch für die Alibiveranstaltung auf Schloss Dornburg.
04. Dezember 2006 FAZ
Bleiben Opfern nur tausend Euro?
Wie weit entfernt voneinander der Alltag der Geschädigten des DDR-Dopings und der Wissenschaftler ist, die sich hauptberuflich mit just diesen Manipulationen beschäftigen, ist am Wochenende deutlich geworden. Da nämlich schlug die an Leib und Seele versehrte ehemalige Volleyballspielerin Katarina Bullin in Berlin Alarm. Die 9.250 Euro, die der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) ihr und etwa 180 weiteren Dopingopfern zahlen wolle, würden mit ihrer Sozialhilfe verrechnet werden, sagte sie. Deshalb werde sie lediglich knapp tausend Euro davon erhalten.
Michael Vesper, Generaldirektor des DOSB, kennt das Problem. Schließlich lebt aufgrund chronischer Schmerzen und Schädigungen und daraus resultierender Arbeitsunfähigkeit mindestens jedes dritte Opfer des Dopings von Sozialhilfe. Für die Vereinbarung, sagte Vesper der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, habe man deshalb eine Formulierung gefunden, die den humanitären Charakter der Zahlung deutlich mache. Er erwarte, daß dies anerkannt werde, denn es wäre absurd, subventionierte der Sport die Bundesagentur für Arbeit, anstatt den Betroffenen zu helfen. Die Vereinbarung soll noch in dieser Woche öffentlich vorgestellt werden.
Flächendeckende Prozesse
Dem früher Volkseigenen Betrieb Jenapharm, der in der DDR eine Vielzahl hormoneller Dopingsubstanzen herstellte und der deshalb von Dopingopfern auf Schadensersatz verklagt wird, ist unterdessen die Zuständigkeit für dieses Thema entzogen worden. Im Auftrag der Bayer Leverkusen AG, die Schering und damit dessen Nachwende-Erwerbung Jenapharm übernommen hat, meldete sich in der vergangenen Woche die Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer bei Rechtsanwalt Manfred Lehner, der einen Teil der Dopinggeschädigten vertritt, und kündigte an, im Falle einer Klage jeden der 180 angezeigten Dopingfälle dort verhandeln zu wollen, wo tatsächlich gedopt wurde. Nun werde flächendeckend prozessiert werden, folgerte daraus kämpferisch der Experte Werner Franke, „von Chemnitz bis Rostock“.
Franke „auf Feindesland“
Der Mikrobiologe und Krebsforscher Franke, der das systematische Doping der DDR aufdeckte, war am Wochenende mittelbar Gast von Jenapharm, als er auf Schloß Dornburg bei Jena eine Tagung des Historikers Lutz Niethammer besuchte. Dieser präsentierte im Rahmen der Thematik „Doping in Ost und West von 1960 bis 1990“ den Zwischenstand seines Forschungsprojektes zum Thema Doping und Jenapharm, welches das Unternehmen mit 300.000 Euro finanziert.
„Ich bin hier auf Feindesland!“ rief Franke schon am ersten Tag empört, als seine Redezeit abgelaufen, sein Vortrag aber noch nicht zu Ende war. Am Ende nannte er die Veranstaltung „ein Gefälligkeitsgutachten“. „Es ist eine Verhöhnung der Teilnehmer, wenn man ihnen sagt: Wir wissen schon alles“, sagte er. Der Chirurg Klaus Zöllig, Vorsitzender des Dopingopfer-Hilfevereins, konstatierte: „Man kommt sich vor wie am Institut für korrigierende und korrumpierende Geschichtsforschung. Hier ist niemals die Rede von den Opfern gewesen. Diese Veranstaltung war der Versuch, Jenapharm reinzuwaschen.“
Vergleich mit der Viehzucht
In der Tat erschien es vor allem den Medizinern und Naturwissenschaftlern, die die gravierenden Folgen von Doping kennen und mit großem Engagement zu lindern versuchen, befremdlich, Praktiken kulturhistorisch zu überhöhen, zu denen das Zwangsdoping von Kindern gehörte. Zumal wenn es, wie in Schloß Dornburg geschehen, in einem Exkurs über die Industrialisierung von Natur und Körper beiläufig der hormonellen Brunstsynchronisation in der Viehzucht der DDR gegenübergestellt wird.
Dies verärgerte Zöllig und Franke um so mehr, als Niethammer den geschädigten Sportlern als den Objekten der Manipulation das Recht verweigerte, sich zu äußern. Der renommierte Vertreter der „oral history“ mußte sogar einräumen, daß für die Befragung des wichtigsten Zeugen für die Rolle von Jenapharm beim Doping, des einstigen Leiters der klinischen Forschung im Unternehmen, Rainer Hartwich, in fünfzehn Monaten Projektdauer noch keine Zeit gewesen war. Hartwich, in einer Privatklinik in Thüringen, also in der Nachbarschaft beschäftigt, hat schon vor Jahren öffentlich seine persönliche und die Verantwortung von Jenapharm eingeräumt.
Ist niemand verantwortlich?
Das paßt ganz offensichtlich nicht zur Forschung Niethammers. Die „Diffusion der Verantwortlichkeiten in autoritären Kollektiven“ steht im Mittelpunkt der Arbeit seines wissenschaftlichen Mitarbeiters Klaus Latzel. Niemand sei verantwortlich, kommt bei so etwas heraus, jedenfalls niemand bei Jenapharm. Der VEB habe niemals Dopingforschung betrieben, behauptete Latzel zudem, und nur auf Anweisung gehandelt.
Statt Betroffene und Beteiligte baten die Historiker im Auftrag von Jenapharm zum Beispiel Referenten zum Vortrag, die behaupteten, Vierzehnjährige hätten die Chance gehabt, aus eigenem Antrieb aus Dopingsystem auszusteigen. Einer beendete seinen Beitrag mit der realitätsfernen Parole: „Ehrliche Kameradschaft statt Anabolika!“
Text: F.A.Z.